„Jeder Wunsch wird Frivolität genannt“ – Was ist Selbstbestimmung, was Fremdbestimmung?

„Jeder Wunsch wird Frivolität genannt“

 Was ist Selbstbestimmung, was Fremdbestimmung?

Vortrag bei der Vereinigung der Berner Berufsfrauen, 1. Dezember 1999

 

Verehrte Damen

 

Sie wissen aus eigener Erfahrung, dass es für Frauen nicht selbstverständlich ist, einen Weg zu gehen, den sie in voller Autonomie wählen. Wir werden uns fragen, was „Autonomie“ überhaupt heisst. Die Hindernisse und Erschwernisse, die heute noch bestehen, erklären sich zumeist aus familiären und persönlichen Konstellationen, die zum Teil nach wie vor als von Aussen wirkende Einflüsse wirken, zu einem grossen Teil jedoch auf Grund einer innerpsychischen Dynamik. Wir werden uns diesen Einflüssen und Prozessen widmen. Zuerst aber möchte ich einen kurzen Rückblick vornehmen, bei welchem ich mit einzelnen Beispielen aufzeigen möchte, dass immer auch Überschreitungen der restriktiven gesellschaftlichen Bedingungen vorkamen.

 

  1. Ausnahmen in Zeiten der Engdefinition

Während Jahrhunderten waren Frauen durch gesellschaftliche Tabus, durch standes- und erziehungsbeeinflusste Vorurteile, durch geschlechtsbedingte Engdefinitionen und Diskriminierungen auf diejenigen Rollen und Tätigkeiten eingeschränkt, die ihnen das Patriarchat und das davon abhängige Weiblichkeitsideal und Frauenbild offenliess. Diese Rollen und Tätigkeiten waren zumeist ausschliesslich definiert durch die Bedürfnisse der Männer, ob im Bürgertum, wo die Bedürfnisse und Entfaltungswünsche der Frauen als Anmassung, Unschicklichkeit oder als „Frivolität“ galten, wie Rahel Varnhagen zu Beginn des letzten Jahrhunderts in einem ihrer Briefe klagte, oder ob in den armen Schichten der Bevölkerung, die vom späten 18. Jahrhundert an, vor allem ab dem beginnenden 19. Jahrhundert durch die expandierende Industrie zur Arbeiterschaft, resp. zum Proletariat wurde, wo noch „der am meisten unterdrückte Mann ein anderes Wesen unterdrücken kann: seine Frau. Sie ist die Proletarierin ihres eigenen Proletariats“, wie eine kämpferische Denkerin und Schriftstellerin, die französisch-peruanische Flora Tristan, in ihrem 1843 erschienen Werk „Arbeiterunion“ schrieb, worin sich frühsozialistische Kapitalismuskritik und frühfeministische Patriarchatskritik verbanden. Am meisten Autonomie konnten die Frauen einerseits im Handel und Gewerbe ausüben, andererseits in der Landwirtschaft, doch auch diese Tätigkeiten wurden zumeist weniger auf Grund einer freien Wahl, sondern aus der Not und den Zwängen der Lebenssituation als Aufgabe übernommen, dann allerdings nicht selten mit Erfolg.

Aus der Notwendigkeit, selber den Lebensunterhalt zu bestreiten, erwuchs den Frauen, lange vor der politischen Emanzipation, eine Möglichkeit der eigenen privaten Emanzipation, resp. des selbst bestimmten Lebens. Wirtschaftliche Unabhängigkeit war eine massgebliche Voraussetzung, um, gerade bei früher Witwenschaft, eine unliebsame (Wieder)Verheiratung und dadurch eine eventuell demütigende persönliche Abhängigkeit zu verhindern. Es gibt seit dem Spätmittelalter eine ganze Reihe von Beispielen, die beweisen, dass gerade in existentiellen Notsituationen Frauen sich ihrer Fähigkeiten bewusst wurden und diese erfolgreich umzusetzen vermochten, lange vor jeder feministischen Theorie. So tat es Elisabeth Baulacre aus Genf, die nach dem Tod ihres Ehemannes eine Werkstatt für die Herstellung von Gold- und Silberfäden, die in der Seidenweberei gebraucht wurden, aufbaute und so erfolgreich führte, dass das Unternehmen bei ihrem Tod im Jahre 1693 eines der ertragreichsten in der wirtschaftlich aufblühenden Rhonestadt war.

Und so tat es Glückel von Hameln, die auf ihre Weise versuchte, Tradition und selbst bestimmtes Leben zu vereinbaren. Es bestehen gute Kenntnisse über ihr Leben, da sie selber im Jahre 1691, mit 46 Jahren, begann, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, nachdem zwei Jahre zuvor ihr Ehemann Chaijm (der) von Hameln (kam) gestorben war, der vor seinem Tod aber dem Rabbi klargemacht hatte, dass seine Frau keines Vormunds bedürfe. „Meine Frau, die weiss von allem. Lasst sie tun, wie sie vordem zu tun gepflegt”, soll er gesagt haben. So wurde Glückel zur selbständigen Händlerin und Geldleiherin, wohl eine der ersten Frauen überhaupt, von denen wir wissen, dass sie und wie sie ohne männliche Hilfe ihr Geschäft führten. Glückel war noch erfolgreicher als ihr verstorbener Ehemann, sie fuhr sogar ins Ausland auf Messen, sie hatte eine Strumpffabrik und ein eigenes Gewölbe zur Lagerung der Waren. Gleichzeitig  sorgte sie dafür, dass alle ihre Kinder, auch die Töchter, lesen, schreiben und rechnen lernten wie sie selbst. Nachts hielt sie fest, was sie, zum Teil noch zu Lebzeiten ihres Mannes,  erlebt und entschieden hatte, aber auch was sie sich überlegte und was sie ihren Kindern an Wissen weiterzugeben wünschte. Damit entstand mit ihren Aufzeichnungen, die 1910 von Berta Pappenheim („Anna O.“ in Freuds und Breuers „Studien über Hysterie“ von 1895) als „Memoiren der Glückel von Hameln“ ins Deutsche transkribiert und in einer limitierten Auflage veröffentlicht wurden, nicht nur das spannende Zeugnis eines unerschrockenen Frauenlebens, sondern zugleich eine wichtige Dokumentationsquelle für das damalige jüdische Leben in den norddeutschen Städten. Glückel starb mit fast achtzig Jahren bei ihrer Tochter Esther. Sie war in Frieden alt geworden, bis auf eine Enttäuschung. Nach elf Jahren erfolgreicher Witwenschaft hatte sie wieder geheiratet, einen damals angesehenen Bankier. Doch der Bankier ging pleite und starb, und sie, die ihr ganzes Vermögen vertrauensvoll in dessen Geschäft eingebracht hatte, war zum Schluss allein noch auf die Fürsorge ihrer Kinder angewiesen.

Dass es in der Nachfolge Glückels von Hameln schon im 17. und 18. Jahrhundert immer wieder vorkam, dass sich gerade jüdische Frauen nicht nur um den Haushalt, sondern auch ums Geldverdienen kümmern mussten, erklärt sich nicht nur durch frühe Witwenschaft, sondern auch aus der Tatsache, dass sich die Männer häufig auf das Thorastudium und den Austausch unter Gelehrten zurückzogen. Eine unter ihnen war Chaile (Karoline) Kaulla, 1739 in Buchau in Oberschwaben geboren, aus einer wohlhabenden und fortschrittlichen Familie. Nachdem sie mit achtzehn Jahren Akiba Auerbach geheiratet und eine Schar Kinder auf die Welt gesetzt hatte, sah sie ein, dass sie für diese auch sorgen musste, da sich ihr Ehemann ganz dem religiösen Studium widmete. So führte sie zusammen mit ihrem Bruder das Handelshaus Kaulla, vertrat dieses als Chefin gegenüber Landesfürsten und Geschäftspartnern, weitete es vom Pferde- und Warenhandel zum Bankhaus aus (das bis 1924 bestand, als die Bank Kaulla im Lauf der grossen Depression in der Deutschen Bank aufging), wurde Königlich Würtembergische Hofbanquière und erhielt schliesslich 1807, zwei Jahre vor ihrem Tod, vom Haus Habsburg die „grosse goldene Ehrenkette mit Medaille“. Immer blieb sie dabei eine fromme Frau im traditionellen Sinn, gesetzestreu und wohltätig, und unterstützte mit ihrem Vermögen zahlreiche karitative Einrichtungen.

Immer auch gab es Frauen, zum Teil seit dem Mittelalter in den Klöstern, die in der Kunst, etwa in der Musik, in der Literatur oder in der Malerei, sich einen eigenen Weg schufen. Eine universitäre Ausbildung und eine intellektuelle Tätigkeit in der Welt, bei der es um die Macht des Wissens und um öffentliche Autorität ging, waren dagegen bis zu Beginn dieses Jahrhunderts kaum vorstellbar und setzten sich nur selten gegen grosse Widerstände durch.

Das früheste mir bekannte Beispiel einer Frau, dies ich mit Schreiben ihren Lebensunterhalt und den ihrer Kinder sichern konnte, ist Christine de Pizan. Aus ihren zahlreichen Werken ist das „Buch von der Stadt der Frauen“ zu erwähnen, das erstmals 1405 erschien, eine Art witziger, heute noch lesenswerter Utopie. Christine de Pizan kam 1365 in Venedig zur Welt und wuchs am Hof des französischen Königs Karl V. auf, wo Christines Vater als  Astrologe wirkte. Der Vater förderte ihr Lern- und Wissensbedürfnis nach Möglichkeit, konnte aber nicht verhindern, dass sie standesgemäss mit fünfzehn Jahren verheiratet wurde, im Jahre 1380, in guter Ehe, wie sie selber festhielt,  mit dem um zehn Jahre älteren Etienne du Castel, der am Hof als königlicher Sekretär angestellt war. Noch im Jahr der Eheschliessung starb der gute König Karl V., und das Land wurde von Nachfolgekämpfen erschüttert. Sieben Jahre später verschied Christines Vater und wiederum drei Jahre später ihr Ehemann, so dass sie sich gezwungen sah, den Lebensunterhalt für sich und ihre drei Kinder selber zu verdienen. Sie begann zu schreiben, und war vermutlich die erste Frau, die als erfolgreiche Schriftstellerin galt und die vom Schreiben leben konnte. Neben Lyrik, Geschichtsbüchern, Lehrgedichten, Streitschriften und politischen Traktaten verfasste sie, vermutlich wiederum als erste Frau, Bücher für Frauen und über Frauen.

Schon von der Mitte des 18. Jahrhunderts an, vor allem dann im 19. Jahrhundert gab es zahlreiche Frauen, welche die Postulate der Aufklärung, die von Kant als „Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zusammengefasst wurden, ernst nahmen, für sich beanspruchten und vor allem mittels der Sprache, als Schriftstellerinnen und Dichterinnen, umsetzten, um sich gegen die Einschränkungen, die ihrem Geschlecht auferlegt waren,zu wehren, um Anerkennung zu erreichen und um gesellschaftlich Einfluss auszuüben. Allein im deutschen Sprachraum gibt es eine grosse Reihe von Frauen, deren Werke heute noch berühren, etwa Rahel Varnhagen, Dorothea Schlegel (geb. Brendel Mendelssohn), Henriette Herz, Caroline Schlegel, Bettina von Arnim, Karoline von Günderode, die wiederum mit Musikerinnen im Austausch standen, etwa mit Clara Schumann Wieck, Fanny Mendelssohn u.a. m. Vergleichsweise ähnlich entwickelten sich nach der Französischen Revolution aus einer mit der bürgerlichen und jüdischen Emanzipation verbundenen Salonkultur in Frakreich, in England und in anderen Ländern Möglichkeiten einer Frauenemanzipation avant la lettre über den gelehrten Diskurs, über Belletristik, Übersetzungen, Sachbücher und andere Literatur.

 

  1. II) Autonomie: sich das Eigene selber zuteilen

Was bedeutet Autonomie, so wie sie sich bei diesen und bei einer grossen Anzahl weiterer Frauen gegen grosse Widerstände durchsetzte? „Autonomie“ hat, wenn der ursprüngliche griechische Wortsinn ernstgenommen wird, tatsächlich die Bedeutung, die in den sogenannten „Jugendunruhen“ gemeint war, als „autonome Kulturzentren“ gefordert wurde. „Nomos“ ist vom Verb „nemein“ abgeleitet, das „zuteilen“ und „zukommen lassen“ bedeutet, sodass „nomos“ in erster Linie „das Zugeteilte“ und erst in einer weiteren Bedeutung „das Gesetz“ heisst. Interessant ist, dass vom gleichen Verb nicht nur „nomos“, sondern auch „nemesis“ stammt, was „gerechter Tadel“ oder „Zorn“ bedeutet und in der griechischen Mythologie in der Gestalt der „Nemesis“, der Göttin der Vergeltung“, personifiziert wurde. Tatsächlich zeigte es sich in der Geschichte immer wieder, dass das Streben nach Autonomie sowie Zorn und Strafe nah beieinander sind, geht es doch beim „Zuteilen“ um nichts Geringeres als um Macht, resp. um die Fähigkeit, selber Entscheide zu treffen, das Handeln zu bestimmen und aus eigener Kompetenz, in Absprache mit anderen, die Verhältnisse zu ordnen. Gerade die Jugend, die in vielerlei Hinsicht nicht nur von den Eltern, sondern von der Erwachsenengesellschaft überhaupt abhängig und dadurch Objekt einer – äusserlich fast alles umspannenden und fast alles bestimmenden – Heteronomie ist, spürt, wie sehr ihr Bedürfnis, ihre eigene Handlungsfähigkeit auf die Probe zu stellen, auf den angstbesetzten Widerstand der Machthabenden stösst. Und da dieser Widerstand sich im Besitz von Mitteln weiss, von Geld wie von jeder Art von „Waffen“, werden diese Mittel eingesetzt, rücksichtslos und unverhältnismässig, um das Autonomiestreben zu brechen. Dies eben ist Gewalt. Gewalt kann zumeist kurzfristig das, wozu sie eingesetzt wird, erreichen, doch längerfristig erweist sie sich als Mittel des Verlusts und der folgenschweren Destruktion, ob sie sich gegen Kinder und Jugendliche oder gegen ganze Völker wende. Der Kampf um Autonomie, den die albanischen  Kosovari gewaltfrei zu führen gedachte, den sie aber infolge der serbischen Macht- und Gewaltstrategien mit der traumatisierenden Vertreibung ihrer Bevölkerung und Tausenden von Toten bezahlten mussten, und der nun auch auf ihrer Seite in einen verhängisvollen, gewaltbesetzten Revanchismus und Nationalismus abgeglitten ist, ist ein jüngstes Beispiel der unheilvollen Verstrickungen der Bedeutungen von „nemein“.

Autonomie zu erlangen, das wird nicht allein durch äussere Widerstände und Verhinderungen erschwert. Beim einzelnen Menschen ordnen sich alle Lernprozesse in das Streben nach Autonomie ein, aber immer wieder lässt sich feststellen, dass Angst und Selbstzweifel, Selbstherabsetzung oder Selbstüberschätzung, Gewissensbisse und Fehlentscheide mögliche Schritte hemmen, die zu mehr Selbständigkeit oder zu einem freieren Handlungsspielraum führen könnten. Das Unbewusste stellt dem freiheits- und tätigkeitshungrigen Ich ein Bein und beweist dadurch, dass es der Herr – oder die Herrin – des vorweg gelebten Lebens ist, sowohl in der Wahl der Freunde und Freundinnen, der Partner und Partnerinnen wie in den Ausbildungs- und Berufsentscheiden. Die meisten Fortschritte in der Persönlichkeitsentwicklung kommen dadurch zustande, dass wir an Grenzen stossen, dass wir mit Unbehagen, Enttäuschungen oder Misserfolgen konfrontiert werden, dass der Leidensdruck so gross wird, dass wir innehalten, nachdenken und uns neu ausrichten müssen. Genau hierin zeigt sich die eigentliche Bedeutung von Autonomie. Ohne dass die ganze Komplexität der äusseren, heteronomen Bedingungen, die unser Leben bestimmen, verändert werden können – von den Zeitbedingungen an einem bestimmten Platz in der Welt, an einem bestimmten Ort, zu den Bedingungen des Alters, der Körperkräfte, der materiellen Begleitumstände und vielem mehr -, sind wir in der Lage, uns auf die vielfältigen Kräfte, über die wir verfügen, zu besinnen und sie so einzusetzen, dass wir die Qualität des gelebten Lebens bejahen können, sowohl der Beziehungen, in denen wir stehen wie der Erfüllung der beruflichen Anforderungen oder der gesellschafltichen und politischen Aufgaben. Die uns gestellt sind. Die Fähigkeit zur Veränderung unbefriedigender, eventuell sogar krankmachender Lebensformen oder Tätigkeiten lässt sich jedoch nur aktivieren, wenn in Pausen der Rückbesinnung das Ziel des ursprünglichen Strebens wieder bewusst gemacht werden kann.

 

  1. Ist der Weg das Ziel?

Was ist dieses Ziel? Bezeichnen wir es als Glück (obwohl Freud in einem seiner kulturkritischen Essays festhält, Glück sei in der Schöpfung nicht vorgesehen)? Aber was verstehen wir darunter? Übereinstimmung mit sich selber und inneren Frieden, gelingende Beziehungen, das Gefühl des Erfolgs, öffentliche Anerkennung, materielle Sicherheit und damit Freiheit von materieller Not? Was das Ziel auch sei, ich möchte einen Blick auf das Streben lenken, das die Ausrichtung auf das Ziel beflügelt. Das Streben, das ich als den dynamischen Aspekt der Autonomie verstehe, ist das, was in der antiken Philosophie als „Eros“ verstanden wird.

Was aber ist der Eros? Platon schildert im „Symposion“, wie eine Reihe von Freunden sich mit Meinungen und Mutmassungen überbieteen. Da schaltet sich Sokrates ein und verwirft alle diese Meinungen. Diotima, seine weise Lehrerin, bezeichnet den Eros als „Daimon“, d.h. als eine geistige Kraft, die sowohl göttlich wie menschlich ist, die aus der Verbindung von Penia, der Personifikation der Not, des Mangels und der Bedürftigkeit, mit Poros, dem göttlichen Wegefinder (cf. „Aporie“) entstanden ist, anlässlich des Geburtsfestes der Aphrodite, zu welchem Penia wegen ihrer Schäbigkeit nicht geladen war, Poros aber wohl. Als sich dieser nach dem Fest, berauscht vom Nektar, im Garten des Zeus im Schatten eines Baumes erholte, legte sich Penia neben ihn und empfing den Eros. Eros ist daher, gemäss der Natur seiner Eltern, „immer arm und bei weitem nicht fein und schön, wie die meisten glauben, vielmehr rauh, unansehnlich, unbeschuht, ohne Behausung, auf dem Boden herumliegend une unbedeckt, schläft vor den Türen und auf den Strassen im Freien und ist der natur seiner Mutter gemäss immer der Dürftigkeit Genosse. Und nach seinem Vater wiederum stellt er dem Guten und Schönen nach, ist tapfer, keck und rüstig, ein gewaltiger Jäger, allezeit Ränke schmiedend, nach Einsicht strebend, sinnreich, sein ganzes Leben philosophierend, ein arger Zauberer, Giftmischer und Sophist, und weder wie ein Sterblicher geartet noch wie ein Unsterblicher“[1]

Diese Geschichte sagt sehr viel über die Kraft aus, die das menschliche Streben nach Autonomie kennzeichnet. Sie ist ungebärdig und rücksichtslos, sehr ursprünglich, und sie versucht, sich mit allen Mittel, mit Eifer und mit Kenntnissen, mit Tricks und mit Charme, durchzusetzen,  immer in Hinblick auf ein hohes Ziel, das im platonischen Text als „das Gute“ oder „das Schöne“ genannt wird.

Freud versteht den Eros in einem nahen Bedeutungszusammenhang mit der Libido, d.h. der ursprünglichen Lebenskraft und Lebenszustimmungskraft, die zum Menschsein des Menschen gehört, die ihm jedoch, stärker oder geringer, aus den ersten Beziehungserfahrungen zuwächst und die sich je nach der Qualität und der Intensität dieser frühen und den daraus erfolgenden Erfahrungen auf Objekte oder  Ziele ausrichtet, die, wie Freud in einem seiner Essays schreibt, im Positiven oder in der Umkehrung den „Erinnerungsspuren“ folgt[2], welche die ersten guten oder enttäuschenden „Vorbilder“ im Unbewussten zurückgelassen haben. Sowohl die Berufswahl wie die Wahl der Liebesobjekte folgt diesen „Spuren“, in der Wiederholung oder in der Umkehrung, je nachdem, in einem ich-stärkenden Sinn oder in einem ich-schwächenden oder gar destruktiven Sinn. Da wo die zerstörerischen, ich-feindlichen Kräfte überhandnehmen, die in einer verhängnisvollen Weise die Befriedigung der Lebensbedürfnisse zu verschaffen vorgeben, spricht  Freud vom Destruktions- oder Todestrieb. Die Dualität von aufbauenden, lebenszustimmenden kräften und von zerstörerischen erkennt er jedoch nicht nur beim einzelnen Menschen, sondern auch bei den Völkern. Die Entwicklungsstufe in deren Geschichte hat wiederum einen direkten Einfluss auf die individuelle Entwicklung der einzelnen Menschen. In einem seiner späten Essays, „Das Unbehagen in der Kultur“ von 1929/30, in dem er nicht nur die individuellen, sondern auch die kollektiven Folgeerscheinungen von schlecht kompensierten Versagungen und von irregeleiteten Befriedigungen untersucht, spricht er von der Libido als Name für die „Kraftäusserungen des Eros, um diese von der Energie des Todestriebs zu sondern“. In der Folge bezeichnet er die Kultur als Prozess im Dienst des Eros, d.h. als Summe der Bestrebungen, den Destruktionstrieb nicht nur unter Kontrolle zu halten, sondern ihn so zu verändern, dass er sich in Dienst des kreativen, vielseitigen Zusammenlebens stellt. Diesem „Programm der Kultur aber widersetzt sich der natürliche Aggressionstrieb der Menschen (…), der ein Abkömmling und Hauptvertreter des Todestriebs ist, den wir neben dem Eros gefunden haben, der sich mit ihm in die Weltherrschaft teilt. (…) Und diesen Streit der Giganten wollen unsere Kinderfrauen beschwichtigen mit dem ‚Eiapopeia vom Himmel‘!“[3] Freud warnt also vor simplizistischen Beschwichtigungen. Er nennt das Destruktionstrieb auch „das Böse” und stellt fest, dass es „oft gar nicht als das dem Ich Schädliche oder Gefährliche“ erscheint, sondern „im Gegenteil auch als etwas, was ihm erwünscht ist und ihm Vergnügen bereitet“.[4] Was aber „gut“ und „böse“ ist, liegt nicht zum vornherein

Sie mögen sich fragen, was ich mit diesem Exkurs ins kollektve Geschehen bezwecke. Ich möchte damit klarmachen,  dass die gesellschaftlichen Kräfte und Strömungen, das Zeitklima, in starkem Mass die eigenen Entscheidungsmöglichkeiten beeinflussen, sowohl auf der Gefühlsebene wie auf der Urteilsebene. So entsprach es in der Generation meiner Mutter, zum Beispiel, einem weitverbreiteten Konsens, dass für eine Frau eine schlechte Ehe der Ehelosigkeit weitaus vorzuziehen war. Das würde heute kaum jemand mehr vertreten. Unverheiratet zu bleiben oder geschieden zu sein, ist heute gesellschaftlich kein Makel mehr. Zwar sind die Erwerbs- und Lebensverhältnisse vielleicht nach wie vor weniger gesichert, aber in Bezug auf Achtung und auf Aufstiegschancen ist der Zivilstand kaum mehr massgeblich. Je nach dem Selbstbild – dem Selbstwertbild – aber, das dem kleinen Mädchen in der Übertragung des Mutterselbstbildes vermittelt wird, und das durch die stärkende oder entwertende Identifikation mit der Mutter allmählich entsteht, durch die Rolle, die sie im Verhältnis zum Vater und im Verhältnis zur übrigen Familie spielt, das sich auch durch das Verhältnis zum – so oder so erfahrbaren, beziehungsmässig anwesenden oder abwesenden –   Vater weiterentwickelt, sodann im Verhältnis zu den Geschwistern, also je nach den frühen Entwicklungsphasen des Ich- und Selbstwertgefühls mag ein unabhängiges, selbständiges Leben auch heute noch als Mangel – als Beziehungsmangel – oder als Genugtuung empfunden werden. Die ganze Palette der inneren „Fremdbestimmung“, die sich im Unbewussten abspielt, sich jedoch in den Beziehungs- und Berufsentscheiden zeigt, bleibt häufig unbeachtet, solange sie nicht zu persönlichem Leiden oder zu schwierigen Krisen führt. Es gehört zur Tragik der menschlichen Existenz, dass der Weg zum besseren Wissen über sich selbst fast unabdingbar mit Leiden verknüpft ist. „Par la souffrance à la connaissance“ galt, seit Aïschylos und von neuem seit der Entdeckung der Pschoanalyse, als Weg zum bewussten Wissen, damit auch als Weg zum Einverständnis mit sich selbst, zur Zustimmung zu sich selbst, letztlich zur Freiheit. Ob in den persönlichen Beziehungen oder im Beruf, der Weg ist nie ein für allemal gesichert. Poros, Penia und Eros gehören zusammen, in der Zeitlichkeit und in den vielfachen übrigen Bedingungen jeder Existenz. Dies anzunehmen lässt eventuell der Selbstbestimmung einen grösseren, spielerischeren Spielraum zu. Wenn wir einmal „unbeschuht“ daherkommen, müssen wir uns selber nicht mehr beirren lassen dadurch, sondern wissen, dass dies den Eros kennzeichnet und auszeichnet, der unser innerster Begleiter ist auf dem Weg zu einer möglichst umfassenden Autonomie.

 

 

[1] Platon. Werke. Symposion. Übersetzung von Friederich Schleiermacher. 202e bis 203e.

[2] Der Begriff der „Erinnerungsspur“ wird von Freud nach zahlreichen gründlichen Abhandlungen zur Libido in einem kleinen Essay verwendet, das unter dem Titel “Zur Psychologie des Gymnasisten“  im Band Psychologische Schriften der Gesammlten Werke erschienen ist.

[3] Sigmund Freud. Das Unbehagen in der Kultur. 1929/30. Studienausgabe S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1974, S.248/49

[4] a.a.O., S.251

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