Aus dem Dunkel der Sprachlosigkeit aufgetaucht – Rezension von “Am Ende. Am Anfang” von Ulrich Kägi

Aus dem Dunkel der Sprachlosigkeit aufgetaucht – Rezension von “Am Ende. Am Anfang” von Ulrich Kägi

Gespräche mit Hiob – Ein Schriftsteller kämpft um die verlorene Sprache

In den Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahr 1911 hält Franz Kafka  fest: “Ich  ziehe, wenn ich nach langer  Zeit zu schreiben anfange, die Worte wie aus der  leeren Luft. Ist eines gewonnen, dann ist eben nur  dieses eine da und alle Arbeit fängt von vorne an”.

“Alle Arbeit  fängt von vorne an”… die Arbeit mit den Worten, mit dem Ausdruck, mit der Sprache,   mehr noch: die Arbeit mit der eigenen Existenzberechtigung, mit dem eigenen  Platz  in  der  Welt. Einer, der darum weiss, ist Ulrich Kägi, “Weltwoche-Redaktor und Schriftsteller. Vor vier  Jahren verlor er durch einen Hirnschlag innerhalb weniger Sekunden die Fähigkeit zu sprechen und Gesprochenes    oder  Geschriebenes zu verstehen. Und mit der gleichen Plötzlichkeit, mit der er die Worte verlor, wurde er zum Ausgestossenen, inmitten einer ihm vertrauten Arbeitswelt und eines über Jahrzehnte gewachsenen Freundeskreises. Er hatte buchstäblich nichts mehr zu sagen, und so wurde er auch  nicht mehr angesprochen, nicht mehr gefragt, kaum mehr gegrüsst, nicht mehr ernstgenommen, ja kaum mehr beachtet – eine Erfahrung grenzenloser Demütigung  und “besinnungsloser Einsamkeit”, wie ebenfalls Kafka in einem anderen  Tagebucheintrag schrieb.

Auch Ueli Kägi begann, ein Tagebuch zu führen, nachdem er mit dem Willen des Verzweifelten –  und mit  der  Hilfe einer erfahrenen Logopädin – Laut  für  Laut, Zeichen  für  Zeichen und allmählich auch den Sinn zwischen den Lauten und Zeichen zurückeroberte. Zwar hatte er die Sprache verloren, aber   keinen Funken seiner Denkfähigkeit, keinen Bruchteil seiner Sensibilität und seines Willens. Gesprächspartner seiner stummen Auseinandersetzungen  und Adressat seiner knappen und langsamwachsenden Mitteilungen  wurde Hiob. “Ja, das Gespräch  ist für mich ein Höhepunkt. Und dann  kommt  es  mir  wieder  vor  wie  ein Loch  oder  wie  tiefe  Wellen.  Kann  ich  doch nicht  mehr schreiben?  Nur Du, Hiob, kannst schreien:  “Geschwärzt  geh’  ich  einher, nicht von der Sonne,  ich stand auf in der  Gemeinde und  schrie. Ein Bruder der Schakale bin ich geworden und ein Genoss der Strausse” … Ulrich Kägi  war stumm geworden, und plötzlich wusste er, dass allein das Gespräch den Menschen einrückt in die Gemeinschaft der übrigen Menschen. Als er einmal an einem Sonntag  im Februar,  zweieinhalb  Jahre nach dem Hirnschlag, auf  den Uetliberg wanderte, da wurde ihm in ganzer  Klarheit seine Vereinzeltheit  bewusst. In seinem  Tagesheft notierte  er:  “Ich hörte  Glocken der Stadt, der Wind blies sehr stark, die Bäume und Aeste schwankten, einige  Schneeflocken wirbelten, manchmal  war  der  Himmel plötzlich blau, nach  Sekunden  war  die  Sonne  sogar  warm, dann   fuhren  die  Wolken von  Westen  nach Osten”. Er  zählte für  ich die Menschen auf, die mit ihm den Kontakt gewahrt hatten: “Kontakt”  im  Sinn  des  Wortes, “Mit- Berührung”: die  Logopädin,  wenige Freunde und Freundinnen. “Und die anderen  – wer sind sie? hatten und haben keinen Kontakt  mit mir. Bin ich schon zweieinhalb Jahre ein Tor (‘en Tubel’) und  jetzt  für  immer? … Und  dann, Hiob? Weinen, brüllen,  stark  sein.  Am  Boden liegen”. Und er fügte bei: “Sind wir krank oder gesund? Und für wie lange?”

Die Antwort bleibt offen.  Zu Hiob, der in der Frömmigkeit  Hilfe fand, bemerkt Ueli Kägi: “Ich  bin nicht  fromm, aber  doch:  Ich bin in meiner schweren Krankheit dankbar, Hiob. Nichts  anderes,  nicht fluchen,  sondern freundlich sein, oder sterben, wenn nötig. Nichts anderes”.

Nichts   anderes? Ueli Kägi war seit seiner Jugend ein denkender  Zeitgenosse.  Mit luzider Aufmerksamkeit blieb er auch nach dem Hirnschlag dem Leben einzelner Menschen  in seiner  Nähe verbunden und verfolgte er  den Wandel der politischen Verhältnisse in Ostdeutschland, er, der in seiner Jugend überzeugter Kommunist war und der 1956, nach dem russischen Einmarsch in Ungarn, ein kompromissloser Verfechter demokratischer Rechtstaatlichkeit wurde. In seiner sparsamen wiedergewonnenen  Sprache schreibt er den ehemaligen  Genossen Erich Honecker und Michail  Gorbatschow, er  notiert seine Gedanken zu Lenins Schuld und zu Andrej Sacharows Grösse und beginnt wieder,  seine Texte zu publizieren.  Allmählich taucht er  aus dem Dunkel der Sprachlosigkeit auf – nun mit diesem kleinen Buch, das den  Titel  seiner Erfahrung  trägt: “Am  Ende. Am Anfang”.

Artikel publiziert im Tages-Anzeiger am 7. November 1990

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