Lajzer Aichenrand – ein Jahr ist es her
Lajzer Aichenrand – ein Jahr ist es her
publiziert in DAS NEUE ISRAEL, September 1986
Nun liegt der Stein über dem Grab, in dem Lajzer Ajchenrand ruht, ein Jahr ist es her, seit er am 12. September 1985 zur Ruhe kam und mit ihm sein Werk.
Von Paul Celan stammt der Satz (aus der Rede, die er als Büchner- Preisträger 1960 in Darmstadt hielt): « Die Generationen der Künstler hin und her – so lange sie am Leben sind, die Flüchtigen mit der Reizbarkeit Gestörter und mit der Empfindlichkeit von Blutern, erst die Toten haben es gut, ihr Werk ist zur Ruhe gekommen und leuchtet in der Vollendung. Aber dieses Leuchten in der Vollendung und das Glück der Toten, es täuscht uns nicht. Die Zeiten und Zonen liegen nahe beieinander, in keiner ist es hell, und erst nachträglich sieht es aus, als ob die Worte auf Taubenfüssen kamen.»
Die Vollendung des Werks um den Preis des Lebens, da gibt es eigentlich nichts hinzuzufügen, um den Preis des Wirkens. Leben bedeutet Glück des Wirkens, Glück des Suchens, des Sagens, des Fragens, des Liebens, der Anrede und Gegenrede, des Wartens darauf, auch im Dunkeln, auch im Ringen mit der Erdenschwere der Worte, auch wenn Blutstropfen den Weg säumen, nirgendwo «ist es hell». Lajzer Ajchenrand war so ein leidenschaftlich Wirkender. Ein Gedicht war für ihn nie abgeschlossen, nie nahm er sein Können in der Zeit als Mass, sondern mass das Können am Ursprung, an der schöpferischen Aufgabe. Die schöpferische Aufgabe aber kann nicht zum Abschluss kommen in der Zeit, «Werk» wird sie erst im Tod; in der Zeit bleibt sie Annäherung, verzweifelt glückliche Notwendigkeit des fortwährenden Suchens nach der Übereinstimmung von Erfahrung, Ahnung, Wissen und Wort. Die volle Übereinstimmung ist in der Zeit nicht möglich, die menschliche Wahrheit ist wortlos, Schmerz, Bangen, Angst, Glück sind wortlos, das Wort bemüht sich hinterher, die Not- wendigkeit des Ausdrucks ist ein Stachel, der vorantreibt, solange der Dichter lebt. In der Vollendung ist der Stachel verschwunden, da sieht es aus, «als ob die Worte auf Taubenfüssen kamen» …
«Ursprung ist das Ziel», heisst es bei Karl Kraus in einem Gedicht mit dem Titel «Der sterbende Mensch». Und ebenso liesse sich sagen, Vollendung ist der Anfang. Der Anfang der Wirkung des Werks. So geht es hin und hin, erst das Wirken als lebendiges Wirken, sodann das Wirken des Werks. Das alles gilt für Lajzer Ajchenrand in besonderem Mass, für den 1912 im polnischen Demblin geborenen Dichter, der 1937 nach Frankreich zog, l 942 sich in die Schweiz flüchtete und der hier Heimat fand in der Fremde, eine Frau, eine Familie und einen Kreis von Freunden. Der hier wirkte, ganz aus dem Ursprung, aus der Wärme des Ursprungs und aus der Härte des Ursprungs, und in- sofern bedeutete ihm seine jiddische Sprache Auftrag und Leben: und der auf den Ursprung hin lebte und wirkte, auf den unbekannten, aus wortlos gläubigem Vermögen, und insofern war er ein Dichter, und er konnte nichts anderes sein.
Für uns wiederum kann sein Werk Ursprung bedeuten, Vollendung als Anfang und als Vermächtnis, Anrede an uns, die weiter in der Zeit und in unserem Auftrag stehen, Anrede wie das «du» in seinem Gedicht «Die Meilensteine des Schweigens»:
du,
mit ale wegn fun der welt
in dajne ojgn
mit ale frostn
oif dajne finger
zeschtelt hast du dajn simen zwischn do un dort
in majlschtejner fun schwajgn
un wekst nigunim oif
in schternmuschlen
wos nor der schtarbndiker
nemt mit sich mit.*
* Aus dem Jiddischen übertragen von H. K. Metzger: Du,/ mit allen Wegen der Welt,/ in deinen Augen,/ mit allen Frösten/ auf deinen Fingern, -/ errichtet hast du dein Zeichen/ zwischen hier und dort/ in Meilensteinen des Schweigens/ und weckst Melodien auf/ in Sternmuscheln,/ die nur der Sterbende/ mit sich fortträgt.