Quellen gegen den Strich lesen

Quellen gegen den Strich lesen – “Chratz & Quer”

 

Achtzehn Autorinnen – Historikerinnen, Literatur- und Sozialwissenschafterinnen – haben sich zusammengetan, um Quellen und Geschichtsbücher gegen den Strich zu lesen, um Anekdoten und Daten zu recherchieren, um mit Zeitzeuginnen Gespräche zu führen, schliesslich um – zusammen mit den Herausgeberinnen des Vereins Stadtrundgang Zürich – ein Buch zustandezubringen, das ein Leckerbissen und zugleich eine wichtige Gedächtnishilfe ist: “Chratz & Quer” [1].

Der Titel  weist schon einen Teil des Auftrags aus, den sich die Autorinnen stellten: “Chratz” hiess einerseits das Zürcher Quartier zwischen Münsterhof und Bürkliplatz, andererseits ist “chratz” die Schweizerdeutsche Imperativform von “kratzen”. Deutlicher und knapper liesse sich die Schwierigkeit, die Frauengeschichte begleitet, nicht ausdrücken: Um zu ihr vorzudringen, muss an der männerbesetzten Oberfläche der offiziellen Geschichte gekratzt werden, auch an der Stadtgeschichte. Allerdings bleiben die Autorinnen beim “Chratz”-Quartier, beim traditionsreichen Markt, bei den von Frauen geführten Hotels, Gaststuben und Geschäften nicht stehen, sondern führen “Quer” in sieben – manchmal etwas langen – Rundgängen durch die Stadt, immer auf Frauenspuren. So wird Zürich als Ort des Exils von der Stadelhoferstrasse über den Pfauen und die Kirchgasse bis nach Aussersihl begangen, und dabei wird der Verfolgten gedacht, die Schutz brauchten, wie der Frauen, die Hilfe und Obdach boten. Zu jedem Namen gehen erklärende Hinweise mit einher, manchmal auch kürzere oder längere Biographien. Kein Leben, keine Geschichte ist banal. So ist es auch beim Kapitel, das den Arbeiterinnen von Aussersihl gewidmet ist, die sich vor allem vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg gegen die Hungerexistenz politisch organisierten, zu der sie das Bürgertum durch Spekulation, durch Ausbeutung auf dem Arbeitsmarkt und durch Lebensmittelverknappung zwang, die sich aber auch für innovative Veränderungen in der Lebensgestaltung, so etwa für das genossenschaftliche Einküchenhaus einsetzten, daneben für die Einführung des Frauenstimmrechts und für die Verbesserung der Arbeits-, Lohn- und Versicherungsbedingungen kämpften. Rosa Bloch und Rosa Grimm sind zwei bedeutende Zeuginnen unter ihnen, deren im Buch gedacht wird.

Nach den Arbeiterinnen wird den Architektinnen und Künstlerinnen ein Stadtrundgang gewidmet, anschliessend den grossen Toten , die auf den Zürcher Friedhöfen ruhen. Unter dem Titel “Berufsstand weiblich” werden sodann die Spuren der Prostituierten, Kellnerinnen und “Zigareusen”, aber auch der ersten Krankenschwestern, der Aktivistinnen des “Gemeinnützigen Frauenvereins” und weiterer Frauen im Dienst anderer Frauen (aber auch Männer) in Erinnerung gerufen, schliesslich, in einem letzten Kapitel, “Freundinnen” an den Orten ihres Wirkens (oder Leidens) wieder entdeckt, vom Hauptbahnhof, wo Caroline Farner und Anna Pfrunder verhaftet wurden, über den Kreis 1 ins vordere Seefeld, wo zum Beispiel Mentona Moser gewohnt hatte, bis schliesslich in den Kreis 7, ins Umfeld der Universität.

Lesend wurde mir einmal mehr bewusst, dass Erinnerung der Verdinglichung und der Verortung bedarf, damit sie nicht dem Vergessen anheimfällt oder zur Mär wird. Für beides leistet das vorliegende Buch hervorragende Dienste.


Fragen nach der weiblichen Fremdheit in der Ökonomie

Auch bei diesem Buch handelt es sich um das kollektive Produkt von sieben Autorinnen, die, von verschiedenen Disziplinen herkommend – Theologie, Philosophie, Wirtschaftswissenschaft, Germanistik – sich Fragen stellen nach dem Platz der Frauen im ökonomischen Diskurs sowie in der wirtschaftsbestimmten Wirklichkeit[2]. Die Autorinnen hatten sich schon vor Jahren zu einer gemeinsamen Forschungs- und Arbeitsgruppe zusammengeschlossen, die 1992 zu einem ersten gemeinsamen Buch geführt hat[3]. Auf der Grundlage der damaligen Erkenntnisse haben sie nun weitergearbeitet. Sie stellen dabei fest, dass sie mit der neuen Fragstellung in einen männerdefinierten und männerdominierten Bereich vordringen, für welchen sie erst bei sich selber das notwendige Interesse wecken müssen. “So stellen wir am Anfang unserer Projektarbeit fest, dass die ökonomische Begrifflichkeit und Diskussion bei uns Desinteresse, Langeweile und das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, auslösten. Uns mit Ökonomie zu befassen, empfanden wir einerseits als Zwang, damit wir in Männerdiskussionen mithalten können, andererseits aber auch als politische Notwendigkeit, um ein besseres Leben für Frauen zu erreichen”, halten die Autorinnen in der Einleitung fest.

Was wie ein Zwiespalt zwischen einem heteronom geleiteten Interesse und einer selbst definierten ethischen Zielsetzung erscheint, erweist sich schnell als starker Impuls, um sowohl die androzentrisch bestimmten sprachlichen wie die lebenspraktischen Zusammenhänge auszuleuchten, aus denen die ökonomischen Leistungen der Frauen systematisch ausgeblendet sind. Im breiten Spektrum, das sich dabei öffnet, werden beispielweise durch Lisa Schmuckli die geschlechterspezifischen unterschiedlichen Zeitwertungen unter die Lupe genommen, durch Andrea Günther die Diskrepanzen bei der Zuteilung öffentlicher Gelder an Projekte, deren Dringlichkeit durch Frauen formuliert und unterstützt werden. Beachtenswert ist in allen Beiträgen die Reflexion über den Weltbezug, d.h. über eine grösstmögliche Vielfalt von erfahrbaren und verstehbaren Wirklichkeiten, die, im Rekurs auf Hannah Arendt, als Entscheidungskriterium  prioritär gewertet wird.

Einen besonderen Hinweis verdient die im Anhang publizierte breite Bibliographie zur feministischen Ethik

 

Die Geschlechterpolitik und Frauenrealität in Europa untersuchen

Die Bremer Wirtschaftswissenschafterin Susanne Schunter-Kleemann, die schon mit ihren 1992 publizierten Untersuchungen[4] Aufsehen und Anstoss erregt hat, leistet mit ihrem  Aufsatz “Mit dem Europäischen Gerichtshof gegen Frauendiskriminierung” einen wichtigen feministischen Beitrag zur Europanummer des “Widerspruchs”[5]. Die Autorin hält fest, dass, entgegen der von verschiedenen Seiten gerühmten Vorreiterrolle des von den europäischen Behörden entwickelten Gleichbehandlungsrechts nicht von einer “systematischen, kohärenten und kontinuierlichen Aktivität der europäischen Gemeinschaftsorgane zugunsten von Frauen” gesprochen werden könne, dass die “bisherigen Instrumente des Gemeinschaftsrechts zur Gleichbehandlung der Geschlechter  nur Stückwerk und völlig unzureichend” seien angesichts des Fortbestehens “vielfältiger Diskriminierungen in Beruf, Familie und öffentlichem Leben, auch angesichts der Gefahren, die sich durch die angezielte Wirtschafts- und Währungsunion für Frauen stellen”.

Susanne Schunter-Kleemann untersucht insbesondere die Gleichbehandlungs-Interpretation des europäischen Gerichtshofes. Von den zwei zungrundegelegten Untersuchungsprinzipien beurteilt sie das Differenzierungsverbot als ungenügend, um strukturelle, zumeist verdeckte Diskriminierungen zu untersuchen, da es strikt geschlechtersymmetrisch angewendet wird. Dem Dominierungsverbot dagegen misst sie grössere Wirksamkeit zu, da dieses die Auswirkungen von Geschlechterdominanz auf die benachteiligte Gruppe ins Auge fasst  und so die strukturellen Benachteiligungen zu korrigieren versucht. Allerdings geht es dabei vor allem um Arbeitsmarktverhältnisse, wähend eine der zentralen Menschenrechtsfragen – die Gewalt gegen Frauen, wie sie sich durch sexuellen Missbrauch, Frauenhandel, Beschneidung, erzwungenen Mutterschaft durch Kriminalisierung der Abtreibung in allen Ländern Europas etabliert hat -, kaum angegangen wird. Die Autorin formuliert abschliessend verschiedene Vorschläge zur effektiven Verbesserung der Diskriminierunssituation in allen Bereichen, auch in jenen einer europäischen Judikatur. Eine nützliche Literaturliste ergänzt die Analyse.

Die übrigen Beiträge im “Widerspruch 29” öfffnen einen breiten Fächer auf die zahlreichen kontroversen Bereiche der europapolitischen Zusammenhänge. Die asyl- und ausländerpolitischen, militärischen, währungs-  und sozialpolitischen sind ebenso kompetent ausgeleuchtet wie die die Fragen, die sich einerseits um ein europäisches Staatsbürgertum oder einen europäischen Verfassungspatriotismus drehen, andererseits um die Schweiz und ihren – möglichen – Beitritt zur Europäischen Union.

 

 

[1] Chratz & Quer. Sieben Frauenstadtrundgänge in Zürich. Vorwort von Ursua Koch, Hrs. Verein Frauenstadtrundgang Zürich. Limmat Verlag Zürich 1995. Fr. 38.-

[2] Weiberwirtschaft. Frauen – Ökonomie – Ethik. Mit Beiträgen von Heidi Bernhard Filli, Andrea Günther, Maren Jochimsen, Urike Knobloch, Ina Praetorius, Lisa Schmuckli, Ursula Vock. Edition Exodus. Luzern 1994

[3] Vom Tun und vom Lassen. Anfragen 2. Diskussion. Morgana Verlag, Münster 1992, Fr. 19.80

[4] Susanne Schunter-Kleemann (Hg). Herrenhaus Europa — Geschlechterverhältnisse im Wohlfahrtsstaat. Edition Sigma , Berlin 1992. Fr. 37.-

[5] Widerspruch 29. EU, Schweiz und Europapolitik. 15. Jg./Heft 29, Zürich, Juli 1995, Fr. 18.-

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