Anders wie die anderen, ausgesetzt, schutzlos durchsichtig – ein bedrohliches Weggleiten. Bericht über eine Therapie
publiziert in: Lothar Riedel (Hrsg.), “Dem Wesentlichen auf der Spur – Beiträge zu den Basler Psychotherapietagen 2000”, perspectiva Media Verlag, Riehen, ISBN 3-9521739-2-4
Anders wie die anderen, ausgesetzt, schutzlos durchsichtig – ein bedrohliches Weggleiten. Bericht über eine Therapie
Aus einem schön gelegenen Dorf in der Nähe der Stadt Zürich rief mich vor zweieinhalb Jahren eine Sozialarbeiterin an. Sie sprach von einer jungen afrikanischen Frau, die sich in Suizidgefahr befinde und dringend einer Therapie bedürfe. Ich bot der Patientin noch am selben Tag eine Stunde an, auf welche eine kontinuierliche, intensive Aufarbeitung ihrer psychischen Not folgte, mit wöchentlich je einer oder zwei Stunden, in Phasen akuter Gefährdung mit zwei bis drei Stunden pro Woche, in der schlimmsten Zeit mit täglichen Gesprächsmöglichkeiten. Nach eineinhalb Jahren intensiver Behandlung ging es ihr in jeder Hinsicht so gut, dass sie zumeist nur noch einer Stunde pro Monat bedurfte. Als ich jedoch infolge eines Unfalls während vier Monaten nicht erreichbar war, spitzte sich in ihr erneut eine psychische Verängstigung zu, sodass sie unter der lebensalltägli chen Situation in der Stadt wieder sehr litt, auch die beruflichen Probleme nicht mehr ertrug und kündigte.
Wie kam es zu ihrer Leidensgeschichte? Was ist Folge einer frühen Traumatisierung und späterer schwerer Erfahrungen, was hängt mit afrikanischen kulturellen Hintergründen zusammen? Wie ist der komplizierte Heilungsprozess zu erklären, wie die Rückfälle und wie die spürbare Wirkung der sich verändernden Therapie? Ich werde in einem ersten Teil die Herkunftssgeschichte der Patientin schildern, wie sie im Lauf zahlreicher Stunden, vor allem am Anfang der Therapie, von ihr vermittelt wurde, auf langsame, oft schwierige Weise. Im Lauf weniger Monate spitzte sich ihr psychischer Zustand erneut auf suizidale Weise zu. Obwohl sie einen Klinikaufenthalt abwies, gelang es von der 43. Stunde an, dass eine langsam sich verstärkende, psychische Genesung spürbar wurde. Allerdings setzten gleichzeitig erneut Komplikationen ein, die eine zum Teil andere Therapiemethode nötig machten. Die eingehende Schilderung dieses Teils der Geschichte wird der zweite Teil des Vortrags sein. Im dritten Teil werde ich auf den weiteren Genesungsweg der jungen Frau eingehen, der nach einer mehrmonatlichen Unterbrechung eine erstaunliche Wendung nahm.
Erster Teil
Die Patientin stammt aus Ghana. Sie kam vor 23 Jahren an einem Dienstag zur Welt und heißt daher Abena. Die Familie lebte in einem ländlichen Dorf im Umfeld einer großen Stadt am Meer. Nach der ersten Stunde hielt ich in meiner Aufzeichnung fest, dass sie »wie ein kindliches, angstbesetztes Mädchen wirkt, klein, dünn, einwärtsgerichtet, die Schultern nach vorn zusammengefallen, schwacher Tonus, spricht gut Deutsch, aber mit sehr leiser Stimme«,
In den ersten acht Monaten der Therapie tauchen nur wenig Bilder aus der frühen Kindheit wieder auf, die Jahre erscheinen ihr verdunkelt und zugedeckt. Die frühesten Erinnerungen, die sie in der zweiten Stunde wiedergibt, gehen auf das siebente Altersjahr zurück. Schon damals musste sie am frühen Morgen täglich Wasser holen gehen, immer barfuß, eine schwere Last, die sie kaum tragen konnte. Eines Morgens verletzte sie sich die Füße mit Flaschenscherben, die überall in der Umgebung des Wohnhause herumlagen. Einzelne Glassplitter waren so weit unter die Haut gedrungen dass sie nicht entfernt werden konnten. Es ergab sich ein schwerer eitriger Infekt. Mehrmals erzählt Abena bald nach dem Beginn der Therapie, wie der infizierte Fuss von den zwei Großmüttern, einer Urgroßmutter und einer Großmutter, beide von der mütterlichen Seite , mit einem glühenden Messer und heißem Palmöl behandelt wurden. Die Wunde heilte, aber die Narbe verschwand nie, im Gegenteil, sie wuchs und verhärtete sich mit dem Älterwerden.
In derselben Stunde schildert sie einen Abend, den sie in der gleichen Zeit erlebte und an welchem sie aus irgend einem Grund nichts zu essen erhielt. Sie sei draußen gewesen bis spät und habe Hunger gehabt. Da sei ihr von einer Nachbarin eine Banane geschenkt worden. Als endlich die Mutter spätabends von der Arbeit im Spital nach Hause zurückkehrt – jene Frau, die sie als knapp Siebzehnjährige in die Schweiz kommen liess – sei sie deswegen von ihr geschlagen worden. »Nie konnte ich ihr mitteilen, was ich brauchte oder was ich wünschte«.
Es war eine Großfamilie und ein Großhaushalt, in der Abena aufwuchs mit Urgroßmutter, Großmutter und Großvater, mit deren neun Töchtern (von denen die fünftälteste 1981 oder 1982 starb, wie Abena in einer späteren Stunde berichtet) und zwei Söhnen sowie den zahlreichen Großkindern. Abena gehörte zu den Großkindern, nahm jedoch einen anderen Platz ein als die übrigen. Ihre nächsten Bezugspersonen waren die Urgroßutter und die Großmutter, die sie nicht nur von der geschilderten Fußvergiftung geheilt hatten, sondern auch von anderen Krankheiten, die sie ich während der Primarschulzeit zuzog, und mit denen sie bis zur Adoleszenz im gleichen Zimmer schlief. Tagsüber musste sie den zwei alten Frauen beim Kochen, Wasserholen und Putzen zur Hand gehen, schon als Kind wie eine geduldete Magd. Der Rest der Familie zeigte weder den Großmüttern noch ihr gegenüber die geringste Achtung. Abena fühlte sich wertlos, mehrere Cousins und Cousinen plagten oder hänselten sie, ohne dass sie sich hätte wehren können. Warum sie in der Familie diese Sonderstellung einnahm, konnte sie sich nicht erklären. Sie fühlte sich anders und einsam. Draußen vor dem Haus wurde sie oft auch von nichtfamiliären Kindern geplagt und von den meisten Nachbarn wie übersehen. Außer den Großmüttern und einer Tante mit dem Namen Ruby hielt niemand zu ihr. Immer wieder betont sie, dass sie nicht weiß, weshalb dies so war.
Vom achten Altersjahr an besuchte sie nach dem Wasserholen die Schule, legte den Weg ebenfalls barfuß zurück und lernte mit großem Interesse. Ihr Wunsch, nach den ersten acht Schuljahren weiter lernen zu dürfen, wurde ihr verweigert. Gegen Ende der Schulzeit – sie war knapp sechzehn Jahre alt – besetzte ein vier Jahre älterer Cousin ihr am frühen Morgen den Weg, als sie mit zwei Töpfen unterwegs war, um Wasser zu holen. Er wollte, dass sie mit ihm schlafe. Er bot ihr dafür Geld an. Sie wies ihn von sich, zutiefst erschreckt, beschämt und verwirrt. Als sie vom “Verführungsüberfall” sprach, in der 18. Stunde, befand sie sich in einer tiefen Depression. Die Stimme war kaum hörbar. Mehrmals fügte sie bei, keinen Wert habe sie je gehabt und keinen Wert habe sie hier, wo sie nun lebe, eine »Schlampe« sei sie, wie eine Stimme in ihr sie in der Nacht und am Tag herabsetze. Niemandem in der Familie habe sie damals davon erzählen können. (Unklar bleibt, ob er trotz ihres Widerstandes sexuelle Gewalt auf sie ausübte). Etwa um die gleiche Zeit, nach dem sechzehnten Geburtstag, begann sie eine Lehre als Coiffeuse, die sie nach knapp einem Jahr wegen der Reise in die Schweiz zur neu verheirateten Mutter unterbrechen musste.
Mit den Großeltern sprach sie Efe, mit der Mutter, sagt sie, auch, überhaupt mit der Familie, mit dem Vater Acan. Von den sechzehn Sprachen, die in Ghana gesprochen werden und von denen neun in der Schule, die sie besuchte, unterrichtet wurden, auch Englisch, das sie von der ersten Klasse an lernte, erzählt sie in der 36. und 37. Stunde. Ihre Sprachfähigkeit ist erstaunlich. Sie zeigt sich auch im zunehmend fehlerfreien Deutsch-sprechen.
Erinnerungen an den Vater, der Acan sprach, sind in der ersten Hälfte der Therapie nur spärlich weckbar. Häufig wiederholt Abena, dass der Vater, als sie klein war, spürbar war, auch dass er immer wieder nach Hause kam. Er war als landwirtschaftlicher Arbeiter beschäftigt, hatte manchmal Gemüse, Obst oder Reis nach Hause gebracht, wie sie erzählt. Nie habe er sie geplagt, immer wieder erwähnt sie ihn als guten Vater, der aber bald einmal, sie weiß nicht mehr ab wann, wie verschollen war.
Von der Mutter sagt Abena, sie sei zumeist abwesend gewesen. Sie habe als Krankenschwester gearbeitet, entweder in Ghana oder im Ausland .. Als Kind sei sie von ihr häufig mit einem Stock geschlagen worden, wie damals, als sie Hunger hatte und von einer Nachbarin eine Banane bekam. Wenn die Mutter im Ausland arbeitete, habe sie ab und zu Geld geschickt, sei jedoch nicht einmal an Weihnachten regelmäßig nach Hause gekommen. Aber nie hätte sie es während der Schulzeit gewagt, sie als eine schlechte Mutter zu empfinden, sie sei einfach die Mutter gewesen. Als besonders feindselig habe sie die Mutter erst hier in der Schweiz erlebt. Immer wieder betont Abena, dass sie kein Recht habe, ihre Gefühle deswegen “vergiften” zu lassen.
Als die Mutter aus der Schweiz schrieb, sie habe sich wieder verheiratet und habe ein kleines Mädchen geboren, Abena dürfe nun zu ihr kommen, war sie sechzehneinhalb Jahre alt. Mehrmals sagt sie, das sei in ihrer Empfindung wie in einer Märchengeschichte gewesen, in welcher das geplagte und unglückliche Mädchen eine Auszeichnung erlebt. Bis zur Abreise habe sie auch viel Neid und Eifersucht der Cousinen und der jüngeren Tanten erdulden müssen.
Gegen Ende September 1994 verließ Abena die große Familie und gelangte per Flugzeug am gleichen Tag nach ZürichKloten. Doch die Lebensrealität bei der Mutter stimmte in nichts mit Abenas Erwartungen überein. Am Tag und in der Nacht habe sie nach der neugeborenen Halbschwester geschaut. Selber aber habe sie nicht die geringsten persönlichen Rechte gehabt. Sie durfte keinen eigenen »Platz« besetzen, durfte keine Schule besuchen noch erhielt sie für die Arbeit, die sie leistete, einen Lohn. Erneut war sie die Magd, musste putzen, kochen, das Kind versorgen, die Wäsche waschen und bügeln etc. Die Mutter war aus Berufsgründen abwesend, und wenn sie nach Hause kam, beschränkte sie ich darauf, Abenas Arbeit zu kontrollieren, zu kritisieren und sie herab zusetzen. Sie habe ihr auch vorgehalten, sie sei nicht lustig genug, sie unterhalte den Ehemann zu wenig etc. Dieser sei zu ihr korrekt gewesen, er habe sich jedoch in nichts eingemischt, was das Verhältnis zwischen ihr und der Mutter betraf. Abena erinnert sich an häufig sich wiederholende Träume von Schlangen in den unruhigen Nächten dieser Zeit, dicke, große und dünne Schlangen seien es gewesen und hätten sie bedroht. Einmal sei sie schreiend erwacht, weil sie eine Schlange in ihrem Bett gespürt habe. Dass zutiefst verunsichernde Sexualitätsängste sie besetzten, sowohl eigene Lustbedürfnisse wie Ängste vor männlichen Übergriffen, erschien ihr während langer Zeit unverständlich. Zusätzlich schildert sie, dass sie tagsüber, während der ständigen Arbeit, manchmal Phantasien von schönen Kleidern und schönen Spiegelschränken gespürt habe, zeitweise so sehr, dass sie eines Tages beim Gehen gestürzt sei.
Anfang August 1997 traf die Nachricht aus Afrika ein, die über hundert Jahre alte Urgroßmutter sei gestorben. Der Verlust der ihr so nahestehenden alten Frau erschütterte Abena. Die Mutter gestattete ihr nicht, zum Begräbnis nach Hause zu fahren. Abena fühlte sich benachteiligt und buchstäblich eingesperrt. Sie schildert, wie sie sich immer trauriger und selbstunsicherer fühlte, weil sie weder die Trauer über die fern von ihr verstorbene Urgroßmutter mit der Familie teilen durfte noch einen Beruf erlernen konnte, noch die geringste Möglickeit besaß, Gleichaltrigen zu begegnen. Einige Wochen vorher hatte Abena der in Ghana lebenden Tante Ruby, die sie in der Kindheit als einziges gutes Familienmitglied erlebt hatte, einen Brief geschrieben und sie gebeten, die Mutter zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Doch sie erfuhr nicht Hilfe, sondern Verrat: Die Tante schickte ihren Brief an die Adresse der Mutter in die Schweiz zurück, und diese reagierte darauf mit einer furchtbaren Wut, wie Abena mit tonloser Stimme berichtet. Sie habe sie stundenlang des Betrugs beschuldigt, habe sie schreiend herabgesetzt, verurteilt und ihr Rache geschworen.
Eines Tages, als sie neben dem Haus der Mutter Wäsche aufhängte, wie gelähmt vor Traurigkeit, habe eine Nachbarin sie angesprochen und ihr geraten, die Sozialberatungstelle des Dorfes aufzusuchen. In Begleitung der Nachbarin ging sie aus dem Haushalt der Mutter weg. Die Sozialarbeiterin nahm sie für einige Tage in ihrer Familie auf und besorgte ihr eine Praktikumsstelle in einem Alters- und Pflegeheim der Stadt, in welchem ihr auch ein kleines Zimmer zur Verfügung gestellt wurde. Aber Abena konnte sich nicht mehr vorstellen, weiterzuleben. Sie versuchte zu sterben, indem sie sich die Adern aufschnitt. So war die Situation, als sie Anfang April 1998 als Notfall zu mir geschickt wurde.
Zweiter Teil
Von der vierten Therapiestunde an geht es Abena spürbar besser. Die Schultern sind nicht mehr nach vorn zusammengefallen, sie leidet weniger unter Kopfschmerzen und Schmerzen in der Brust, und allmählich sorgt sie dafür, dass sie täglich genügend isst. Vor dem Schlafengehen macht sie Atemübungen, mit denen ich die ersten Stunden mit ihr begann. Nachts wird sie seltener von ängstigenden Träumen geweckt. Noch lebt sie im Alters- und Pflegeheim, wo sie jedoch nicht bleiben mag, vor allem wegen der Todesnähe der dort untergebrachten Menschen. Wöchentlich besucht sie an zwei Abenden einen Deutschkurs; sie lernt viel, macht sprachlich große Fortschritte, empfindet sich jedoch als Außenseiterin. Nach einer zufälligen Begegnung mit einem viel älterem Mann bietet ihr dieser eine Freundschaft an, doch nachdem er sie körperlich zu berühren beginnt, bricht sie den Kontakt ab. Die Mutter hat inzwischen noch ein weiteres Kind geboren, wovon Abena indirekt erfährt. Immer wieder klagt sie, dass sie weder das neugeborene zweite Kind noch das erstgeborene, nun vierjährige Mädchen besuchen dürfe. Wie sie an einem Sonntagnachmittag zur Familie fährt, um die Kinder zu sehen, wird sie wie eine gefährliche Einbrecherin von der Tür gejagt.
Nach vielen Bemühungen, einen anderen Arbeitsplatz zu finden, hat sie auf August 1998 eine Lehrstelle als Coiffeuse in Aussicht. Sie freut sich, auch, dass sie zur Schule gehen kann. Dazu kommt, dass sie eine kleine Einzimmerwohnung beziehen kann. Alle diese äußeren Konstellationen stimmen sie während einigen Wochen beinahe glücklich. Anfang Juli beginnt sie im Coiffeurgeschäft die Vorlehre, doch wenige Tage später, kurz or der 11. Stunde, fällt sie erneut in eine schwere Depression, begleitet von paranoiden Verfolgungsängsten. Sie hört böse Stimmen in sich, die sie beschimpfen. Ihr Blick scheint wie ausgelöscht zu sein, die Sprache ist tonlos. »Ich fühle mich wie Luft«, sagt sie. Sie isst nicht mehr, sie fürchtet sich vor den Tagen und den Nächten. Sie wagt nicht, in einen Tramwagen ein zusteigen und kann nachts nicht schlafen, sondern bleibt angstbesetzt wach, um alles um sich herum zu kontrollieren.
Ich biete Abena häufigere Stunden an und sie darf mich auch nachts anrufen, wenn die psychische Not sie erneut in Suizidnähe versetzt. Ich erwäge eine Hospitalisierung, schildere ihr die dadurch gesicherte Ruhe, aber Abena sträubt sich dagegen, angstbesetzt. Die Situation lässt sich durch die wöchentlich dreimalige Therapie wieder zunehmend stabilisieren, sogar ohne Medikamente. Langsam geht es ein wenig besser, obwohl sie eine Aufarbeitung der bösen Stimmen und Blicke, die sie immer wieder spürt, nicht zulässt. Kurz vor der 17. Stunde ruft sie mich an und sagt mit leiser Stimme, dass sie nicht mehr leben mag. Gegen Abend räume ich ihr eine zusätzliche Stunde ein. Ich spüre, dass die paranoiden Ängste sie keinen Augenblick mehr in Ruhe lassen. Erneut schlage ich ihr vor, sich unter meiner Begleitung in eine sie schützende Klinik zu begeben, und ich erkläre ihr, dass ein paar Tage Aufenthalt sie erleichtern würden, aber sie wehrt sich heftig dagegen, sagt, »ich will Ihnen versprechen, dass ich mich nicht töte«, spricht kein Wort mehr, aber blickt mich lange an.
Wie kann sie trotz ihres Widerstandes ein Stück weitergelangen? Ich überlege mir, welche andere Therapiemethode ihr nützlich sein könnte. Zu Beginn der nächstfolgenden Stunde frage ich sie, was sie davon halte, wenn wir nach und nach die Familie aus Afrika auf einem Blatt Papier aufzeichnen, resp. eine Art Bild von dieser Familie schaffen, auf welchem es um die genaue Darstellung der Zusammengehörigkeit, der Reihenfolge und der Abhängigkeit gehe, und wenn wir gleichzeitig den Namen jedes einzelnen Menschen separat festhalten, je auf einem einzelnen kleineren Blatt. Abena zeigt sich sehr einverstanden, sie lacht sogar, ich spüre eine psychische Erleichterung, und wir beginnen noch in der gleichen Stunde. In mir hat sich seit Wochen eine Vermutung bezüglich ihrer mütterlichen Herkunft verstärkt, auf welche Abena mit Hilfe der neuen Methode selber stoßen wird, hoffe ich, auf eine Schreckenserfahrung, die sie im Unbewussten verborgen hält und deren Heilung dringend erfordert ist. Die zweite Vermutung ist, dass für Abena die mit Blicken und Stimmen verbundenen schizoiden Nöte nicht aufarbeitbar sein dürfen, weil sie diese als Wirkung einer bedrohlichen Voodoo-Macht empfindet, ohne dass sie darüber zu sprechen wagt, dass sie mir jedoch eine Art Gegenkraft zuteilt. Erst in der dritten Therapiephase wird es möglich sein, auf die zweite Vermutung ein zugehen; die erste klärt sich im Lauf der neuen Therapiemethode.
Von der 19. Stunde an sitzen wir in der Praxis auf dem Teppich am Boden, und sie beginnt, die spezifische Eigenheit jedes und jeder Einzelnen aus der Familie zu schildern, sie fängt erneut bei den Urgroßeltern an, fährt mit den Großeltern fort, dann mit deren zahlreichen Töchtern und Söhnen, von denen die meisten zusammenleben. Die Erinnerungen sind nun viel lebhafter. Ihr Vater stammte aus einem weit entfernten Dorf, dessen Vater war eine Art Prinz, auch dessen Mutter war wichtig und freundlich. Abena erinnert sich, dass sie als Kind mit ihrem Vater an einem Fest teilnehmen durfte. Jeden Namen schreibe ich neben ihr auf einem großen Bogen gemäß der Familienordnung nieder, sie wünscht, dass nicht sie sondern dass ich dies tue, und es entsteht nach und nach eine Art Fächer der sich vom Großelternpaar aus öffnet, unter welchem die Namen derer Eltern, d.h. der Urgroßeltern, stehen, und über welchem jede Tochter un jeder Sohn mit den Ehemännern oder den Ehefrauen und deren Kindern, zu denen auch Abena und deren vier Jahre jüngerer Bruder gehören, aufgeführt werden. Jeden Namen halten wir zusätzlich auf einem kleinen Blatt einzeln fest. Wenn Abena von einem Familienmitglied spricht, hält sie das entsprechende Blatt in der Hand. Wir kommen von einer Stunde zur anderen ein Stück weiter im Aufarbeiten der Herkunftsgeschichte, obwohl häufig die aktuellen Tageserlebnisse im Vordergrund stehen, zum Beispiel die Schwierigkeiten mit dem Sohn des Coiffeurs, bei welchem sie arbeitet, den sie schlecht erträgt, weil er ihr aufdringlich erscheint und die Erinnerung an den Cousin wieder weckt. Wie wir die 24. Stunde beginnen, spricht sie erneut mit leiser Stimme und klagt: » Immer diese Blicke, kein innerer Halt. Irgend etwas ist an mir nicht in Ordnung, immer spüre ich dies, ich bin irgendwie ausgeliefert«. Gegen Ende der Stunde frage ich sie, was sie tun würde, wenn sie einem mutterlosen Kind begegnen würde. Sie sagt, sie würde aufs Kind aufpassen und es gern haben.
Von der 26. Stunde an möchte sie wieder im Sessel sitzen. Sie berichtet nach längerem Schweigen, sie sei von der Bezirksanwaltschaft einvernommen worden, ihre Mutter streite nämlich die Mutterschaft ab. »Das ist die Rache, die sie nach meinem Hilfegesuch an Tante Ruby geschworen hat«, sagt sie leise. Plötzlich bemerkt sie mit einem merkwürdig lächelnden Mund und einem Ton der Verzweiflung: »Ich möchte wirklich wissen, wer meine Mutter ist, nachdem meine Mutter behauptet, nicht meine Mutter zu sein.«
Die darauf folgenden Stunden sind extrem unterschiedlich. Sie schildert die Befragungen, denen sie bei der Bezirksanwaltschaft ausgesetzt ist, als gingen ihr diese nicht nahe. In der 28. Stunde erscheint sie wie ein Kind in einem kurzen Kleid, auch hat sie ihr Haar rötlich gefärbt, und was sie stundenlang schildert, hat mit den Schulstunden zu tun, die sie mit vielen Jungen und zwei weiteren Mädchen aus verschiedenen Ländern teilt, Rechnen und ein wenig Buchhaltung, Aufsätze schreiben etc. In der 29. Stunde geht Abena auf einen Traum ein. Sie träumte, dass sie hier in der Schweiz in ein Haus ging, um alles zu holen, was ihr gehört. »Geh weg«, habe eine Stimme geschrien. Abena fährt sehr aufgeregt fort, dass sie noch immer eine andere Stimme höre, die in ihr drin leise, aber deutlich sagte: »Die böse Frau stürzt sich auf dich und schlägt dich, wenn du nicht sofort weggehst«. Die böse Frau sei auf sie zugekommen, unerkennbar, eine wilde Art Perücke auf dem Kopf und habe versucht, sie am linken Arm zu schlagen. Es sei ihr gelungen zu fliehen. Ihre Tasche habe sie mit sich getragen und sei zur Nachbarin gelangt. Diese habe ihr gesagt: »Dort gibt es eine böse Frau«. Daraufhin sei sie erwacht und habe festgestellt, dass sie kein Brot mehr habe. In jeder Hinsicht habe sie der Hunger geschmerzt. Eine Hungererfahrung wie in der Kindheit, die verbunden war mit den Schlägen der Mutter? Ist die böse Frau, die sie im Traum hier in der Schweiz bedroht, die Frau, von der sie ständig als Mutter spricht? Abena verschließt sich. Sie steht auf, ist unruhig. Wie ich sie frage, ob die linke Hand die Fortsetzung des Herzens bedeute, nickt sie und betrachtet lange ihre verarbeiteten Hände.
Von der 30. bis zur 34. Stunde spricht sie erneut, immer wieder, von den Stimmen, die sie hört, von den schlechten Blicken, die sie ansehen und sie fixieren, von den Beleidigungen, die ihr bei der Arbeit und sogar von den Mitschülern und -schülerinnen angetan werden. Die Ängste wirken sich jedoch weniger bedrohlich aus. Sie kann sie schildern und fühlt sich nachher leichter. Wenn wir uns im Gespräch in die Nähe der sie verfolgenden Blicke und Stimmen bewegen, verschließt sie sich weiterhin, als sei die Klärungsarbeit nach bedrohlicher als die Stimmen und die Blicke. Ich vermute, dass sie diese als verboten empfindet. Sie bringt jedoch drei von ihr gezeichnete und zum Teil bemalte Bilder in Kartengröße mit, in denen sie auf abstrakte Weise eine spürbare, verwirrende Doppeltheit wiedergibt: die eine Hälfte fällt nach unten, die andere weist nach oben. Zwischen den beiden ist eine Art trennender, gerader Weg, der vermutlich durch die Therapiestunden entsteht, der zu einem Erkennen des Unterschieds führt und der Sicherheit bedeutet. Doch wie kommt sie weiter?
Kurz vor der 33. Stunde ruft mich der Arbeitgeber an, der von der Therapie weiß, da Abena ihn jedesmal um die Unterbrechung der Arbeit bitten muss. Er äußert sich spöttisch über ihre »schwerwiegenden Bildungsmängel«. So behaupte sie, jeder Tag werde zur Nacht, weil die Sonne im Meer versinke. Sie verstehe auch nicht, mit Messer und Gabel zu essen. Sie sei kindisch geblieben. Von Abena weiß ich, dass sie sich täglich wie in der Kindheit missachtet fühlt, auch rechtloser als alle anderen Menschen um sie herum. In der bald darauf stattfindenden Stunde sagt sie: »Etwas in mir ist verlorengegangen. Ich muss es wiederfinden. Dann werde ich befreit sein«. Ist es die innere, die Seele wärmende Sonne, die untergegangen ist? Nach einer Weile der Stille nehme ich das Blatt mit der fächerartigen Darstellung der ganzen Familie in die Hand, lege es zwischen sie und mich auf den Boden, sodass sie es klar vor sich sieht. Ich weise auf ihren Namen und jenen ihres vier Jahre jüngeren Bruder hin, die unter dem Frauennamen stehen, die sie als »Mutter« bezeichnet, ich mache mit einem Bleistift einen Bogen um die zwei Kindernamen und führe daraus heraus einen feinen Pfeil, der auf Dora hinweist, die im gleichen Jahr, in welchem Abenas Bruder zur Welt kam, gestorben ist. Ich spüre, dass Abena aufgewühlt auf der Familienordnung verweilt. Sie ist still, wie weggerückt und zugleich aufgewühlt. Ich spüre, dass sie den psychischen Erkenntnisweg zwischen der auf ihren Zeichnungen fixierten Doppeltheit mit langsamen Schritten geht.
Von der 37. Stunde an spricht sie erneut immer wieder vom Vater, wie er gut war, Reis und anderes Essen in die Familie brachte. Sie möchte nach Ghana reisen und ihn suchen gehen. Vom Gefühl her ist sie sicher, dass er noch lebt. Dann spricht sie von der Situation in der Schweiz, die sie als zu nehmend schwierig erlebt. Der Arbeitgeber hat von der Fremdenpolizei eine Meldung erhalten, dass sie in drei Monaten die Schweiz verlassen müsse. Abena sagt mit bitterer Stimme: »Nun hat die Mutter gegen mich gewonnen. Es ist mein Schicksal, dass immer die anderen gewinnen. Wie kann ich nach Afrika zurückkehren, als Verliererin?« Ich schlage ihr eine Anwältin vor, die sich in juristischer Hinsicht für ihre Rechte einsetzen kann. Abena ist einverstanden, auch dass ich die Anwältin in der gleichen Stunde anrufe und frage, ob sie für Abenas Fall Zeit habe. Dann gebe ich den Hörer Abena in die Hand, die mit ihr einen Termin vereinbart. Die erneute Traumatisierung, die durch die Anklage bei der Polizei, d.h. durch den offiziellen Verrat der als Mutter bezeichneten Person geschieht, muss Abena nicht mehr in sich verstecken und versuchen, sie geheimzuhalten. Der sichere Weg, den sie in der Therapie erlebt, wird nun durch eine juristische Hilfe erweitert.
In der darauf folgenden 40. Stunde bringt Abena eine Kopie der fremdenpolizeilichen Verfügung mit und sagt, indem sie mich anschaut, sie wolle sich »vom Negativen der Mutter nicht vergiften lassen. Sie hat mir das Leben gegeben und dazu die Milch, aber nicht die Luft. Diese habe ich von Gott. Solange sie mir die Luft nicht nimmt, kann ich leben«. Abenas psychische Stärkung ist spürbar, aber kann die Genesung vorangehen, wenn sie es nicht zulässt, die sich mit der Geburt und der frühesten Kindheit unbewusst erfahrene Mutterliebe von der verstörenden Haltung der als Mutter bezeichneten Tante zu unterscheiden? Erneut erzählt sie von Schlangenträumen, die sie schon hatte, als sie ein Kind war, und dass sie unter Kopfschmerzen litt, als sie noch bei der Mutter hier in der Schweiz eingeschlossen war. Aber nun sei sie all dies los. Sie sagt, die Anwältin wirke auf sie stark. Ich erwähne deren Anfrage, dass ich zu dem von ihr unternommenen Rekurs einen Begleittext verfasse, wegen des Zeitdrucks innerhalb weniger Tage. Abena ist sehr einverstanden.
In der darauf folgenden Stunde sitzen wir wieder auf dem Teppich am Boden. Meinem für den Rekurs geschriebenen Text stimmt sie mit spürbarem Interesse zu, korrigiert bloß zwei Zeitangaben. Während dieser Arbeit liegt zwischen ihr und mir das Blatt Papier mit den aufgezeichneten Familienmitgliedern. Plötzlich schaut sie mich an und sagt mit zögernder Stimme: »War vielleicht Dora, die 1981 oder 1982 starb, wirklich meine Mutter? Meine richtige Mutter?« Sie blickt mich an, spürt in sich vermut lich eine wachsende Sicherheit durch den Ausdruck meines Gesichts und fährt mit langsamen Worten fort: »So hatte ich eine gute Mutter«, nachdenklich ist sie, sehr ruhig.
Abena weiß nun, dass sie als Kind den Tod der Mutter weder akzeptieren noch verarbeiten konnte. Dass sie ihn verdrängte. Dass sie daher die Tante, welche die stellvertretende Mutterpflicht übernahm, wie dies in Afrika üblich ist, psychisch nicht als Stiefmutter/Tante, sondern als lebendig gebliebene Mutter einordnete. Dass diese Tante die Folgen der Traumatisierung, die der Tod der Mutter in ihr bewirkt hatte, durch ihre Lieblosigkeit schon in der Kindheit verstärkte und zugleich ihre Abhängigkeit hier in der Schweiz missbrauchte. Obwohl Abena dadurch die tief in der Psyche verwurzelte Freiheit beinahe verlor, gelang es ihr, die als Mutter empfundene Tante zu verlassen und ein eigenes Leben mit einer eigenen beruflichen Tätigkeit zu wagen, worauf sie des Verrats angeklagt wurde und eine weitere Infragestellung ihres Lebens – das Polizeiverfahren und die angedrohte Ausweisung erlebte.
Doch was bewirkt das Erkennen der Gründe ihres Leidens? Erneutetes Abgleiten? Langsam geht die Besserung voran. In den nächsten Stund gelingt es Abena, in die Zeit zurückzugelangen, als der Bruder zur Welt kam und als Dora, die Mutter, im Krankenhaus lag. Ein Erlebnis tritt in der 44. Stunde aus dem im Unbewussten verborgenen Erinnerungsfeld langsam heraus. »Einmal sind die Urgroßmutter, die Großmutter und ich in die Stadt gefahren, wo Dora in einem Spital war. Wir übernachteten im Raum von Patricia, einer Tante, die als Polizistin arbeitete. Ich durfte nicht zur Mutter gehen, durfte sie nicht sehen. Innere Blutungen hatte sie, scheint mir, auch schwer angeschwollene Beine. So starb sie«, Während Monaten hatte Abena wie ein Kind gewirkt, angstbesetzt und klein. Nun aber muss sie die Verlorenheitsgefühle nicht mehr verbergen. Wie sie an einer schweren Angina erkrankt und während vieler Tage im Bett liegen bleibt, sorgt sie für sich »wie eine Mutter fürs Kind«. Spürbar stolz schildert sie dies, wie sie wieder ohne Halsschmerzen in der Praxis erscheint.
Dritter Teil
Abena hatte alle Anzeichen einer schweren Depression, als sie erstmals zu mir kam. Sie wirkte damals wie ein verlorenes Kind, mager, mit eingebogener, schlaffer Haltung, herabfallenden Schultern, die leise Stimme tonlos und unmoduliert, glanzlose Augen, das jünger wirkende Gesicht zutiefst traurig. Sie sagte, dass sie tagelang nichts esse, nichts essen möge, dass sie nur müde sei, aber nicht schlafen könne, häufig starke Kopfschmerzen habe. Sie möge nicht mehr leben. Dazu kamen paranoide und phobische Symptome. Sie hörte innere Stimmen, die sie beschimpften, und sie hatte das Gefühle, dass überall, wo sie war, böse Blicke sie verfolgten, dass alle Menschen in Bus und Tram, auch auf der Straße, sie »merkwürdig« anschauten. Während die akute Suizidalität gebannt werden konnte, auch die Ess- und Schlafstörungen relativ bald gebessert waren, hielten die phobischen und paranoiden Störungen an und ängstigten sie sehr. Mit der Zeit wurden sie geringer, tauchten ab und zu wieder auf, verschlimmerten sich krisenhaft nach der dreißigsten Stunde. Da kam es ihr vor, als habe sie überhaupt kein Gewicht mehr, als nehme sie keinen Platz ein, als sei sie durchsichtig und federleicht. Nach der intensiven Therapiephase und der dabei erreichten Besserung verstärkten sich ihr Selbstwertgefühl und ihre Ichsicherheit zunehmend, bis zur erneuten schweren Krise, die durch die erschreckende, vor der Polizei formulierte Anklage der als Mutter empfundenen Tante, Abena habe sich als Tochter vorgegeben und sei daher als Lügnerin in die Schweiz gelangt, ausgelöst wurde. (Die Tante selber hatte mit dem Einreisegesuch für »ihre Tochter« die Fremdenpolizei betrogen).
Abena erschien mir im Zusammenhang der polizeilichen Einvernahmen und der bedrohlichen Wegweisung psychisch weniger gefährdet zu sein als zu Beginn der Therapie und anlässlich der einige Monate später erneut schweren Krise. Sie war in der Lage, mit dem, was sie bedrohte, als mit etwas Externem umzugehen; es bedrohte sie nicht mehr von Innen her. Es gelang ihr, dagegen zu kämpfen. »Das Böse«, sagte sie einmal, sei »die maßlose Rachsucht ihrer Tante, die sie seit dem Tod ihrer Mutter in der Kindheit als Mutter im Stich ließ und trotzdem beherrschte«. Diese Rachsucht habe in erster Linie zu tun mit dem Brief, den sie an die Familie geschrieben habe, in welchem sie um einen Einfluss auf die »Mutter«, wie sie die Tante noch empfand, wegen deren Härte bat. Der Hass der Mutter/Tante, den sie hier in der Schweiz auf zunehmend bedrohlichere Weise spürte, habe jedoch gewiss auch mit ihrer helleren Hautfarbe zu tun. Neid und Hass seien dasselbe. Ein weiterer Grund für die Verstärkung der Rachsucht habe gewiss mit der Tatsache zu tun, dass sie nun allein lebe, eine gute therapeutische und nun auch eine gute juristische Begleitung erfahre. Vielleicht werde die Tante als Anklägerin nach Außen siegen, aber sie wolle nicht, dass dadurch ihr Leben zerstört werde. Sie wolle für sich kämpfen.
Abena wirkte mit ihrer feingliedrigen Art auch körperlich nicht sehr robust. Doch die anspruchsvolle tägliche Arbeit im Coiffeursalon erledigte sie mit großer Zuverlässligkeit. Auffallend sind ihre abgearbeiteten Hände. Immer wenn es ihr psychisch besser geht, bricht ihre schalkhafte, fröhliche Seite durch. Vor allem während des einen Jahres, in welchem sie neben der Arbeit die Schule besuchen konnte, blühte sie im Umgang mit ihren Gleichaltrigen auf, war jedoch häufig enttäuscht, wenn sie sich missverstanden fühlte. Auffallend waren ihr Lernwille und ihre Lernfreude. Fast ihre gesamte Freizeit verbrachte sie mit Vorbereitungsarbeit für die Schule. Jeder kleine Erfolg freute und ermutigte sie und verstärkte ihren Wunsch, eine berufliche Qualifikation zu erlangen, um im Leben nicht mehr ständig unten durch gehen zu müssen, nicht mehr ständig als »Magd« missbraucht zu werden, sondern irgendwann ein eigenes Einkommen und Geschäft zu haben: ein sicheres Leben zu leben. Gleichzeitig litt Abena immer wieder unter Stimmen und Blicken, die sie mit der Rache der bösen Tante in Verbindung brachte, ohne dass sie dies auszusprechen wagte. Während der ganzen geschilderten Therapiezeit hatte sie sich angstbesetzt gegen eine »Aufklärung« der bösen Blicke und Stimmen gesträubt. Meine Vermutung, dass es sich um eine durch ihre afrikanische Herkunft geschaffene Voodoo-Ausgeliefertheit handelte, bestätigte sich erst in der letzten Phase.
Als ich im vergangenen Winter nach dem überstandenen Unfall noch in der Klinik weilte, rief Abena mich eines Tages an und teilte mir mit, sie habe eben einen amtlichen Brief erhalten und erfahren, dass sie dank des juristischen Rekurses einen B-Ausweis erhalten habe. Sie möchte ein großes Fest feiern vor Freude, und ihr Fest sei, mir dies mitzuteilen. Sie hoffe, dass nun auch ich bald wieder gesund sei. Die Vermutung regt sich in mir, dass sie eventuell auch meinen Unfall als eine Folge der Voodoo-Macht empfindet, den ich erdulden musste, weil ich ihr als Therapeutin so nahe stand.
Als ich im Frühjahr die Praxisarbeit wieder aufnehmen konnte, rief sie an, vereinbarte eine Stunde und erklärte am Telephon, sie werde erneut von inneren Stimmen und äußeren Blicken geplagt. Auch habe sie beim Coiffeur, der sich unhöflich benommen habe, gekündigt, sie suche nun eine andere Arbeit. In der wieder erneut stattfindenen Therapiestunde erklärte sie, dass sie sich immer wieder in ihr Zimmer flüchte, um geschützter zu sein. Ich fragte sie auf vorsichtige Weise, ob sie bereit sei, dass wir näher über die Voodoo-Macht sprechen und, indem wir sie klären, vielleicht in der Lage seien, sie aufzuheben. Nun war sie sofort bereit. Sie fügte bei, es sei ein großes Glück, dass ich wieder gesund sei. Dann erzählte sie, dass sie im ersten Jahr, als sie in der Schweiz war, gemeinsam mit der Tante an einem Zirkusmarkt vor dem Stand einer Zauberin gestanden sei. Sie habe die linke Hand in einen Apparat legen müssen, und nach kurzer Zeit sei ein Blatt Papier ausgedruckt worden, auf welchem ihre Zukunft stand, aber die Tante habe ihr sofort das Papier weggenommen und bei sich versteckt. Nie habe sie die Angaben lesen dürfen und sie vermute, dass die Tante dieses Blatt benutzt habe, um die von ihr geplante unheilvolle Rache umzusetzen, durch den mächtigen Voodoo-Einsatz, daran zweifle sie nicht, die Stimmen und die Blicke hätten damit zu tun.
In der ersten Stunde der Rückkehr in die Praxis war es möglich, dass sie eine Art Aufklärung, eventuell gar eine Infragestellung der VoodooMacht zuließ. Ich fragte sie, ob eine seit Jahrhunderten, vielleicht seit Jahrtausenden umgesetzte Beherrschung von Menschen, insbesondere von menschlichen Notzuständen, nicht endlich als Machtmissbrauch aufgedeckt werden solle? Ob sie sich vorstellen könne, sich davon zu befreien, so wie sie sich von der Tante befreit habe? Erstaunt schaute sie mich an, hob die Schultern. Nach einer Weile lächelte sie und blickte mit einer geheimen, noch nicht aussprechbaren Zustimmung nicht nur auf mich, sondern, wie ich spürte, auf ihren eigenen weiteren Weg.
Schluss
Damit begann der letzte Teil der Therapie, der vermutlich in absehbarer Zeit abgeschlossen sein wird. Abena konnte wieder eine Arbeitsstelle finden, wo sie sich wohl fühlt. Noch ungeheilt ist ihre Angst vor jeglicher Liebesbeziehung mit einem Mann, da sie den in der Pubertät vom älteren Cousin vorgenommenen Übergriff auf sie ob er dies vorgeschlagen oder ausgeübt hat, ist noch unklar mit der seit der Kindheit erfahrenen persönlichen Wertlosigkeit verbindet. Ihre Individualität, ihre Weiblichkeit wie auch ihre weibliche Sexualität waren mit Herabsetzungen verbunden, deren Heilung zum Teil auf spürbare Weise erfolgen konnte, zum Teil noch nicht. Noch immer legt sie jedes männliche Interesse an ihr als geplanten Übergriff aus, da beinah jede Erfahrung mit Männern mit Ausnahme des guten Vaters mit der Herabsetzung ihres menschlichen Wertes verbunden war. Eine Heilung in diesem Bereich wird durch die in der Schweiz spürbare rassistische Behandlung afrikanischer Frauen erschwert.
Die Therapie schritt während der drei Phasen auf unterschiedliche Weise voran. Sie wurde sowohl von analytischen wie von traumathera peutischen Methoden beeinflusst, je nach der Verfassung der Patientin. Insbesondere erwies es sich als sinnvoll, auch die kulturell bedingten afrikanischen Voraussetzungen zu beachten. Das bedrohliche Ausmaß ihrer Pathologie beruhte in erster Linie auf der psychischen Verdrängung des frühkindlichen Mutterverlustes, doch zusätzlich auf den Erfahrungen einer traumatisierenden Behandlung durch die als Mutter empfundene Tante wie auf der ängstigenden, spezifisch afrikanischen Internalisierung einer bedrohlichen Voodoo-Macht, der Abena sich ausgesetzt fühlte.