Pestalozzi und der leere Sockel – Kleine Rede am 5. Juni 1999 im Rahmen von „Transit“
Pestalozzi und der leere Sockel
Kleine Rede am 5. Juni 1999 im Rahmen von „Transit“
Meine Rede wendet sich an die Jugendlichen, die sich hier auf der Pestalozziwiese aufhalten, ob sie zufällig oder verabredet hier seien, ob nur gerade an diesem Samstgnachmittag oder an jedem Samstag.
Ich weiss nicht, warum ihr euch gerade diesen Treffpunkt aussucht. Wahrscheinlich kaum wegen Pestalozzi, dessen Sockel nun leer steht. Wie ihr gehört habt, war er ein bedeutender Erzieher, der selber als Kind harte Zeiten gekannt hatte, dessen Vater früh gestorben war, dessen Vorfahren wiederum aus Italien eingewandert waren und der Zeit seines Lebens überall, wo er war, ein Aussenseiter blieb, auch wenn er sich als Schriftseller und Erzieher einen Namen machte. In der Schweiz wurde er zu einem Mythos, im Ausland ist sein Bekanntheitsgrad schon viel geringer, in der grossen Philosophiegeschichte Bertrand Russels, zum Beispiel, wird nicht einmal sein Name erwähnt. Wichtig für ihn war, der Verwahrlosung – dem Wildwuchs – der Kinder Einhalt zu gebieten, damit sie, wie die Nutzpflanzen in einem Garten, sich gerade, gefällig und ertragreich entwickeln konnten. Das war seine Absicht. Dabei ging es ihm aber auch um ein Erkunden und Ernstnehmen der Bedürfnisse der Kinder und der Jugendlichen, zumindest so, wie „ein Bauer die Bedürfnisse eines Ochsen kennen muss“, der in seinem Stall steht, wie er schrieb. Das war für die damalige Zeit – die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts – schon sehr viel. Heute, denke ich, geht es um mehr.
Ich weiss nicht, was der Begriff „Erziehung“ in Euch weckt, ich weiss nicht, ob ihr mehr Erziehung gewünscht hättet, mehr gute Vorbilder und mehr verlässliche Begleitung beim Grösserwerden und Erwachsenwerden, ob all dies zu spärlich war und ihr euch zu sehr selber überlassen wardt. Oder ob Erziehung für Euch etwas Negatives bedeutet, ob sie verbunden ist mit Drohungen, Beschämungen und Demütigungen, mit Unterwerfung, Strafen und ähnlichem. Ich weiss nicht, ob ihr wirklich spielen durftet, ob Euch erlaubt war, Euch selber und die Welt in einem geschützten Raum zu erkunden und kennenzulernen, oder ob ihr alleingelassen wurdet, ob ihr Rücksichsichtlosigkeit und Gewalt erfahren habt und Euch nach jemandem gesehnt habt, der oder die euch versteht, eure Bedürfnisse ernst nimmt, euch zuhört und euch durch das Zuhören ermutigt, dem, was für Euch wichtig ist, Ausdruck zu geben. Ich weiss nicht, ob ihr gelernt habt, euren Bedürfnissen und euren Gefühlen Ausdruck zu geben, ohne dass es für euch selber zum Schaden gerät.
Warum ist der Sockel leer? Was ist das Angebot der Denkmalwanderung quer durch die ganze Stadt? Wie könnt ihr es nutzen? Ihr könnt den leeren Sockel zum Beispiel als Klagesockel, als Klagequader benutzen, als dreidimensionale Pinwand für eure Forderungen und Wünsche an die Staadt und an die Gesellschaft, für eure persönliche Sprache.
Dass Kindheit für viele Kinder nicht eine Zeit der Unbeschwertheit, sondern eine Leidensgeschichte ist, das wusste Pestalozzi. Er wusste, dass Kinder, die im Stich gelassen werden, ob infolge von Armut oder von Gewalt und von Krieg, damals wie heute, der Verwahrlosung anheimfallen und, so dachte er, ihre Fähigkeiten nicht mehr nutzen können und daher nicht mehr nützlich sein können. „Kopf, Herz und Hand“ müssen gefördert und entwickelt werden, damit, aus seiner Sicht, nützliche Staatbürger entstehen. Ich möchte euch ermutigen, Kopf, Herz und Hände zu nutzen, um euch für eure Bedürfnisse zu wehren, für eure je persönlichen und für jene eurer Generaton, unabhängig davon, woher ihr kommt, aus welchem Land und aus welcher Religion, unabhägnig davon, welche Sprache eure Eltern sprechen und welchen politischen oder gesellschaftlichen Status ihr habt. Ich möchte Euch ermutigen, euch gegenseitig dabei zu unterstützen, mit Sorgfalt, mit Aufmerksamkeit und mit Mut, und niemanden, weil er oder sie anders ist, auszugrenzen.
Meldet euch zu Wort, benutzt die Sprache, damit ihr respektiert werdet, damit eure Bedürfnisse des Zusamenleben und des sinnvollen Lebens, respektiert werden, damit ihr Ausbildungsmöglichkeiten und Lehrstellen bekommt, damit ihr nicht zu Objekten – und damit zu Opfern – wirtschaftlicher und politischer Macht- und Marktstrategien herabgewürdigt werden. Ihr seid nicht ohnmächtig, wenn ihr lernt, das, was euch bewegt, in Sprache zu fassen und ihm Ausdruck zu geben, wenn ihr auch lernt, zu diesem Zweck einander gegenseitig stärker zu machen, Koalitionen zu bilden und euch gegenseitig aus der Vereinzelung herauszuholen.
Dazu ist dieser Sockel da. Benutzt ihn, klebt oder posticht eure Briefe an die Stadt oder an den Staat, an die Verantwortlichen in der Regierung und in den Ämtern hier an, lasst euch die Gelegenheit des leeren Sockel nicht entgehen. Es muss tatsächlich niemand drauf stehen, er soll zum Symbol – zum Zeichen – dessen werden, was für euch Mangel in dieser reichen und gut organisierten Stadt bedeutet. Nur wenn ihr euch bewegen lässs, könnt ihr selber etwas bewegen!