„Heimat – eine Erfindung“ – Psychisch krank – ausgegrenzt und heimatlos

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„Heimat – eine Erfindung“

Vortragszyklus Samstag, 12. Januar 2013, 18.15 Uhr, Clinia Privatklinik Littenheid

 

Stichworte zum Thema

„Psychisch krank – ausgegrenzt und heimatlos?“

 

  1. Zwei-drei knappe Fallbeispiele zur Begriffsklärung von „Heimat“ – Heim – daheim – „heimatlos“ – Heimweh – heimlich – „unheimlich“ (Freud 1919).

 

  1. Psychisch „krank“ resp. psychisches Leiden, „ausgegrenzt“, „heimatlos“: Wie können Genesungsprozesse zustande kommen, die ermöglichen, die durch Herkunft und weitere Einflüsse geschaffenen Ängste resp. „Eingrenzungen“ zu öffnen, die nicht gewählte „Heimat“ mit ihren nicht erfüllbaren Bedingungen „los“ zu werden,  „frei von Heimat und gewohnten Worten“ (Rose Ausländer) zu sich selber zu finden mit der Zustimmung zum bedingungslosen und unbedingten Wert und Recht zu leben?

 

Heimat – eine Erfindung

Psychisch krank – ausgegrenzt und heimatlos

 

Spricht von „Heimat“ nur, wer „Heimweh“ kennt? Was bedeutet „Heimweh“? Die Sehnsucht nach einem „da-heim“, das es nicht gab, weil ständige Wechsel von Orten und Bezugspersonen die Kindheit prägten? Oder das es gab, vielleicht Eltern, ein Haus mit Kellern und geschlossenen Türen, das ein „Zuhause“ war, aber voller Bedingungen, die nicht erfüllt werden konnten und voller Tabus, die nicht berührt werden durften? – vielleicht ein „daheim“, das eine Verstrickung von Ungewissheiten bedeutete, von zu viel oder von zu wenig „Liebe“, die das Kind brauchte, um mit sich und seinem Leben eine Gewissheit zu finden? –Ungewissheiten, die mit dem Grösserwerden zu Flucht- oder Ersatzversuchen führten, d.h. zur eigenen Suche nach „Liebe“, die unerfüllbar war, die mit Gefühlen des Versagens und des Unwerts, der Scham und Schuld einherging, einer wachsenden Feindseligkeit sich selber und dem Leben gegenüber, die ausweglos erschien? „Liebe ist Heimweh“ hatte Freud ein „Scherzwort“, wie er festhielt,  zitiert. Somit ist nicht erfüllte Liebe „Heimatlosigkeit“, ein Gefühl der Verlorenheit, der Wertlosigkeit, des steten Hungers, ein knappes Überleben, das narzisstische Störungen, manisch-depressive Belastungen, eine stete Unruhe, Unsicherheit und Lebensangst bewirken kann.

Beruht jedes psychische Leiden letztlich auf „Heimatlosigkeit“, auf dem Mangel an Liebe oder auf dem zu viel an Liebe, d.h. auf falscher „Liebe“, die das Verhältnis des Menschen zu sich selber leidvoll werden lässt?

Ich möchte zwei kurze Fallbeispiele schildern, um die Fragen zu beantworten:

  1. Was bedeutet „Heimat“ für einen 55jährigen Patienten, der notfallmässig wegen Suizidgefahr an mich überwiesen wurde? –  ein Mathematiker mit mehrfachem Universitätsabschluss, ohne Beziehung zu einer Frau oder einem Mann, nach dem Tod des Vaters zurückgekehrt ins Elternhaus für die Pflege der Mutter, die früh dement wurde, die ihn mit dem Vater verwechselte, ein Mann ohne Alter, zugleich kindlich aggressiv und greisenhaft kraftlos. Warum in Suizidgefahr? Weil er sich wie ein Gefangener im verpanzerten Ichzelt seiner Mutter fühlte, in dem er nicht mehr atmen konnte und das er nicht zu verlassen wagte, lebensfremd, sich selber fremd, umringt vom hasserfüllten Erbe seines Vaters, vom neiderfüllten Hass seiner drei jüngeren Geschwister, aussichtslos „heimatlos“ in seinem Körper, seinem eigenen Ich-Haus, in dem er nicht zu sich selber finden konnte. Somit besser sich selber den Tod geben als den Weg ins Leere gehen, antwortete er im engen Entweder-Oder seiner eingepanzerten Ich-Verlorenheit, in seiner schweren Depression.

Es brauchte das Erkennen seiner Angst, seiner Verletzungen und verborgenen Wünsche, das Einsehen, dass er fähig war, sich selber zu geben, was er von seinen Geschwistern erwartete und nicht bekam, ein langsames Erproben einer Öffnung des Lebensgefühls durch das Verstehen, allmählich des Vergebens, dadurch die Bestätigung seines kreativen, nicht destruktiven Mutes. Es brauchte den leise aufkeimenden Stolz, dass ihm das während Jahren Unvorstellbare gelingen konnte: seine Mutter der Pflege Anderer zu überlassen, den Geschwistern Geburtstagswünsche zu schreiben, eine Reise in den Libanon zu wagen, sich in eine Frau verlieben zu können, die dort lebt, mit dieser in Kontakt zu bleiben und sie wieder zu besuchen. Allmählich findet er Zustimmung zu seinem Namen, zu seinem Körper, zum heimatlosen Ich in ihm, dem er mehr und mehr Halt gibt, er findet Heimat in sich selber.

2. Was bedeutet Heimat für eine 1981 im südwestlichen, kurdischen Iran geborene junge Frau, die als jüngste von drei Kindern mitten in den Irak-Iran-Krieg hineingeboren wurde, als Dreijährige mit der Familie in den Norden des Landes flüchtete, eine Ausbildung als Hebamme abschliessen konnte und erlebte, dass ihre ältere Schwester, nachdem sich deren Ehemann in den Untergrund und ins ausland abgesetzt hatte, von der Polizei verhaftet  und von ihrem Vater freigekauft wurde, darauf bei Nacht und Nebel mit dem kleinen Sohn das Land verliess und in die Schweiz flüchtete, dass wenig später der Bruder ihr folgte. Sie selber blieb zurück in einem ideologisch und politisch sich verhärtenden „Zuhause“, fühlte sich von ihren Geschwistern verlassen, sehnte sich nach deren Nähe und zugleich nach der „Freiheit“, die sie bei diesen vermutete. Irgendwann beschloss auch sie, ihr Land zu verlassen und auf einem komplizierten Fluchtweg, unterwegs während Monaten, in die Schweiz zu gelangen und um Asyl zu bitten. Sie gab an, zu einer politisch oppositionellen Studentenbewegung gehört zu haben, selber Drohbriefe erhalten zu haben und daher geflohen zu sein. Sie erhielt einen Negativentscheid, nahm eine Überdosis an Schlafmitteln zu sich, wurde in eine psychiatrische Klinik überwiesen und versuchte, mit einem Anwalt ein Rekursverfahren in die Wege zu leiten. Sie bat mich um ein Gutachten, und ab dann suchte sie mich immer wieder auf, wenn sie in Verzweiflung geriet. Sie lernte schnell Deutsch, war bestrebt, als Hebamme zu arbeiten, was ihr nicht erlaubt wurde, sie bemühte sich um eine zussssätzliche Berufsausbildung nach Schweizer Kriterien, wurde wegen schweren Unterleibsschmerzen operiert und erhielt nochmals einen Negativentscheid. Die Hoffnung, in der Schweiz bleiben zu dürfen und endlich – wie ihre Geschwister – eine offene Zukunft vor sich zu sehen, brach zusammen. Das war kurz vor dem fünften Jahr ihres Aufenthalts in der Schweiz. Das Gefühl völliger Verlorenheit und Heimatlosigkeit übermannte sie. Nach Iran zurückkehren zu  m ü s s e n  bedeutete Verhängnis, Zukunftslosigkeit. Wohin weiter fliehen? Wie war ihr therapeutisch zu helfen?

„Heimat“ verband sich für diese junge Frau mit Sehnsucht – einerseits mit der Nähe zu Schwester und Bruder im neu geschaffenen Umfeld von Beziehungen, andererseits mit Freiheit, mit der Vorstellung realisierbarer Pläne, mit einer Zukunft angstfreier Sicherheit, die ihrem eigenen Ich eine Verankerung ermöglichen würde. Die Sehnsucht blieb in latenter Erwartung auf Erfüllung und brach zusammen in ein Gefühl der Heimatlosigkeit.

Heimatlosigkeit beruhte bei ihr auf der Erfahrung, als Objekt von Beamtenmacht und – willkür keine eigene Wahlmöglichkeit zu haben, letztlich keinen Wert als Subjekt. Zutiefst in ihr war es die Angst, irgendwelcher Form von Gewalt, letztlich dem Tod ausgeliefert zu sein, hilflos und wehrlos. Auch die Jahre in der Schweiz waren durch die emotionale Abhängigkeit von den zwei älteren Geschwistern eine Fortsetzung der engen Clan-Verhältnisse der Herkunft geworden, die ihr nicht ermöglicht hatten, andere Beziehungen zu knüpfen und aufzubauen. Die ersehnte „Heimat“ Schweiz war so unheimlich und bedrohlich geworden wie die zurückgelassene ursprüngliche „Heimat“ Iran.

3. Als Freud 1919 seinen Aufsatz über „Das Unheimliche“ schrieb – in der französischen Übersetzung „L’inquiétante étrangeté“ – „Die beunruhigende Fremdheit“ – wollte er eigentlich bloss das Phänomen der Angst näher untersuchen und die Kraft des Unbewussten begründen. Die Wortuntersuchung von „heimlich“ – im Schweizerdeutschen „heimelig“, dem deutschen „heimatlich“ nah verwandt – erwies sich als Quelle des Widersprüchlichen: da findet sich zugleich die Bedeutung von „vertraut“ wie von „verborgen“, „geheim“, „verschwiegen“, letztlich von „unheimlich“.

Was ist diese beunruhigende Fremdheit? Ist es das Verborgene und Unheimliche der Herkunftsgeschichte, der Elterngeschichte, das Verbotene und Tabuisierte von Geschlecht und Beziehung zwischen den Geschlechtern? Oder ist es das Unheimliche des eigenen Verdrängten, des eigenen Unbewussten, der Fremdheit des eigenen Ich, damit der Verlorenheit im eigenen Ich-Sein und im Ich-Körperraum mit seinen rätselhaften Gesetzen, wie die Fallgeschichten deutlich werden lassen? Es mag das eine wie das andere sein, immer ein Sich–fremd-Fühlen, ein Gefühl der Verlorenheit, letztlich Angst vor dem Tod.

Leben bewegt sich in Raum und Zeit, Mutterraum, Getrenntwerden von diesem, Verlorenheit und Suche nach einem anderen Raum der Zugehörigkeit, des Getragenwerdens und der Wärme. Erst wenn es gelingen kann, die Belastungen und Leiden des vergangenen Entscheidens und Handelns als ein grosses Lernen zu akzeptieren und dem eigenen Ich eine Zustimmung zu geben, erst dann können die Ängste und Fluchtbedürfnisse, die unerfüllbaren Erwartungen von „Liebe“, von Bestätigung der Zugehörigkeit und des eigenen Wertes gelöst werden. Dann kann es gelingen, dass die zeitlich-räumlichen Bedingungen von Körper und Seele (gr. „psyche“), das Werden – auch das Erwachsenwerden und Altwerden – im sich verändernden und allmählich zerfallenden „Hauthaus“ in Übereinstimmung leben können mit dem fühlenden und denkenden, verstehenden, entscheidenden und handelnden Ich: dass dieses zur „Heimat“ wird.

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