Konzeptnotizen für das Gesspräch bei Pro Helvetia am 7. 2. 1997

Konzeptnotizen für das Gesspräch bei Pro Helvetia am 7. 2. 1997

 

Die Schweiz befindet sich in einer politischen Handlungsaporie. Sie weiss nicht mehr weiter. Seit Jahrzehnten hat sie ein Selbstbild konstruiert, das sich als falsch erweist. Es bleibt kein Rest mehr vom heldischen Mythos. Weder war sie wirklich humanitär noch rechtschaffen neutral noch erfolgreich wehrhaft – im Gegenteil. Sie hat sich im Vorfeld und während des letzten Kriegs so anpasserisch, profitorientiert und menschlich schäbig verhalten haben, dass heute von offizieller Seite her von Schuld gesprochen werden muss. Der Grossteil der Bevölkerung reagiert darauf störrisch. Das Zerbröckeln der Mythen bewirkt eine Identitätskrise, die einhergeht  mit Rezession und wachsender Arbeitslosigkeit, mit den Verarmungsängsten auch des Mittelstandes, mit einer zunehmenden Zukunftsangst. Der sogenannte Sonderweg der Schweiz erweist sich als Sackgasse. Der heute wieder spürbar hemmungslose Antisemitismus hat, denke ich, – wie in den Dreissigerjahren – mit den bekannten verhängnisvollen Sündenbockbedürfnissen und -reflexen zu tun.

Um weiterzuwissen, muss man verstehen, warum die offizielle Schweiz (Regierung, Parlament, Behörden und Angehörige der Armee, Nationalbank) und die para-offizielle Schweiz (Industrie, Geschäftsbanken, Versicherungen, Treuhand- und Anwaltsfirmen, die ja alle ihre Interessenvertreter auch im Parlament haben), immer gestützt durch den sog. “Souverän” nicht nur damals, sondern schon vorher und bis heute sich in diese Sackgasse hineinentschieden haben. Für mich sind die folgenden Fragen zentral:

(1) Wann begann die seit langem bestehende Priorität der Wirtschaft vor der Politik und vor allem vor der Kultur? Womit hängt der Verlust des Politischen zusammen – das Aushandeln und Beschliessen aller Geschäfte und Probleme, die das Zusammenleben der vielen verschiedenen Menschen auf innovative Weise optimieren sollten, nach moralischen Kriterien, jenen der grösstmöglichen Freiheit auch der Schwächeren, somit nach Kriterien der Gerechtigkeit? Womit hängt das Überhandnehmen der Wirtschaft – das Handeln nach Kriterien der Besitzwahrung sowie der eigenen Profitmaximierung, nach – mehr oder weniger – amoralischen Kriterien, bei denen  die Interessen der Schwächeren keine Rolle spielen, wo daher Grundwerte wie Gerechtigkeit oder gar Solidarität scheinbar gerechtfertigterweise verschwinden? – Mit anderen Worten: Wann gab der politische Liberalismus vor dem Manchester-Liberalismus klein bei, der sich in einer Allianz mit konservativen, ständischen-patriarchalen Interessenvertretungen befindet? Hängt der schweizerische Konservativismus, der nicht nur Öffnungen nach Aussen verhindert hat und weiterhin verhindert, sondern auch die geistige und politische Innovation im Innern der Schweiz (Frauenstimmrecht, Ausländerrechte, Kinderrechte etc.) blockert oder gar verhindert hat,  mit dieser Allianz zusammen? – Darf sich der Wert einer Demokratie am Erfolg der Wirtschaft messen?  Welche Rolle spielt das Milizsystem unserer Parlamente, das wiederum verfilzt ist mit dem militärischen Milizsystem,  beim ständig wachsenden Misstand des Politischen?

(2) Warum kam es in der Schweiz zur massiven Diffamierung der “Linken”, worunter ich das gesamte intellektuelle, künstlerische und politische kritische Potential verstehe? Warum schufen sich die schweizerischen “Intellektuellen” nie die Möglichkeit, wirklich als zivilgesellschaftliches Korrektiv zu wirken?  Welche Rolle spielte dabei die Tatsache, dass die Arbeiterbewegung sich vor allem in der Sozialdemokratie institutionalisierte, die mit dem “Arbeitsfrieden”, mit der Einbindung in “Zauberformel” und Konsenspolitik sich selbst der Möglichkeit einer wirksamen demokratischen Opposition beraubte? Hat die institutionalisierte “Linke” selbst zur Diffamierung und Lähmung einer innovativen Linken beigetragen ( Desolidarisierung bei der jahrzentelangen “Kommunisten”hetze etc., Desolidarisierung mit Basisbewegungen etc.)? Spielt das mit, was ein- augenblicklich viel gelesener – Autor die “Unerträglichkeit der Ambivalenz” nennt, warum auch die Linke anpasserisch wurde?

(3) Wie kam es, dass “Kultur” auf so eingeschränkte Weise verstanden wird? – einerseits in Verbindung mit Geld und Besitz, resp. mit Vermögenwerten (man “leistet sich” Kultur: Gemälde, teuere Eintritte zu Starveranstaltungen in der Oper, im Konzertsaal etc), andererseits als “Tätigkeit” einer kleinen, genau definierten Gruppe von Schriftstellern/
Schriftdstellerinnen und Künstlern/Künstlerinnen – der “Kulturschaffenden”. Wie hat sich das Kulturmisstrauen des grossen Teils der Bevölkerung, die Verbindung von “Kultur” mit “subversiv” herausgebildet? Welchen Einfluss übte dabei (übt immer noch) auch wiederum das ständisch-konservative Grundmuster unserer Gesellschaft aus, das ja an den öffentlichen Gymnasien und an den Universitäten dominiert?

(4) Hat der hypostasierte Identitätsbegriff  der Schweiz die Möglichkeit pluraler, auch aktiver oppositioneller Loyalitäten verhindert? Hängt damit das Grundmisstrauen gegenüber Frauen, Juden, Ausländern, “Linken”, Intellektuellen etc. zusammen? Muss dieser konservativ besetzte Identitätsbegriff in erster Linie analysiert und zur Disposition gestellt werden, damit ein Weg aus der heutigen Aporie gefunden werden kann?

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