“Leicht ruht der Pfeil der Zeit im Sonnenbogen” – Aspekte einer Philosophie der Zeit
“Leicht ruht der Pfeil der Zeit im Sonnenbogen” – Aspekte einer Philosophie der Zeit
(Vorlesung und Seminar im Wintersemester 1992/93 von
Dr. Maja Wicki)
- Vorlesung (26. Oktober 1992)
Als Titel für unser Seminar über die Zeit habe ich eine Zeile aus Ingeborg Bachmanns Gedicht “Nach vielen Jahren” gewählt. Das Gedicht erschien erstmals in “Jahresring 1955/56. Ein Querschnitt durch die deutsche Literatur und Kunst der Gegenwart (Bd2)”, Stuttgart 1955). Ingeborg Bachmann, am 25. Juni 1926 in Klagenfurt geboren, am 26. September 1973 – also 42 Jahre alt – in Rom im Zusammenhang eines Brandunfalls gestorben, war 1955, als das Gedicht entstand, in ihrem “Dreissigsten Jahr” (wie der Titel einer ihrer beachtlichen Kurzgeschichten lautet) und sie nahm in jenem Jahr an einem Internationalen Seminar im Rahmen der Summer School of Arts and Science and of Education an der Harvard-Universität in Cambridge, USA, teil; die Summer School wurde von Henry Kissinger geleitet. Ich möchte zur Einstimmung das Gedicht vorlesen:
Nach vielen Jahren
Leicht ruht der Pfeil der Zeit im Sonnenbogen
Wenn die Agave aus dem Felsen tritt,
wird über ihr dein Herz im Wind gewogen
und hält mit jedem Ziel der Stunde Schritt.
Schon überfliegt ein Schatten die Azoren
und deine Brust der zitternde Granat.
Ist auch der Tod dem Augenblick verschworen,
bist du die Scheibe, die ihm blendend naht.
Ist auch das Meer verwöhnt und glanzerfahren,
erhöht’s den Spiegel für die Handvoll Blut,
und die Agave blüht nach vielen Jahren
im Schutz der Felsen vor der trunkenen Flut. (Ingeborg Bachmann)
Das Gedicht ist eine Reflexion über die doppelte Erfahrung der Zeit, über die fliehende und die ruhende Zeit, über Vergänglichkeit, Todesahnen und Dauer, mithin eine Reflexion über Aspekte jener Zusammenhänge, die uns während dieses Winters jede zweite Woche beschäftigen werden: dessen, was im vulgären wie im wissenschaftlichen Sinn – “Zeit” heisst.
Indem wir uns Ingeborg Bachmanns Lebensdaten in Erinnerung rufen, indem wir ihr Gedicht datieren und es mit anderen Ereignissen ihrer Lebensgeschichte in Verbindung bringen, benutzen wir eine – uns ganz und gar geläufige, scheinbar unproblematische – Zeitstruktur. Wir führen Jahreszahlen an, sprechen in der Vergangenheit, zählen Lebensjahre zusammen und nehmen gleichzeitig ein Gedicht zur Kenntnis, das die Zeit thematisiert. Auch indem wir uns vornehmen, uns jede zweite Woche hier einzufinden und uns mit Fragen zur Zeit zu befassen, gestehen wir ein, dass wir einerseits auf weiter nicht hinterfragbare Weise mit einer verfügbaren künftigen “Zeit” rechnen, dass wir das nun beginnende Semester planen und einzuteilen gedenken, dass wir vorsehen, uns jeden zweiten Montag nach der vereinbarten Uhrzeit, also um 17 Uhr, an die Voltastrasse 58 zu begeben, dass diese Veranstaltung einen Anfang, eine bestimmte Dauer und ein Ende hat. Wir geben damit zu verstehen, dass wir in keiner Weise daran zweifeln, dass alles, was wir tun und weiterhin zu tun gedenken, sich innerhalb der Zeit abspielt und abspielen wird, so wie alles, was wir je taten, sich innerhalb der Zeit abspielte. Dass mithin nichts, was geschieht, ausserhalb der Zeit geschieht. Indem wir so sprechen, benutzen wir ganz selbstverständlich Verbformen, die verschiedenen Zeiten Ausdruck geben – Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Das alles ist für uns scheinbar problemlos: Wir haben uns eingerichtet in der Zeit, so wie wir uns eingerichtet haben in der Sprache und in der Welt – in diesem gegebenen, übernommenen, uns verfügbaren vieldimensionalen Vorstellungs-, Handlungs- und Kommunikationskontinuum.
Andererseits aber: Indem wir die “Zeit” zum Thema unseres philosophischen Diskurses machen, gestehen wir ein, dass wir uns ganz und gar nicht im Klaren sind, was “Zeit” eigentlich ist, dass die scheinbar selbstverständliche Sicherheit, mit der wir mit der Zeit umgehen, von der Zeit sprechen, über die Zeit verfügen, dass diese scheinbare Sicherheit Sprünge hat, dass in diesen Sprüngen sich bohrende Fragen, Zweifel und Ängste breitmachen. Und wir gestehen ein, dass uns “der Geist danach brennt , dieses ungemein verwickelte Rätsel zu entwirren”, wie Augustinus im 11. Buch seiner “Confessiones” schreibt. “Denn was ist ‘Zeit’?” fragen wir uns heute, wie er im Jahre 397 oder 398 fragte, wenig später, nachdem er das schwerlastende Bischofsamt auf sich genommen hatte. Und obwohl wir heute in mancher Hinsicht – scheinbar – besser über die Zeit Bescheid wisse, dank der Fortschritte in der Physik, dank der erstaunlichen Möglichkeiten der Berechnung des Raum-Zeit-Kontinuums, dank der beinah unbegrenzten Fähigkeit neu entwickelter Rechner, jede noch so kleine Messeinheit der Zeit in noch kleinere Einheiten zu fragmentieren und zugleich unendliche kosmische Distanzen nach Masstäben der Lichtgeschwindigkeit, mithin nach zeitlichen Masstäben, zu messen, obwohl wir über Weltzeituhren verfügen, die mit grösster Genauigkeit Synchronizität zwischen weit entlegenen Ereignissen anzeigen, wissen wir trotzdem nicht, was das, was “Zeit” genannt wird, ist. “Wenn mich niemand danach fragt, weiss ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiss ich es nicht”, hielt Augustinus in einer berühmt gewordenen Formulierung, die seither immer wieder zitiert wird, sein gleichzeitiges Wissen und Unwissen fest. Wir wissen nicht einmal, ob all das, was wir mit dem Begriff der Zeit erfassen, dasselbe ist; ob all das, was wir mit zeitlichen Massstäben einteilen und messen, zu Recht so eingeteilt und gemessen wird.
Zum Beispiel: Wir werden in – scheinbar naturgegebene – Zeit- und Kalenderstrukturen hineingeboren. Wir werden in diesen Strukturen sozialisiert und richten unsere Bedürfnisse, unsere Tätigkeiten und unser Denken nach einer vereinbarten Länge von Tagen, Stunden, Minuten und Sekunden. Der gregorianische Kalender aber, den wir benutzen, ist knapp etwas mehr als 4oo Jahr alt, gilt er doch erst seit der Revision des julianischen Kalenders durch Papst Gregor XIII im Jahr 1582. Nach dem in unserem Kulturkreis ebenso gültigen jüdischen Kalender befinden wir uns nun nicht im Jahr 1992, sondern im Jahr 5753.
Aber nicht nur der Kalender, auch die Uhrzeit bestimmt unser Tun, unser Ruhen und unsere Übereinkünfte und ebenso bestimmt sie das Tun und Nichttun von Millionen von Menschen. Aber auch die Uhr hat eine eher kurze Geschichte. Im 13. Jahrhundert begann die Räderuhr die andere Zeitmesser – die schattenwerfende Sonne, den verrinnenden Sand oder das tropfende Wasser – abzulösen, aber erst 1657 hat Christian Huygens die erste Pendeluhr gebaut und 1674 durch die Erfindung der Spiralfederunruh auf lange nicht mehr überbietbare Weise perfektioniert. Das heisst, dass die Zeitmessung, wie wir sie als selbstverständlich durch die uns geläufigen Chronometer kennen, erst seit etwas mehr als dreihundert Jahren geläufig ist.
Nun: Für uns gilt diese Zeitstruktur und wir messen mit ihr das Leben jedes einzelnen Menschen. Ebenso berechnen wir die Geschichte der Staaten und Kulturen, das Alter der Erde oder dasjenige der Sonne und anderer Gestirne nach den gleichen Zeitkriterien. Das heisst: Wir brauchen für die soziale Zeit, für die physikalische Zeit, für die existentielle Zeit die gleichen Begriffe. Wir messen mithin ganz und gar Ungleiches – Geschichte, Dauer, Bewegung, Leben als existentielle Frist (Entstehen, Wachsen und Vergehen), sodann individuelle und kollektive Erfahrung, soziale Ordnung, Fahrpläne, wissenschaftliche Beobachtungen – mit e i n e r Masseinheit: mit der Zeit. Wir brauchen das Substativ “Zeit”, als handle es sich um eine – physikalische oder metaphysische – Einheit mit klar bestimmbaren Eigenschaften. Wir sagen, dass wir “Zeit haben” oder “keine Zeit” haben, dass ein Ereignis “zu früh” eintritt oder “zu spät”, wir sprechen von der flüchtigen “Zeit”, vom “Pfeil” oder vom “Fluss” der “Zeit”. Wir lassen uns von der “Zeit” hetzen, bedrängen, stressen und ängstigen, wir bedauern die “verlorene Zeit” und sehnen uns nach “erfüllter Zeit”, wir sprechen von “Langezeit”, von Kurzeil und Langeweile, wir stellen Zeit und Ewigkeit einander gegenüber als scheinbar unvereinbare zeitliche/überzeitliche Vorstellungs- und Erfahrungsdimensionen, oder innerhalb der Zeit Augenblick und Kairos. Wir fühlen uns in die Enge getrieben durch die Kernfrage der Theologie, wie die zeitlose – göttliche – Offenbarung in die Zeit kam, wie sie einen Anfang nahm und ob sie, wie alles, was einen Anfang nimmt, zu einem Ende kommt. Wir setzen uns mit den vielen Zeittheorien auseinander, die im Lauf der Denk- und Wissenschaftsgeschichte entstanden sind, von der Aristotelischen “Physik” über Augustinus, Galilei, Newton, Descartes, Kant, Kierkegaard, Einstein (um, bis in die jüngste Gegenwart, nur einige wenige zu nennen, die unsere Kultur bestimmt haben und weiter bestimmen). Zugleich aber entnehmen wir ethnologischen und historischen Forschungsberichten, dass diese Zeittheorien in keiner Weise “allgemeinmenschlich”, sondern kulturspezifisch sind, dass andere Kulturen Dauer, soziale Ereignisse und Übereinkünfte ganz anders regeln. Und trotzdem teilen wir immer wieder die Zeit ein in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und wir gehen – trotz aller theoretischen Kenntnisse und trotz allen Wissens – mit dieser Einteilung um wie mit unanzweifelbaren Dimensionen, obwohl keine wirklich erlebbar ist, nicht einmal die Gegenwart, da diese vorweg vergeht und letztlich – angesichts des Todes – unverfügbar ist.
Bleibt uns auf die augustinische Frage “Quid est ergo ‘tempus’?” mehr als das gleichzeitige “scio” und “nescio”?
Wir werden nicht umhin kommen, uns im Lauf der acht Abende, die uns zur Verfügung stehen, immer wieder die Frage zu stellen. wir werden nicht umhin kommen uns der Frage zu stellen. Wir können sie vorläufig nicht beantworten. Wir können uns höchstens vorläufig darauf einigen, dass wir – nach einem Vorschlag von Norbert Elias – “Zeit” als Chiffre verstehen, als Symbol für das synthesebildende Vermögen der Menschen, verschiedene sich folgende oder zugleich erfolgende Wahrnehmungen und Erfahrungen in eine Ordnung zu bringen, nicht nur eigene, sondern auch kollektive, wobei diese Ordnung auch erlauben soll, Künftiges zu planen. Wir werden gegen Ende des Semesters in einer eigenen Sitzung ausführlich die Theorie von Norbert Elias diskutieren.
Vorher allerdings schlage ich vor, einige der grossen Zeit-Theorien mit den Fragen, die diese implizieren, zu untersuchen.
“Leicht ruht der Pfeil der Zeit im Sonnenbogen” – Aspekte einher Philosophie der Zeit
2. Vorlesung (9.Novemebr 1992)
Wir haben uns das letzte Mal mit der Fülle von Fragen vertraut gemacht, die uns die Zusammenhänge der Zeit stellen – Fragen unterschiedlichster, ja unvereinbarer Erfahrung (zum Beispiel der Flüchtigkeit und der Dauer oder des Leidens an der Zeit und des Glücks, Zeit – Lebenszeit – zur Verfügung zu haben), sodann Fragen unterschiedlichster Theorien (wie etwa die der Zyklizität oder der Linearität der Zeit). Wir haben uns vorgenommen, nach und nach in diese Fragen einzudringen. Heute nun wollen wir uns die Frage nach dem Beginn der Zeit stellen sowie die Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Ewigkeit.
Sie haben als Vorbereitung das 11.Buch der Augustinischen “Bekenntnisse” gelesen. (Wir werden nachher darüber sprechen, ob diese Lektüre angemessen war oder zu lang und zu schwierig). Die beiden Fragestellungen – Beginn der Zeit, Zeit und Ewigkeit – hangen aufs engste zusammen. Wir müssen uns dabei auf älteste Überlieferungen stützen, die in irgendeiner Form schriftlich erhalten blieben, auf Mythen – Geschichten, Erzählungen-, die den Weltanfang, die Entstehung der Welt zum Thema haben, auf Kosmogonien (kosmos/gone: Geburt) und Kosmologien. Mircea Eliade, einer der bedeutendsten Mythenforscher (Rumäne, der nach Frankreich emigrierte und seither dort lebt und arbeitet), bezeichnet den Mythos als den vielgestaltigen, manchmal dramatischen Einbruch des Sakralen in die Welt. “Dieser Einbruch des Sakralen ist es, der die Welt wirklich gründet. Jeder Mythos erzählt, wie eine Wirklichkeit angefangen hat zu sein, sei es nun die totale Wirklichkeit, der Kosmos, oder nur ein Bruchstück davon”- etwa eine Insel, ein Strom, eine Götterdynastie oder das Menschengeschlecht. Mythen geben Antwort auf die Frage, wie und warum etwas ist und nicht nicht ist, lange bevor die Wissenschaft (Biologie, Physik, Philosophie) sich mit Fragen des Entstehens und Werdens auseinandergesetzt hat.
Nach Mircea Eliade ist die Antwort der Mythen nach dem Grund der Schöpfung die überbordende Seinsfülle der Demiurgen (Schöpfungsgötter oder Schöpfungsgott). Schöpfung ist somit Erscheinung der Seinsfülle – Ontophanie. (Nicht von ungefähr bezeichnen wir jede Tätigkeit, die über das Pflichtpensum hinausgeht, deren Notwendigkeit wir aus unserem eigenen Sosein, aus unseren Talenten, aus unserem Gestaltungswillen und aus unseren Vorstellungs- und Erkennntiskräften schöpfen, kurz aus der Fülle unserer Möglichkeiten, als ‘schöpferische’ Tätigkeit).
Wie aber kam die Zeit in die Welt? In der religiösen Literatur Ägyptens gibt es nicht e i -n e n Bericht über die Schöpfung, sondern entsprechend der Vielzahl der Völker und der Kulturen eine ganze Fülle – etwa eine Überlieferung„ deren Ursprung in Memphis liegt, eine andere in Heliopolis (beide in der Gegend des heutigen Kairo), eine weitere in Hermopolis in Mittelägypten, weitere mehr Jaus anderen Städten. Als sich die vielen verschiedenen Völkergruppen zu Anfang des 3. Jahrtausend v. Chr. zu einem einzigen Staat – zum Ägypten der Pharaonen – zusammenschlossen, stellte die offizielle Religion ein Nebeneinander sehr alter sakraler Überlieferungen dar, deren gegenseitige Einflüsse zu einem gelehrten theologischen System führten. Ob wie in Memphis Ptah (aucht Ta-tenen), nämlich der Erdboden mit allen lebenswichtigen Pflanzen, am Anfang der Schöpfungsgeschichte steht, als der Gott aller Werkstoffe und aller Tätigkeit, der nach und nach den Himmel aufrichtet und diesen an seienem festen Platz hält, darin Sonne und Mond; oder ob wie in Heliopolis Re (auch Atum oder Chepri genannt), die Sonne der aus sich selbst entstandene Weltschöpfer ist; oder ob wie in den ältesten Überlieferungen der Nun, das Urwasser, der Vater aller Götter ist, der schon vor der Schöpfung, mithin seit aller Ewigkeit war, und aus dem dann Inseln, feste Erde, Seerosen (als die Wiege der Sonne) und weitere Geschöpfe auftauchten, von dem sich der Horizont und das Himmelsgewölbe abgrenzte – immer wird Schöpfung “das Erste Mal” genannt.
Damit wird mit dem Begriff der Schöpfung die Zeit eingeführt und verankert – nicht nur durch das Nacheinander der göttlichen, kosmischen und kreatürlichen Erscheinungen, also nicht nur durch die harmonische kosmische Ordnung (als Göttin Maat verehrt), sondern durch die Schöpfung selbst.die einen Zei,/,namen hat, deren Name “das Erste Mal” ist.
Warum wird die Schöpfung “das Erste Mal” genannt? Ältesten ägyptischen Vorstellungen zufolge ist das Chaos durch die Schöpfung nicht ein für allemal gebannt. Die Schöpfung ist ständig bedroht, einerseits durch nationale Katastrophen wie den Einbruch fremder Mächte, aber auch allein schon durch jedes Sterben der Sonne am Abend oder durch jeden Abschluss eines Zeitumlaufs, ob dies ein Monat sei oder ein Jahr. So ist für die ägyptische Theologie eigentlich jeder Morgen, wenn die Dunkelheit der Sonne weicht, die während der Nacht.im Nun gebadet und sich regeneriert hat, ein neuer Schöpfungsmorgen.
Auch im alten Mesopotamien gehen die frühesten Überlieferungen ins zweite Jahrtausend zurück, vermutlich in die Epoche der ersten babylonischen Dynastie, die vom 19. bis zum 17. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung dauerte, wenn auch die Fragmente von Keilschrifttafeln, die in Ausgrabungsstätten wie Assur, Ninive, Kisch und Sippar gefunden wurden, einiges später, zwischen dem 9. und 2. Jahrhundert v.Chr. datiert werden. Auch in Mesopotamien entstand aus den Überlieferungen der früher im Zweistromland ansässigen Sumer und denjenigen der später sich ansiedelnden semitischen Völkern ein theologischer Synkretismus (eine Vernischung), deren verschiedene Strömungen zum Entstehen einer grossen Dichtung über den Weltanfang führten, ·zum “Enuma elisch”: (Der Name dieser dieser babylonischen Kosmogonie bedeutet nichts anderes als die Anfangsworte “Als droben“). Es geht darin um die Erzählung, wie der Gott Marduk zum ersten und höchsten Gott wurde, zum Schöpfergott, nachdem er die Urgottheiten, insbesondere Tiämai (das salzige Urwasser, das Weltenmeer) und die sie begleitenden Ungeheuer, mithin das Chaos, besiegt hatte, Von den verschiedenen erhaltenen Tafelfragmenten ist insbesondere Tafel V für uns von Interesse, wo geschildert wird, wie Marduk die “Ordnung der Weisheit”, die zeitliche und kosmische Ordnung, schafft.
(Text lesen. Fussnoten: (59): Marduk teilt also den Himmel in 36 Teile oder Bereiche, die zusammen den 10 Graden eines Tierkreiszeichens der Griechen entsprechen. (60) die Zeichen des Tierkreises (61)Nibiru ist dr Planet Jupiter, des Sterns Marduks in der Mitte des Himmels, der verhindert, dass die Himmelsmechanik durcheinander gerät.(62) Tore der Sonne, Okzident und Orient (63) Nannar ist einer der Namen des Mondgottes Sin. (64) Zeitbestimmung erfolgte bei den Babyloniern durch die Mondbeobachtung. (65) “Korne” = Mondscheibe (66) Von nun an ist der Text fragmentarischer und stärker rekonstruiert. (67) Gemeint ist der Kopf der Tiämat. (68) statt “fruchtbare” ev. “leuchtende”. Anu, Enlil und Ea sind eine göttliche Dreiheit, die vor aller Schöpfung über Himmel, Erde und Wasser geherrscht haben, wobei Anu das Haupt der drei ist, der Erzeuger der Menschen, der später zum der Wasser wurde. Marduk, der Sohn des Ea, nahm die Persönlichkeit des Enlil ganz in sich auf, sodass Enlil im Enuma eliscn kaum noch genannt wird. Apsu ist das Süsswasser und der Gott des Süsswassers, Urgott wie Tiämat, Apsu und Tiämat sind das erst vorgeschöpfliche Paar, aus dem die übrigen Götter und die Baustoffe der Welt hervorgegangen sind.).
Sicher am wichtigsten für uns sind die jüdischen Schöpfungsmythen, die einerseits den Anfang der Bibel – des Alten Testaments – ausmachen, die sich andererseits in einigen weiteren Texten, zum Beispiel im Buch Job, in den Psalmen (Ps 104), in Sprüche (Spr 8,22 ff) und an einigen weitem Orten finden. Seit etwa hundert Jahren sind sich die Forscher einig, dass das Buch Genesis drei unterschiedliche Erzählungen der Schöpfungsgeschichte und der ältesten Geschichte Israels enthält. Der älteste Teil (genannt Bericht der Jahwisten) wurde noch vor der Babylonischen Gefangenschaft, d.h, vor 587 v.Chr. verfasst (Genesis 2, 4b 25), dann nach dem Exil (d.h. nach 538 v.Chr., also im 6. Jahrhundert vor unser Zeitrechnung, kam es zum sogenannten Priesterbericht (Genesis l – 31 und 2, 1 – 4a) wie auch zum Bericht der Elohisten (wo nicht von Jahwe, Gottes Eigenname, sondern von Elohim, von Gott nach dem allgemeinen Begriff für Gott, gesprochen wird). Der Schöpfungsbericht der Elohisten beginnt mit Abraham, dem grössten Ahnherrn Israels (Genesis 12 ff). Dk Erschaffung der zeitlichen Ordnung mit der symbolischen Einteilung der Schöpfung in Tage findet sich im Priesterbericht, der sich durch die klar erkennbaren theologischen Anliegen – zum Beispiel die schon in der Schöpfungsgeschichte begründete Heiligung des Sabbats – , sodann durch eine besonders klare, ritualisierte-Sprache kennzeichnet.
(Die nach den drei Quellen unterschiedenen Teile der Genesis lesen.)
In der griechischen Antike finden sich die ersten philosophischen Quellen einer Philosophie der Zeit bei einzelnen vorsokratischen Denkern. Zu erwähnen ist
insbesondere Anaximander von Milet (lebte von 611 bis 545 v.Chr.), Nachfolger und Schüler des ersten ionischen Naturphilosophen Thales. Thales soll auf Grund seiner in Ägypten erworbenen Kenntnisse die Sonnenfinsternis vom Jahre 585 vorausgesagt habenl, doch es sind von ihm keine Schriften, auch nicht kleinste Fragmente erhalten. Von Anaximanders Schrift “Über die Natur” sind dagegen Fragmente erhalten, darunter ein berühmter Satz über den Anfang alles Seienden und über das Werden: “Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron (das Unerfahrbare, das grenzenlos Unbestimmbare). Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hineine geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Busse für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.” (Zum Apeiron schreibt Anaximander. “Das Apeiron ist ohne Alter. Das Apeiron ist ohne Tod und ohne Verderben). Entstehen und Sterben, mithin Zeit als naturhaftes Gesetz alles Kreatürlichen stellt Anaximander der Unsterblichkeit des Apeiron gegenüber. Anaximander ist der erste griechische Philosoph, der sich der Unvereinbarkeit von Zeit und Ewigkeit bewusst ist.
Heraklit dagegen (544 – 483 v.Chr.) nimmt an, dass das Weltganze weder einen Anfang noch ein Ende hat, sondern immer war und immer sein wird. In Fragment 30 heisst es: “Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern sie war immerdar und wird sein ewig lebendiges Feuer, erglimmend nach Massen und erlöschend nach Massen”. Die mit dem Tod bedrohte menschliche Existenz ist nichts anderes denn eine Episode. In Fragment 52 heisst es: “Die Lebenszeit ist ein Knabe, der spielt, hin und her die Brettsteine setzt: Knabenregiment!” Heraklit erkennt zwar die Zeit als unausweichliches Gesetz des Vergehens, aber dasselbe Gesetz ist das Gesetz des Entstehens. Wiederkehrende Harmonie besteht gerade darin, dass nichts ohne dessen Gegenteil ist.
Einer der interssantesten griechischen Texte über die Erschaffung der Zeit findet sich in Platons “Timaios” (37d ff). Nach einer Erzählung des Kritias über die Erschaffung der Welt als Abbild eines vollkommenen Vorbilds (einer Idee) des Weltschöpfers folgt die Schilderung der Schöpfung der Zeit. “Da sann er (der Vater, der Weltschöpfer) darauf, ein bewegliches Bild der Unvergänglichkeit zu gestalten und machte, dabei zugleich den Himmel ordnend, dasjenige, dem wir den Namen Zeit beigelegt haben, zu einem in Zahlen fortschreitenden unvergänglichen Bild der in dem einen verharrenden Unendlichkeit. Da es nämlich, bevor der Himmel entstand, keine Tage und Nächte, keine Monate und Jahre gab, so liess er damals, indem er jenen (d.h. den Himmel) zusammenfügte, diese mitentstehen; diese aber sind insgesamt Teile der Zeit, und das “war” und “wird sein” sind gewordene Formen der Zeit“. Darauf geht Platon auf den Unterschied zwischen Unvergänglichem und Vergänglichen ein. ” … das ‘war’ und ‘wird sein’ ziemt sich nur von dem in der Zeit fortschreitenden Werden zu sagen, sind es doch Bewegungen. Dem stets sich ·selbst gleich und unbeweglich Verharrenden aber kommt es nicht zu, durch die Zeit jünger oder älter zu werden noch irgendeinmal geworden zu sein oder in Zukunft zu werden.” An anderer Stelle heisst es, diese Begriffe (“war” und “wird sein”) seien “Begriffe der die Unvergänglichkeit. nachbildenden und nach Zahlenverhältnissen Kreisläufe beschreibenden Zeit“. Die Zeit entstand also mit dem Himmel, mit den Gestirnen, die in acht Bahnen in kleineren oder grösseren Kreisen ihren Weg gehen. Platon fügt bei: “Damit es aber ein augenfälliges Mass der gegenseitigen Schnelligkeit und Langsamkeit gebe, mit der sie in den acht Bahnen sich bewegten, entzündet der Gott in dem von der Erde · aus zweiten der Kreisumlaufe ein Licht, welches wir eben Sonne nennten, damit es möglichst dem gesamten Himmel leuchte und damit die lebenden Wesen, deren Natur das angemessen erschien, die Zahl besässen, über welche sie der Umschwung des Selben und Gleichförmigen belehrte. So und deshalb ist nun Tag und Nacht entstanden… “
So wird deutlich, dass Zeit bei Platon nicht mehr etwas “frei Schwebendes” ist wie noch bei Heraklit, sondern etwas, das an unveränderliche Gesetze gebunden ist. Zeit ist zugleich vergänglich und unvergänglich: unvergänglich, weil der Bezug zwischen “war”, “ist” und “wird sein” unveränderlich ist, weils sie das durch den Schöpfer geschaffene Abbild der Ewigkeit ist. (Simone Weil übrigens hält genau diese Erkenntnis mit folgenden Worten fest: “Le temps implique l’ternite. Le rapport entre passe et avenir est un rapport eternel; 1′ ecoulement meme du temps est eternel”, Lecons, S.257. Ähnlich heisst es bei Maurice Merleau-Ponty: “Ce qui ne passe pas dans le temps, c’est le passage meme du temps”).
Eine der spannendsten frühchristlichen Auseinandersetzungen mit dem Geheimnis der Zeit, sowohl in Abstützung auf den biblischen Schöpfungsbericht wie auf Platon, findet sich im 11. Buch der “Bekenntnisse” des Aurelius Augustinus (lebte von 354 bis 430). Das erste Geheimnis, das Augustinus anspricht, ist die Unvereinbarkeit des göttlichen Wortes (” Und Gott sprach: es werde Licht”), des göttlichen Sprechaktes, der ja einen Ablauf suggeriert und mithin eine Zeitfolge, mit Gottes Zeitlosigkeit, mit der göttlichen Ewigkeit. Für Augustinus löst sich die Unvereinbarkeit auf, wenn das göttliche Wort selbst Ewigkeitscharakter hat: “Denn da löst nicht ein Laut den anderen ab, bis nach und nach alles gesprochen werden kann, sondern in eins und ewig wird alles gesprochen” (S.306). In eins und ewig ist Gott als Schöpfungsgott, sodass es, stellt Augustinus fest, für Gott selbst kein v o r der Schöpfung gibt, nur reine, unwandelbare Gegenwärtigkeit, nur der “Glanz der allzeit feststehenden Ewigkeit” (S. 309). Ebenso aber gibt es vor der Schöpfung keinen Menschen, hält Augustinus fest: “Möcht ich doch alles so sicher wissen, wie ich weiss, dass kein Geschöpf entstand, bevor es Schöpfu.ng gab” (S.310))Die Zeit begann mit der Schöpfung, “nie gab es eine Zeit, wo keine Zeit war” (S.311). Doch was i s t Zeit? fragt Augstinus, da ja die vergangene nicht mehr ist und die zukünftige noch nicht ist und die gegenwärtige “so reissend schnell aus der Zukunft hinüber in die Yergangenheu fliegt”, sodass sich kein Zeitabschnitt zur Dauer entwickeln kann (S.314). Augustinus fragt, ob man nicht “in Wahrheit sagen müsse, dass Zeit nur darum sei, weil sie zum Nichtsein strebe”? (S.312) Er gibt sich Rechenschaft darüber, dass zwar die drei Zeitformen als Zeiten nicht s i n d, dass sie aber trotzdem sind, in der Vorstellung, in der Idee, “in der Seele”, sagt Augustinus: als “Gegenwart des Vergangenen, als Gegenwart des Gegenwärtigen, als Gegenwart des Zukünftigen” , mit – anderen Worten: als Erinnerung, als Anschauung, als Erwartung (S.318). Augustinus kommt also zum – vorläufigen – Schluss, dass die Zeit eine subjektive Dimension ist, Wahrnehmungen und andere Erfahrungen zu machen, diese zu vergleichen mit früher gemachten wie auch mit vorweggenommenen künftigen, eine Dimension, die das – scheinbar – Dauernde und das Füchtige der Zeit zusammenbringt. Diese Erkenntnis aber, stellt Augustinus fest, steht in Widerspruch zur Tatsache, dass zeitliche Intervalle für alle Menschen nach einem gleichen Mass gemessen wird (zu Augustinus Lebenszeit noch mit Sand- und Sonnenuhr), als wäre Zeit nicht etwas unfassbar Vorübergehendes, sondern etwas Ausgedehntes (S.319). Das Geheimnis erscheint ihm unergründbar. Dazu kommen noch mehr verwirrende Aspekte: etwa die Tatsache, dass, nach Meinung der Gelehrten, die Bewegungen der Gestirne die Zeiten sind (S. 320 – 21), was wohl zutrifft, aber zugleich als Erklärung nicht genügt, das es, wie Augustinus bemerkt, auch unabhängig von den Gestirnen Bewegung gibt, deren Längen und Intervalle ja auch gemessen werden können. “Weh mir Armen, da ich nicht einmal weiss, was ich nicht weiss” ( S. 323) ruft er aus. Es wird etwas gemessen, das gar nicht gemessen werden kann: “Weder die zukünftigen noch die vergangenen noch die vorübergehenden Zeiten können wir messen, und doch messen wir die Zeiten” (S.326). Ob es vielleicht der Geist selbst ist, der die Zeit ist? fragt er sich (S. 324 25). Das augustinische Fragen geht schliesslich über in den Lobpreis des ewigen Schöpfers. “Wie du im Uranfang Himmel und Erde erkanntest ohne Wandel deines Erkennenes, so hast du im Uranfang Himmel und Erde geschaffen ohne Änderung deines Tuns. Wer das versteht, der preise dich, und wers nicht versteht, auch er soll dich preisen”! (S.331) Das Fragen endet mit der Unterwerfung unter das Geheimnis, mithin mit der Haltung der Demut, die wir schon bei Job finden.
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- Vorlesung zu Aspekten der Zeit
Wenn wir uns mit Kants Zeittheorie befassen, machen wir einen Sprung über viele Jahrhunderte hinweg. Immanuel Kant lebte von 1724 bis 1804 in Königsberg, das ganze Leben in der gleichen Stadt. Er stammte aus einer kinderreichen Handwerkersfamilie (noch 11 Geschwister), studierte Mathematik und Naturwissenschaften in seiner Heimatstadt (beim Wolff-Schüler Knutzen), wirkte von 1756 als Privatdozent, von 1779 an als Professor, unverheiratet und trotzdem, wird überliefert, gesellig. Einen Ruf, der 1778 an ihn erging, eine Professur in Halle anzunehmen, lehnte er ab. 1794 wurde er durch eine königlich-preussische Order gerügt, wegen “Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums”.
Die “Kritik der reinen Vernunft” (in der sich die Kantische Lehre von Zeit und Raum findet) erschien 1781. Mit diesem Werk legte er den Grund zu seiner grossen Bedeutung in der Geschichte der Philosophie: als Kritiker, als Aufklärer, als Transzendentalphilosoph. Mit dem Vorwort zur “Kritik der reinen Vernunft” weist er auf die Linie hin, die er zu verfolgen gedenkt: “Ich verstehe aber hierunter nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfangs und der Grenzen derselben, alles aber aus Prinzipien”. Kant geht es mithin um die Destruktion der herkömmlichen Metaphysik, die als rein spekulative Vernunfterkenntnis, als Lehre von Ideen, sich über alle Erfahrung hinwegsetzte. Es geht ihm darum, zwei einseitige Positionen, die bis zu jenem Zeitpunkt die Philosophie beherrscht hatten, zu überwinden den Dogmatismus und den Skeptizismus, denen es beiden um die Natur der Dinge ging, die entweder uneingeschränkt als beständig angenommen oder angezeifelt wurde. Kant will das Instrument der Erkenntnis selbst studieren, bevor er sich mit den Erkenntnissen auseinandersetzt.
Für Kant steht fest, dass alle Erkenntnis mit der Erfahrung anfängt, sich jedoch nicht auf diese beschränkt. Ein Teil unserer Erkenntnisse wird allein durch die Verstandestätigkeit hervorgebracht. Diese sind apriorischer Art, d.h. sie gehen aller Erfahrung voraus. Kant versteht darunter lediglich die Formen der Erkenntnis, mithin die Begriffe. Alle Erkenntnisinhalte sind erfahrungsabhängig und erfahrungsgegeben, und es ist die Leistung der Vernunft, die verhältnismässige Allgemeinheit der auf Erfahrung abgestützten Erkenntnis auf ihre breitere Geltung hin zu prüfen und zu erweitern. Aber eben: Um aber überhaupt der Erfahrung fähig zu sein, bedarf es, wie Kant sagt, “gewisser Formen des Verstandes”, das heisst einer Gewissheit der Unterscheidung der Begriffe und der Regeln deren Verknüpfung. Diese “Formen des Verstandes” sind vorgebildet (nicht eingeboren), denn der einzelne erkennende Mensch steht ja in einer langen Tradition der erkennenden Menschheit. Kant stützt sich hierbei insbesondere auf Francis Bacon (Baco von Verulam, 1561 bis 1626), dessen Vorwort zur “lnstauratio magna” er seiner “Kritik der reinen Vernunft” voransetzte. (Lesen, B II).
Hinsichtlich seiner Lehre von der Zeit ging er von der Annahme aus, die in der Philosophie seit Rene Descartes verteidigt wurde (1596 in La Haye, 1650 in Stockholm): dass der denkende Mensch mit der spezifischen Fähigkeit, Ereignisse zu verknüpfen, ausgestattet sei. Zu diesen Ereignissen gehörte auch die Zeit. Für Kant aber war diese Annahme gleichbedeutend mit der Bedingung der Möglichkeit, überhaupt Erfahrung machen zu können. Er nannte diese Fähigkeit das synthetische Vermögen a priori. Zu diesen “Synthesen a priori” gehören nach Kant die Zeit und die Ursache. Das heist, dass Zeitempfindung, Wissen um die Zeit und Zeitgefühl vor jeder Erfahrung gegeben ist, nicht anders als die Kausalitätszusammenhänge. Für Kant ist Erfahrung ohne dieses Vorwissen gar nicht möglich – Erfahrung notabene immer des einzelnen Menschen.
Kant unterscheidet zwischen analytischen und synthetischen Sätzen ( oder Urteilen):
- a) analytische Sätze (oder Urteile) enthalten das Prädikat im Subjekt: ein Beispiel, das Kant selbst benützt, ist: “Alle Körper sind ausgedehnt”. (Ausdehnung ist im Begriff Körper enthalten). Die analytischen Urteile haben mithin rein erläuternden Charakter, während die
- b) synthetischen Urteile die Erkenntnis erweitern: Das Prädikat ist im Subjekt nicht enthalten: Das ebenfalls von Kant verwendete Beispiel lautet “Alle Körper sind schwer”. Ein anderes Beispiel wäre: “Gestern hat es geregnet”. Erfahrungsurteile sind insgesamt synthetische Urteile.
Die grosse Frage für Kant ist, wie synthetische Urteile a priori zustandekommen. Das ist eigentlich die Hauptfrage in der “Kritik der reinen Vernunft”. Synthetische Urteile a priori sind synthetische Urteile, die aller Erfahrung vorausgehen. Für Kant besteht kein Zweifel, dass es diese Urteile gibt. Er rechnet zum Beispiel alle mathematischen Urteile dazu. Oder er führt, als weiteres Beispiel, das Kausalgesetz an: “Alles; was geschieht, hat eine Ursache”.
Eine andere Frage, die Kant quält, ist die Frage, wie die Wahrheit der Erkenntnisse sich beweisen lasse, welches die Wahrheitskriterien seien. (KrV B83,84); S.102/3). Dass die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand “Wahrheit” bedeute, ist tautologisch. Damit wird noch nicht gesagt, wie sich allgemein gültige Wahrheitskriterien für jede Erkenntnis finden lassen. Für Kant bedeutet es schon viel, fähig zu sein, überhaupt vernünftige Fragen zu stellen. Allgemein gültige Wahrheitskriterien kann er keine nennen.
Lesen wir “Transzendentale Ästhetik. Zweiter Teil. Von der Zeit”.
– transzendental: Kant gibt dem Begriff eine neue Bedeutung. Er versteht darunter die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, dasjenige, was, vor aller Erfahrung, Erkenntnis überhaupt möglich macht. Dagegen: Was über sie hinausweist, was jenseits der Erkenntnis liegt, ist “transzendent”. Zum Beispiel ist das, was Kant das “Ding an sich” nennt, das “noumenon” unerkennbar. Die Noumena sind transzendent. Nur die “phainomena”, die Erscheinungen der Dinge, sind erkennbar.
–Aesthetik: bei Kant im ursprünglichen Sinn verwendet als “die Wissenschaft, die die Regeln der Sinnenwahrnehmung” (Kant sagt “der Sinnlichkeit” oder der “Anschauung”) bedeutet (KrV B 33, S.69, auch B 76, S.98), im Gegensatz zur Logik, die die Wissenschaft der Verstandesregeln meint. Kant zufolge gibt es zwei apriorische, aller Erfahrung vorausliegende Formen der Sinnlichkeit: Raum und Zeit. Der Raum systematisiert die äusseren Empfindungen, die Zeit die inneren. Kant leugnet nicht die empirische Realität von Raum und Zeit. Die Idealität von Raum und Zeit ist die Voraussetzung für die durchgängige Realität beider in allen Sinneswahrnehmungen. (Nochmals: “apriorisch” heisst nicht angeboren, sondern begrifllich vorgegeben). Mit der Einführung der Idealität der Zeit verfolgt Kant noch einen besonderen Zweck. Es geht dabei um die Frage, wie Freiheit möglich sei. In der Welt der Erscheinungen gibt es keine Freiheit. Da herrschen die Gesetze der Kausalität. Nach dem Kant’schen Dualismus gehört also die Freiheit zum “Ding an sich”
– apodiktisch: von “apo” (von etwas her, mittels, durch) und “deiknynai” (zeigen, beweisen), d.h. was klar gezeigt oder bewiesen werden kann, was unwiderleglich ist.
– Anschauung: bedeutet bei Kant Gewissheit der sinnlichen Erkenntnis.
– der Satz von Widerspruch: kontradiktorisch entgegengesetzte Urteile können nicht beide zugleich wahr sein. Wenn das eine wahr ist, muss das andere , im Verstand des Menschen begründete Bedingungen der Erfahrung und Erkenntnis. (Zu “Form” und “Materie” s. KrV, Vorrede, S. 15).
- Vorlesung zu Aspekten der Zeit
Es soll ein zweiter Abend Kants “Transzendentaler Aesthetik” – “Von der Zeit” gewidmet sein. Wir wollen heute allerdings nicht nochmals beim Paragraphen 4 ansetzen, sondern uns gleich den Paragraphen 6 vornehmen, wo Kant aus den vorangegangenen Erörterungen Schlüsse zieht. Eine Schwierigkeit bildet eventuell der Kant’sche Formbegriff. Kant spricht von der “Form der inneren Anschauung” oder der “Form des inneren Sinnes”. Unter “Form” versteht er die notwendige, im Verstand des Menschen liegende Bedingung der Erfahrung und der Erkenntnis, eine subjektive Bedingung a priori.
Eine “Form der inneren Anschauung” ist eben die Zeit, eine andere der Raum. Wenn Kant schreibt, dass die Zeit “das Verhältnis der Vorstellungen in unserem inneren Zustand bestimmt”, meint er, dass die Erkenntnis der Veränderung, des Nacheinander, der Vor- Gleich- und Nachzeitigkeit nur dank dieser Form der inneren Anschauung, dieser voraus bestehenden Erkenntisbedingung möglich ist.
Kant spricht der Zeit mithin “transzendentale Idealität” zu, das heisst: die Zeit besteht nur in der Idee, nur in der Vorstellung, wobei diese idealität als Bedingung der Möglichkeit weiterer Erkenntnis zu verstehen ist, d.h. transzendental. Zeit ist, nach Kant, weder “subsistierend noch inhaerierend” den Ggenständen eigen, das heisst, sie macht weder deren Substanz oder Sein aus noch gehört sie in einer Art der Inhaerenz, der innewohnenden Eigenschaft, zu den Gegenständen (wie zum Beispiel das Rundsein zum Kreis).
Kant gibt jedoch zu bedenken, dass diese Idealität “nicht mit den Subreptionen der Empfindung” zu vergleichen sei. Mit “Subreption” ist ein Fangschluss, ein Fehlschluss zu verstehen, der scheinbare Gültigkeit beansprucht, obwohl er keinen ordentlichen Denkprozess voraussetzt. Kant greift damit Vorwürfen und Einsprachen vor, auf die er in Paragraph 7 eingeht.
Zum Schluss: Wie erklären Sie Ihre eigenen Zeitkenntnisse? Wie sind Zeiterfahrungen mitteilbar?
- Vorlesung zu Aspekten der Zeit
Die existenzphilosophische Auseinandersetzung mit der Zeit
Noch in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren liessen sich die akademischen Lehrer und Lehrerinnen in Philosophie oder Literatur in zwei Gruppen einteilen, wie mir schien: Da gab es jene, die vor den sogenannten “Existentialisten” warnten, sie als “atheistische Anthropozentriker”, als “irrationale Agnostiker”, als “amoralische Libertinisten” bezeichneten, kurz, als “Jugendverführer”, die entweder zu weltfremder Schwärmerei oder zu schwarzem Pessimismus missleiteten, die auf jeden Fall in einem ernsthaften Philosophiestudium nicht zu beachten seien. Und da gab es die anderen, die selbst interessiert-analytisch oder fasziniert Jaspers dreibändige “Philosophie” lasen, Heideggers “Sein und Zeit”, Sartre’s “L’Etre et le Neant”, die in den so unterschiedlichen Werken von Martin Buher und Franz Rosenzweig, von Gabriel Marcel und Emmanuel Mounier, von Nicolay Berdjajew und Leo Isaac Schestow ebenfalls den philosophischen Ausdruck der Zeit erkannten, die auf Albert Camus, Simone de Beauvoir, Simone Weil und auch schon auf Hannah Arendt hinweisen, die Dostojeweski, Franz Kafirn, Robert Walser, Rainer Maria Rilke, Nelly Sachs, Ingeborg Bachmann und andere Dichter und Dichterinnen existenzphilsophisch lasen, die vor allem die überragende Bedeutung Bergsons und Kierkegaards für das neue philosophische Denken erkannten, Bergson in Hinblick auf ein von Kant ausgehendes neues Verständnis der Zeit als gelebter Zeit, als erlebter Dauer, und Kierkegaard in der Auseiandersetzung mit Hegel, in dessen System er den dort nicht existenten einzelnen denkenden Menschen thematisiert, der in seiner radikalen Selbstbefragung den “Schwindel der Freiheit”erfährt und Angst als Grunderfahrung der Existenz erkennt, Wahrheit aber nur noch als Paradox (und damit aufBlaise Pascal und, noch früher, auf Augustinus als Vorläufer· existenzphilqsophischen Denkens hinwiesen). Damals wurde auch klar, dass es gilt, nebeli.13ergsons Infragestellung linearer Zeiterfassung und traditioneller Zeitreflexion, neben Kierkegaards Infragestellung 1) Hegel’scher und christlicher Sicherheit und seiner Feststellung, dass die Existenz ein “unendliches Paradox” ist; in dem sich alles um die Zeitlichkeit, um die Endlichkeit dreht, dass es gilt, die Marx’sche Destruktion der bürgerlichen Sicherheit als Vorbereitung existenzphilosophischen Denkens zu lesen und zu verstehen. (Marx’s Kritik an der Entfremdung der Arbeit beeinflusste in starkem Mass Jean Paul Sartre, Simone Weil, Albert Camus, selbst Hannah Arendt). Es wurde auch klar, dass es galt, Nietzsches Weltdeutung als Rückverweis auf den allein auf sich gestellten, denkenden, leidenden, verzweifelnden, aber zum Handeln bestimmten Menschen zu begreifen, auch ihn als Systemerschütterer und Wegbereiter zur Radikalisierung der Existenzreflexion.
Es lässt sich wohl verantworten zu sagen, dass alle existenzphilosophischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts ihre Wurzeln im Werk bahnbrechender vorausgegangener Denker haben, dass daraus sich die grossen Fragenzusammenhänge, allen Unterschieden vorweg, herauskristallisieren: die Frage nach dem Sein des Daseins, dem es in seinem Existieren ( 1) um dieses selbst geht, (2) um das Verhältnissein mit dem mit-seienden Dasein der andere Menschen (in der Folge mit dem Teilsein einer Gemeinschaft), sodann (3) mit dem, was sich in den Grenzerfahrnngen als Transzendenz ahnen oder erkennen lässt, sodann (4) mit der durch Industrialisierung und Technik entfremdeten Welt.
Jean-Paul Sartre hat in seiner Einführung zur “Critique de la raison dialectique”, die eine Abgrenzung seiner Existenzphilosophie vom Marxismus ist und als selbstständige Schrift unter dem Titel “Marxismus und Existentialismus” veröffentlicht wurde, die Philosophien als “Ausdruck der allgemeinen gesellschaftlichen Bewegung” definiert, und zwar zunächst einmal als “eine bestimmte Art, in der die ‘aufsteigende’ Klasse Selbstbewusstsein erlangt (zum Beispiel den Cartesianismus als Bewusstseinsform des gebildeten und unternehmungsfreudigen Amtsadels; oder den Kantianismus, im Anfangstadium der Industrialisierung, in einem aus Fabrikanten, Ingenieuren und Gelehrten bestehenden Bürgertum, als Ausdruck des universalen, sich autonom erklärenden Menschen; den Marxismus als das ausformulierte Bewusstsein der sich ihrer selbst bewusst werdenden Arbeitermassen, des sich in seinem Leiden und seiner Erniedrigung erkennenden Proletariats).
Die Existenzphilosophie, diesem Modell zufolge, kann als der philosophische Ausdruck der klassenlosen Gemeinschaft der Menschen bezeichnet werden, in welcher der Einzelne in seiner Endlichkeit, in seiner Bedrohtheit, in seinen Möglichkeiten der Wahl, in Schuld, Leid oder Glück zur Verantwortung seinem eigenen Sein und dem Mitsein der Anderen gegenüber und damit zur Sinngebung seiner Existenz aufgerufen ist. Dieser “appelative” Charakter (nach Jaspers) existenzphilosophischer Analytik und Ethik entspricht dem Verlust zwingender kognitiver und normativer Systeme, mithin dem Rekurs auf die Notwendigkeit des Selbsteinsatzes von Freiheit, auf dieses Wagnis, in dessen zeitlichem Vollzug sich die Existenz als erkennendes, handelndes und sinnsuchendes, in dieser Bedeutung als geschichtliches Werden verwirklicht.
Henri Bergson
Aus den Vorläufern und Begründern der Existenzphilosophie soll im besonderen nun die Bedeutung Henri Bergsons hervorgehoben werden, vor allem aus dem einen Grund: weil sein erstes grosses philosophisches Werk “Essai sur les données immediates de la conscience” (1888 verfasst, 1889 erstmals erschienen, in deutscher Übersetzung erstmals 1911 als “Zeit und Freiheit”; der Text, der uns zur Verfügung steht, ist aus er Dritten Auflage) u n s e r Thema, die Frage nach der Zeit, ins Zentrum rückt.
Bergson selbst betrachtete seine Philosophie als “Bruch mit der Tradition”, als “Erneuerung” der Philosophie, als Versuch und Aufforderung, Bewusstsein und Wissenschaft ( conscience et science) gleichermassen als Grundlage und Masstab nie abzuschliessender philosophischer Arbeit mit grösster Präzision und Sorgfalt einzusetzen.
Er wurde 1859 in Paris von polnisch-englischen Eltern geboren. Nach dem Baccalaureat besuchte er die Ecole normale superieure, u.a. gemeinsam mit Jean Jaures, dem späteren Sozialistenführer und unterrichtete in den achtziger und neunziger Jahren an Gymnasien in der Provinz und in Paris. Plötzliche Bekanntheit erlangte er mit der Publikation seines “Essai sur les données immediates de la conscience” im Jahre 1889. Dieses Werk wurde schon 1892 von Jean Jaures in dessen Dissertation “De la réalite du monde sensible” besprochen, wobei wiederum die Kritik Jaures’ von Bergson aufgegriffen wurde und zur Niederschrift und Veröffentlichung von “Matière et mémoire” im Jahre 1896 führte.
Einundzwanzig Jahre lang, von 1900 bis 1921, war Bergson Professor am College de France, einer der renommiertesten Lehrmöglichkeiten in Frankreich. Schon damals hatte er einen grossen Kreis von Anhängern, Schülern und Kritikern, man sprach vom Bergsonismus, einer Entwicklung, die vor allem auf das Erscheinen von “L’évolution créatrice” (1907; deutsch erschien das Buch 1912 unter dem Titel “Schöpferische Entwicklung”) folgte.
Während des 1. Weltkriegs versah Begson diplomatische Missionen in Spanien (1916) und in den USA (1917 und 1918). Einen Bericht über diese Zeit und diese Erfahrungen schrieb er erst viel später. 1928 erhielt Bergson den Nobelpreis für Literatur. Diese Ehrung fiel in eine Epoche des Rückzugs, körperlicher Krankheiten und der Vorbereitung eines seiner letzten grossen Werke (“Les deux sources de la morale et de la réligion -, das 1932 erschien).
1914 hatte die katholische Kirche Bergsons Werke auf den Index gesetzt, obwohl Bergson, der jüdischer Herkunft war, sich dem Katholizismus immer mehr näherte. Die Taufe aber wies er von sich. 1937 hielt er in seinem Testament fest, dass er “konvertiert hatte, hätte er nicht die seit Jahren sich vorbereitende enorme Welle des Antisemitismus gesehen, die im Anrollen war. Er wollte bei jenen bleiben, hielt er fest, die morgen verfolgt würden”. Bergson blieb es nicht erspart, noch den gelben Stern tragen zu müssen und sich so, 82jährig, als Jude registrieren zu lassen. Er starb 1941 im besetzten Paris.
Bergson kritisiert in seinem Werk, aus dem wir einen Auszug lesen, dass die zeitlichen Momente wie räumliche gemessen werden, dass die Unterschiede zwischen ihnen zu rein quantitativen reduziert werden, während sie tatsächlich qualitative seien, nämlich von verschiedener Intensität. Zeitunterschiede seien nicht Gradunterschiede, sondern Wesensunterschiede. Doch der übliche Zeitbegriff werde über den Raumbegriff konstruiert. Dadurch würden Zeitunterschiede zu Zeitintervallen gemacht, die behandelt würden, als hätten sie räumlichen Charakter, das heisst als könnte deren Differenz gemessen werden, wie die Unterschiede der Dinge im Raum gemessen werden. Für Bergson aber ist das eigentliche Zeitphänomen die Zeit, die gelebt wird, die gelebte Zeit. Die sich folgenden Bewusstseinszustände können jedoch nicht wie je gleiche Perlen auf einer Schnur aufgereiht oder wie Zeitpunkte auf einer Zeitlinie nebeneinander gereiht werden. die Verschiedenheit ist von innerer Art, und die verschiedenen Bewusstheitszustände durchdringen einander und begründen einander zu einer Ganzheit, zu einem zusammenhängenden Verlauf, vergleichbar den Tönen eines Musikstücks, die als Ganzes wirken, bei dem nicht die einzelnen Töne gehört und nacheinander registriert werden.
Bergson nennt das ursprüngliche Zeitphaenomen das “Dauern” (la duree). Zeit wird über das Bewusstsein erlebt, das Synthesen oder Zusammenhalte herstellt, wobei die aktuell erlebte Zeit ständig mit der vergangenen zusammengehalten wird, die so verlängert und erhalten wird. Gleichzeitig ist das Bewusstsein eine Vorwegnahme (une anticipation) der Zeitmomente, die noch kommen, es ist eine ständige Bewegung nach vorn. Diese Vorwegnahme nennt Bergson “l’élan de la conscience”. Ein Beispiel hierfür sieht er in der antizipierenden Sinnkonstruktion, sobald wir einen Satz zu hören oder zu lesen beginnen. In diesem Sinn versteht Bergson die ganze Existenz als ein “konkretes” Dauern. Das Dauern ist somit nicht,eine Eigenschaft, die zur Existenz hinzukommt, sondern diese selbst: als Erleben, als Bewahren der erlebten Zeit, als Vorwegnahrne der kommenden.
Verdichtung, die wir auf diese Weise erleben, erfolgt in unseren Entscheidungen. Die Erinnerungskraft bekommt dadurch eine grundlegende Bedeutung. Für Bergson ist sie nicht eine Fähigkeit (faculté), von der wir Gebrauch machen können oder nicht, sondern unsere Existenz erklärt sich in der Freiheit des Entscheidens und Handelns genau aus dieser Akkumulation von Erfahrung.
Das eigentliche Dauern ist hiermit das Andauern des Bewusstseins durch ständige qualitative Veränderungen hindurch. Das heisst, allein diese qualitativen Veränderungen bewirken das Andauern des Bewusstseins. Hierin besteht die eigentliche Neuerung Bergsons: dass etwas, das sich selbst bleibt, nur sich selbst bleibt, indem es von sich selbst verschieden ist, indem es sich ständig – qualitativ – verändert. Dauern bedeutet somit Bewahren wie Entstehen von Neuem. Vergangenheit entsteht nur durch Entstehung eines Neuen, wobei das Neue immer schon eine Verlängerung des Vergangenen in sich trägt. Das Dauern des Bewusstseins ist ein ständiges Sich-von-sich- selbst-unterscheiden. Nach Bergson gibt es kein Ich, das, ohne sich zu verändern, sich wie ein roter Faden durch die einzelnen Veränderungen hindurchzieht. Das Ich ist vielmehr sein Dauern und zugleich ein ständiges sich Verändern.Veränderung bewirkt, dass das Ich sich selbst bleibt und zugleich zu sich selbst wird. In dieser Hinsicht heben wir eine grosse Nähe zum Existenzverständnis verschiedener Existenzphilosophen (z.B. Gabriel Marcel, Emmanuel Mounier, Maurice Merleau-Ponty).
Bergsons Kritik richtet sich gegen die ganze herkömmliche metaphysische Tradition, in der die lebendige Wirklichkeit – das Werden, die Veränderung, die Bewegung – zumeist einem starren Substanzbegriff oder einer mechanistischen Anschauungsweise untergeordnet werden.
Welches ist die Bedeutung der Freiheit in Bergsons Zeitverständnis? Bergson bringt Freiheit in eine Gleichung mit dem Neuen, das im Dauern – mithin im Bewusstsein – ständig entsteht, als ein “Zeugen” des Neuen, als Werden, das nicht ohne Freiheit zu erklären ist. Bergson zufolge lässt sich Freiheit durch die Übereinstimmung zwischen dem Handeln und unserer Persönlichkeit erklären, wie “jene undefinierbare Ähnlichkeit, die sich zuweilen zwischen einem Kunstwerk und seinem Schöpfer findet”, ein Verhältnis, das nicht näher definiert werden kann, gerade weil es sich ja um dasjenige handelt, das zwar “un fait” ist, etwas unmittelbar Gegebenes, eine Tatsache, über die sich aber nichts Näheres sagen lässt.
Trotzdem: Wie lässt sich das Dauern – und im Dauern die Freiheit – erfassen? Indem wir uns dem im Bewusstsein unmittelbar Gegebenen zuwenden. Dazu bedarf es einer bestimmten Methode: der Intuition. Die Intuition ist – bei Bergson – als Selbstbefassung des Ich zu verstehen, das sich selbst so “sans réfraction”, ohne Brechung, ohne Vermittelndes gegeben ist. Als Vermittelndes versteht Bergson die äussere Welt, das oberflächliche Ich, das in die Welt involviert ist. Doch dank der Intuition erfährt sich das Bewusstsein in direkter Erfahrung so, wie es unmittelbar ist. Auch die Freiheit kann nur im unmittelbaren Zugang erfasst werden. (Durch die Gegenüberstellung von “innerem” Ich und “äusserem” Ich wertet Bergson die Räumlichkeit und die Tatsache, dass das Ich immer auch im Raum existiert, auf merkwürdige Weise ab. Diese Art der Geringwertung der Räumlichkeit wird Bergson in seinem nachfolgenden Werk “Matière et mémoire” einigermassen korrigieren. Er wird hier einen Begriff des Körpers entwickeln, in der Untersuchung des Verhältnisses von Körper und Bewustsein, der das Zentrum des Wahrnehmens und Handelns ist. Er wird auch feststellen, dass es für das Innen und Aussen ein “gemeinsames Feld” gibt die praktische Welt, die Geschichte, die Sprache.Dadurch aber, dass er die Trennung zwischen einem “inneren” und einem “äusseren” Ich festhält, dass er auch den anderen Menschen als der äusseren Welt zugehörig betrachtet, zeigt sich eine weite Entfernung zur Existenzphilosophie auf. Eigentlich gründet der Vorwurf des Solipsismus, der der Existenzphilosphie immer wieder gemacht wurde, in Bergsons Philosophie. Auch Geschichte reduziert sich bei ihm eigentlich auf das unabsehbar Neue, das dank der Freiheit des Einzelnen immer wieder zustandekommt, mithin auf einen inneren Prozess in einer ständigen Unabgeschlossenheit. Selbst die Sprache ist für Bergson ein Instrument der Verfälschung des Inneren, da sie sich ja allgemeiner Begriffe, von allen benützter Begriffe bedient, die dem Besonderen der inneren Erfahrung nicht gerecht werden können.
Dank der Intuition können wir, sagt Bergson, das unmittelbar Erlebte (le vécu) als die innere Verschiedenheit zum vorher Gelebten erfassen. Dank der Intuition ergibt sich die Differenz zwischen dem, was als “Gegenwart” eben erlebt wurde und was als Vergangneheit auch erlebt wurde, aber qualitativ weiter zurückliegt (d.h. allein zeitlich und nicht räumlich, wie die Art der Aussage den Eindruck erwecken könnte). Das Bewusstsein, das selbst “dauert”, nimmt das Dauern als die konkrete Zeit – als das unmittelbar Gegebene – wahr. – Das Bewusstsein ist somit für Bergson die “Instanz” der Zeiterfassung, die Intuition die “Methode”. Wahre Erkenntnis hat mit dem unmittelbar Gegebenen zu tun. (In gewisser Weise findet sich hier eine Verwandtschaft mit Husserl, doch auch wieder nicht, da Husserls Phaenomenologie sich ja gerade mit den Wesenform, “zurück zu den Sachen”, befasst).
lies auch: “Plädoyer für Entschleunigung – Wie ein innovatives Zeitmanagement aussehen müsste”. Artikel erschienen im CASH vom 24. April 1992