Journalistische Ethik oder: Was dürfen, was können, was sollen Medienleute?

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Journalistische Ethik

oder:

Was dürfen, was können, was sollen Medienleute?

 

Ia) Nach welchen ethischen Kriterien ist die Medienkampagne zu Urs Scheideggers Fahren in angetrunkenem Zustand zu beurteilen? Darf resp. muss das Delikt eines hohen Beamten, der an die Menschen in seinem Machtbereich strengste Massstäbe des regelkonformen Handelns setzt – Asylsuchende und Flüchtlinge, die bei kleinsten Verstössen des Landes verwiesen, resp. deportiert werden, wie neulich ein seit langen Jahren hier lebender Tamile, der ein Halbtaxabonnement gefälscht hat -, in der Presse anders, resp. ebenfalls strenger beurteilt werden als das Delikt eines “gewöhnlichen” Bürgers oder einer “gewöhnlichen” Bürgerin? Ist die Berichterstattung wahrheitsgetreu? – angemessen? – eventuell falsch oder verunglimpfend? Ist es zulässig, nicht nur über das vorgefallene Delikt zu informieren, sondern eine Menge anderer Informationen über diese Person zu veröffentlichen? Gibt es feste ethische Richtlinien? Wie kommt es, dass die verschiedenen Zeitungen so unterschiedlich auf den “Fall Scheidegger” reagieren?  Hat die auch mit Ethik zu tun?

Ib) Was ist Ethik? – “Ethik” ist zu verstehen als philosphisches Nachdenken über die Moral (resp. Moralen), d.h. als möglichst umfassende Reflexion  über die Maximen des Handelns und deren Rechtfertigung. Das traditionelle Verständnis von “Ethik” als Sittenlehre (ethos = Sitte, Brauch) geht auf die Antike zurück, im besonderen auf Aristoteles, der darunter die Tugendlehre verstand resp. die Lehre von der Glückseligkeit, d.h. die Lehre von einer den Tugenden gemässen Tätigkeit. Damit wurde von Aristoteles sowohl die praktische Philosophie, die auch die politische Philosophie einschliesst, wie die Moralphilosophie abgedeckt. Aristoteles machte eigentlich den ersten Schritt in die Moderne, indem er die von Platon vertretene Lehre vom Guten, die dieser als akademische, sehr idealistische, quasi abstrakte Reflexion anbot, durch den Rekurs auf die Praxis korrigierte. In der Tat ging es Aristoteles – vor allem in der Nikomachischen Ethik -, um eine Theorie des gelingenden und guten Lebens unter den Bedingungen einer Legitimitätskrise von Sitte und Herkunft, die sich im Auftreten von Paradoxien (von widersprüchlichen entscheidungs- und Handlungssituationen) zeigte. Er verstand darunter drei Gruppen, drei Bereiche von Entzweiungspositionen, resp. von Entscheidungskonflikten, von denen jede Gruppe wiederum eine Menge von widersprüchlichen Situationen beinhaltet. Ich will ganz kurz auf die drei Bereiche eingehen, da diese selbst heute noch von Belang sind:

Der erste Bereich betrifft die Paradoxien, die sich durch das Aufeinanderprallen von Urteilen und Meinungen von “Weisen” (resp. Intellektuellen, Philosophinnen, Theoretikerinnen) und Menschen einer bestimmten, herkunftsbedingten Alltagsorientierung ergeben. Aristoteles erklärt, dass diese Paradoxa unausweichlich seien, und dass es keine Position gäbe, welche die Wahrheit für sich beanspruchen könne, ja dass häufig keine der antithetischen Positionen zustimmungswürdig sei, etwa bei den Fragen “Muss man seinem Vater oder dem Weisen gehorchen?”, oder “Muss man tun, was gerecht oder was nützlich ist?” oder auch “Muss man eher Unrecht leiden als Unrecht tun?”.

Der zweite Bereich bezeichnet nicht-übereinstimmungsfähige Positionen, die durch die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen philosophischen Schulen (ev. auch Wirtschaftstheorien oder Religionen etc.) entstehen und mit denen die nicht-philosophische Bevölkerung konfrontiert wird.

Mit dem dritten Bereich thematisiert Aristoteles Widersprüche im einzelnen Menschen selbst, wobei er die Widersprüche zwischen den geheimen Wünschen und den ausgesprochenen Grundsätzen meint. “Die Wünsche stimmen ja oft nicht zu den Worten”, sagt er deutlich, “sondern man hält die schönsten Reden und will doch nur, was vorteilhaft erscheint”.

Die “Nikomachische Ethik” kann somit im abendländischen Bereich als die erste umfassende systematische Reflexion über die Begründung des richtigen Handelns bezeichnet werden. Die zweite gründliche Reflexion bot Immanuel Kant mit der “Grundlegung der Metaphysik der Sitten” von 1785, der “Kritik der praktischen Vernunft” von 1788 und schliesslich der “Metaphysik der Sitten” von 1797, die in die “Rechtslehre” und in die “Tugendlehre” aufgeteilt ist, all dies als kritische Philosophie, die, als Absage an die herkömmlichen metaphysischen Tugendlehren, einerseits den Rekurs auf die Vernunft – auf die Freiheit -, andererseits den Rekurs auf die Praxis zum Instrument von Handlungsentscheiden erklärt. Während die Rechtslehre sich “äussere Gesetze gibt”, wie Kant sagt, deren Befolgung notwendig (“ein Zwang”) ist, ist “die Tugendlehre deren nicht fähig”. Bei der Tugendlehre (häufig auch als Pflichtenlehre bezeichnet) – worunter Kant die Ethik resp. die Moralphilosophie im engen Sinn meint – zieht er in Betracht, dass es einerseits allgemeiner Maximen bedarf, andererseits der Überwindung der inneren Widerstände, ev. der Trägheit, damit Menschen diesen Maximen entsprechend handeln. Eine allgemeine Maxime für das richtige (oder tugendhafte) Handeln ist, gemäss Kant, ein Zweck, der zugleich Pflicht ist. Das ist einerseits die “eigene Vollkommenheit”, andererseits “fremde Glückseligkeit”, wobei diese letztere, indem sie angestrebt wird, zur eigenen werden kann. Man könnte sagen, dass Kant zugleich eine egoistischen und einen altruistischen Ansatz vorschlägt, bei dessen Befolgung zwei wichtige Hauptregeln wegweisend sind, nämlich der kategorische und der praktische Imperativ: der kategorische Imperativ  besagt, dass die Handlungsentscheide so zu treffen seien, dass sie zum allgemeinen Gesetz erklärt werden könnten, und der praktische Imperativ hält fest, dass zur Erreichung eines bestimmten Zweckes nie ein Mensch zum Mittel gemacht resp. benutzt oder gar missbraucht werden darf, dass nie ein mensch wie eine Sache, wie ein Ding eingesetzt werden darf, da der Mensch immer Zweck ist.

Dies mag ein wenig abstrakt klingen, aber es zeigt sich gleich, wenn wir die spezifischen Handlungsmaximen in der journalistischen Praxis erörtern, wie brauchbar auch diese Kantischen Grundlagen heute noch sind.[1] So lässt sich etw fragen, ob ein Mensch – wie urs Scheidegger – zum zweck der Verkaufssteigerung einer zeitung in die Pfane gehauen werden dürfe. Der Personenschutz resultiert letztlich aus dem Instrumentalisierungsverbot.

 

  1. II) Die journalistische Ethik

IIa) Um zu verstehen, was journalistische Ethik ist, war es nötig, zuerst Informationen zur journalistischen Praxis zu vermitteln, was meine Vorredner taten, sodann zu klären, was überhaupt Ethik bedeutet. Nun geht es darum zu wissen, welches die spezifischen Zwecke, Pflichten und Aufgaben der Medienleute sind, was erfordert ist, damit sie in ihrer beruflichen Tätigkeit moralisch entlastet seien.

Journalistische Ethik scheint häufig nur im nachhinein gefragt zu sein, erst wenn es brenzlig geworden ist. So etwa fragen wir uns heute nach der journalistischen Ethik in der Berichterstattung über Urs Scheidegger. Ein anderes Beispiel: der Club der WirtschaftsjournalistInnen hat erst begonnen, standesethische Regeln zu entwerfen, als bekannt geworden war, dass der Chefredaktor eines Wirtschaftszeitung Aktiengeschenke entgegengenommen hatte. Oder der Internationale JournalistInnenverband rief erst anlässlich der Ende August dieses Jahres von der UNICEF in Stockholm einberufenen Weltkonferenz gegen sexuellen Missbrauch von Kindern zu einer verantwortungsbewussten Berichterstattung über sexuellen Missbrauch von Kindern auf, insbesondere über Kinderpornographie und Kinderprostitution, erst nachdem die Medien sich durch die Art und Weise ihrer Berichterstattung allzu unbedenklich zu Instrumenten einer Tolerierung, ja sogar einer Propagierung dieser weltweiten Verbrechen an Kindern hatten machen lassen. Allerdings sollten Medienleute, die im BR (Berufsregister) eingetragen sind, sich der im Berufskodex verankerten standesethischen Regeln bewusst sein. Die Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten, wie sie in diesem Kodex festgehalten sind, leiten sich aus einem hohen Selbstverständnis des Berufs ab; deren Befolgung würde genügen, um gravierende Regelverletzungen zu verhindern.

Um zu wissen, was gravierende Regelverletzungen bedeuten, müssen wir zuerst fragen, was ist – von der Philosophie her gesehen – die Funktion der Medien ist, sowohl der Print-Medien wie der elektronischen Medien. Worin besteht ihre Aufgabe, die als so wichtig erachtet wird, dass deren freie Ausübung in Art. 55 der noch geltenden Verfassung garantiert wird? Allerdings ist die äussere Pressefreiheit, die verfassungsmäsig gewährleistet wird, nur der eine Teil; der andere ist die innere Pressefreiheit, die durch keine Verfassung und durch kein Gesetz geschützt wird, die jedoch aufs empfindlichste die journalistische Ethik, resp. die Moral der einzelnen Journalistin / des einzelnen Journalistin betrifft. Die Funktion und Aufgabe der Medien, deren Zweck ist, klärend und klar zu vermitteln, was die Gesellschaft, was das Zusammenleben der Menschen auf relevante Weise betrifft. Aufklärung der Öffentlichkeit also, Information über gesellschaftsrelevante Ereignisse, Probleme, Entwicklungen sowie über deren Hintergründe, Kommentierung dieser Ereignisse, Probleme und Entwicklungen, um dadurch das Ziel zu erreichen: die Befähigung der Menschen zum eigenen politischen und gesellschaftlichen Urteilen und  Handeln. Zusammengefasst heisst es in der Präambel des Berufskodexes: “Das Recht auf Information, auf freie Meinungsäusserung und auf Kritik ist ein grundlegendes Menschenrecht. – Die Verantwortlichkeit der Journalistinnen und Journalisten gegenüber der Öffentlichkeit hat den Vorrang vor jeder anderen, insbesondere vor ihrer Verantwortlichkeit gegenüber ihren Arbeitgebern und gegenüber staatlichen Organen.”

Damit dieser Zweck erfüllt  und das Ziel erreicht werden kann, müssen formale und inhaltliche Kriterien erfüllt sein. Hier nun kommen wir zum “Dürfen, zum Können und zum Sollen”. Das “Dürfen” ist gesetzlich geregelt. Über die medienrechtlichen und urheberrechtlichen Anforderungen hat Karl Bühlmann informiert. Auf das “Können” will ich jetzt eingehen, auf das “Sollen” anschliessend.

Das “Können” hat mit formalen und mit inhaltlichen Anforderungen zu tun. Zu den wichtigsten formalen gehört eine klare, begrifflich unmissverständiche, sorgfältige, möglichst vorurteilslos und umfassend recherchierte  Information, deren Quellen (möglichst) immer überprüft und transparent gemacht werden (ausser es handle sich um vertrauliche Informationen, deren Herkunft durch das Berufsgeheimnis geschützt ist), dazu gehört Unbestechlichkeit, d.h. Nicht-Instrumentierbarkeit  zu irgendwelchen partikulären Zwecken, sodann das Prinzip “audiatur et altera pars”, das auch bei der Rechtssprechung oder bei der Historiographie eine zentrale Rolle spielt. Im Journalismus bedeutet dies, dass selbst bei überzeugter eigener Meinung die Gegenseite resp. die Gegenseiten befragt und angehört werden, dass sie zu Wort kommen müssen. Kurz, die formalen Pflichten haben mit dem richtigen Vorgehen in der journalistischen Praxis zu tun, bei der Beschaffung der Informationen, bei der redaktionellen Arbeit und beim Kommentieren.

Diese Praxis bedarf nicht nur der Garantie der äusseren Freiheit, nicht nur der Freiheit von Zensureingriffen und Gewalt durch den Staat, sondern auch der inneren Freiheit der Journalistinnen und Journaliten innerhalb der sogenannt “freien Medien”. Diese ist in starkem Mass beeinträchtigt. Der Druck von Eigentümern, Verwaltungsräten, Geschäftsleitern, selbst von Chefredaktoren auf die Journalisten und Journalistinnen, “interessenkonform” statt wahrheitsgetreu zu informieren, etwa aus Angst vor Inserentenverlusten, beeinträchtigt die innere Pressefreiheit zutiefst. Wenn sich in den siebziger und frühen achtziger Jahren die Journalistenverbände und -gewerkschaften noch heftig für ihre innere Freiheit zur Wehr setzten und z.B. Redaktionsstatute forderten, so ist es heute relativ still geworden. Ich erinnere an das Schreibverbot, das Niklaus Meienberg oder Reto Hänny während der Jugendunruhen beim “Tagi” erhielten, oder an den Rausschmiss aus der “Tagi”-Redaktion, mit dem Erich Schmied und andere für ihre journalistische Tätigkeit bestraft wurden. Oder ich erinnere an die massiven Eingriffe von Verleger Curti in die Redaktionstätigkeit bei der “Weltwoche” zugunsten seines Autoimporteur- und Nationalrat-Freundes Walter Frey. Der Beispiele wären noch ungezählte zu erwähnen.

Die innere Pressefreiheit zu wahren und zu verteidigen, gehört zu den schwierigsten und folgenträchtigsten  Postulaten journalistischer Ethik, gerade in einer Zeit, in der Firmen zum Teil aufwendige Reisen und Recherchen zu sponsern sich bereit erklären, unter der Auflage, dass – wenn auch auf diskrete Weise – Propaganda für ihre Zwecke gemacht werde. Als Journalismus getarnte oder verbrämte Werbung resp. Propaganda ist unethisch. PR, Werbung und Propaganda müssen als solche genau gekennzeichnet sein, damit Absicht und Interessen ersichtlich sind.

Die inhaltlichen Pflichten haben mit der Wahrheit der Information zu tun, d.h. mit einer möglichst umfassenden und sachgerechten Vermittlung der Ereignisse, Probleme oder Entwicklungen. Als erste Regel im Pflichtenkodex der Journalistinnen und Journalisten wird explizit die Wahrheitspflicht angeführt: “Sie halten sich an die Wahrheit ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen und lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren”. Die inhaltlichen Pflichten können nur erfüllt werden, wenn die formalen beachtet werden. Dazu bedarf es bestimmter Kompetenzen, die zum Teil erworben und geübt werden können, die auf jeden Fall angestrebt werden müssen.

Die erste dieser Kompetenzen betrifft die Sprache – sowohl die verbale Sprache wie die Bildsprache. “Ce qui se conçoit bien s’exprime clairement et les mots pour le dire arrivent aisément”, lehrte Boileau seine Schüler. Journalistinnen und Journalisten müssen genau verstehen und wissen, was sie aussagen wollen, bevor sie zu schreiben beginnen oder sich an den elektronischen Medien äussern.

Und sie müssen sich bewusst sein, dass es die Sprache ist, sowohl die Begriffe wie die Bilder, welche die Bedeutung der Welt und der Ereignisse in der Welt, die Bedeutung der einzelnen Menschen oder Gruppen von Menschen schaffen. “Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen der Welt” sagte Ludwig Wittgenstein, und diesseits und jenseits der Grenzen spielt sich entweder Verständigung ab oder die Sprache führt zu Missverständnissen, ja zu Gewalt. Für die Wahl der Begriffe und Bilder sind die Journalistinnen verantwortlich, d.h. sie sind, je nach dem, verantwortlich für die Trivialisierung der Welt, für die Verdummung und Verrohung der Welt, für das Entstehen von Feindbildern, für das Schüren von Konflikten – oder für die Sensibilisierung der Welt, für die Kommunikationsbereicherung, für das Verständnis von Konflikten und für die Ausweitung der Bereitschaft, mit den Konflikten zu leben. Allein durch die Wahl der Sprache sind Journalistinnen und Journalisten veranwortlich für die Freiheit oder für die Einschränkung oder gar den Verlust von Freiheit der Menschen, deren Handeln und Verhalten in starkem Mass von den Medien beeinflusst werden. Ich erinnere beispielweise an den Kampf um die Anerkennung der Frauen als Menschen von gleichem Wert, als gleiche Rechtssubjekte wie die Männer durch das Insistieren auf den Gebrauch der weiblichen Sprachformen. Oder an den Kampf um den Ersatz des Begriffs “Asylanten” durch “Asylsuchende”, da der Begriff  “Asylant” eine pejorative, diffamierende und dadurch aufhetzende Bedeutungskomponente hat. Oder an den Kampf um Anführungs- und Schlusszeichen bei Ausdrücken wie “ethnische Säuberung”, damit  die Nicht-Übereinstimmung, die Ablehnung mit der Sache deutlich wird, oder um dieselbe Massnahme bei Ausdrücken aus dem Asylbereich, etwa “Rückschaffung in Sicherheit und Würde”, damit die Verlogenheit der offiziellen Bezeichnung, die für “Deportation” steht,  klar wird.

Da jede Wahl der Ausdruck von Freiheit ist und daher den Menschen moralisch verpflichtet, ist die sprachliche Kompetenz schon verbunden mit der ethischen Kompetenz im strengen Sinn, mit dem “Sollen”. Eigentlich hängt die Wahl der Sprache, auch der Bilder, mit jener zweiten Kompetenz zusammen, die ebenfalls für guten Journalismus zwingend erfüllt sein muss: die skeptische Kompetenz. Was ist daruntr zu verstehen? Skepsis bedeutete seit jeher eine Haltung des Zweifels allen Erklärungen und Argumenten gegenüber, vor allem jenen gegenüber, die erschöpfende Richtigkeit, wenn nicht gar Wahrheit beanspruchen. Das Motiv für eine Haltung der Skepsis ist nicht Streitlust oder eigene Besserwisserei, sondern das Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Sorgfalt in der Wahrheitsfindung, auch Misstrauen gegenüber fixfertigen Eindeutigkeiten, Erklärungen, Rezepten und Ideologien. Die skeptische Kompetenz bedarf eines nicht abbrechenden Trainings, auch für “fortgeschrittene” Journalistinenn und Journalisten, heute umso mehr, als die propagandistische Fälschung von Informationen, auch von Bilddokumenten mit den digitalen Übemittlungstechniken leicht fällt und Konjunktur hat. (Bildfälschungen und -manipulationen sind ebenfalls im Berufskodex ausdrücklich verboten). Ich erinnere etwa an die sog. Rumänische Revolution von Ende 1989 /Anfang 1990, als aus Temesvar Bilder von Massengräbern über den Ticker in die Redaktionen kamen und Berichte über Massenermordungen von Menschen durch sog. “Söldner” und Aufständische. Tatsächlich datierten die Massengräber aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, und die tatsächlich erfolgten Übergriffe gingen auf das Konto von Regierungsleuten aus dem Umkreis des abgesetzten und ermordeten Ceauscescu. Skepsis bedingt daher eine grosse Sorgfalt in der journalistischen Arbeit.

Sie mögen zu Recht einwenden, dass diese Sorgfalt heute unter den Bedingungen einer immer grösseren Geschwindigkeit in der Datenübermittlung und einer immer grösseren Perfektion in der Manipulation von Wirklichkeit durch die “virtuel reality” immer schwieriger ist. Das ist unbestritten. Die Beschleunigung der Datenübermittlung führt zu einer gefährlichen Überfütterung, Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit der Information, ja zu einer “Kultur des Vergessens”, wie der Philosoph Paul Virilio warnend feststellt. Skeptische – und gleichzeitig ethische – Kompetenz zu erwerben und zu verteidigen ist auch immer schwieriger unter dem Druck einer – scheinbar – einheitlichen “öffentlichen Meinung”, die  – scheinbar – nur noch Sensation und Unterhaltung wünscht. Sie erinnern sich vielleicht noch der Kontroverse nach der Ausstrahlung eines brutalen Pornofilms durch “10 vor 10” im Januar 1992. Die Redaktionsleitung von “10 vor 10” hatte darauf nur gerade eingestanden, der Film sei eventuell doch ein zu grosser Schock gewesen. Wie mangelhaft gerade diese Erklärung in Bezug auf die ethische Relevanz der öffentlichen Vermittlung von Gewalt ist (“zu grosser Schock”, als ginge es um ein quantitatives Kriterium), ist Ihnen vermutlich klar. Ein ganz anderes Beispiel mag einen weiteren Bereich des ethischen Versagens beleuchten. So wurde etwa die Aufarbeitung der antisemitischen Tradition in der katholisch-konservativen Bevölkerung, auch bei den entsprechenden Parteien, lange verschwiegen. Journalisten /Journalistinnen, welche diese Tatsachen und damit verknüpfte Namen aus Rücksicht auf heutige Empfindlichkeiten in diesen Kreisen unterschlagen – was noch immer geschieht – beweisen zweifellos eine ungenügende ethische Kompetenz.  Dasselbe gilt für die Informationspflicht gegenüber der Verantwortung bestimmter Wirtschaftszweige  im Umweltbereich oder im Sozialbereich. Zur ethischen Kompetenz gehört auch Furchtlosigkeit.

Diese Kompetenz zu üben und zu trainieren ist für Journalistinnen und Journalisten unabschliessbar. Das entsprechende “Training” hat einerseits zu tun mit der Schärfung des Bewusstseins  für das Zustandekommen der Paradoxien (welcher Paradoxien im “Fall Scheidegger”? ), andererseits mit der Vergegenwärtigung der Konsequenzen jeder Wahl, wenn diese Wahl universalisiert, d.h. zur allgemeinen Regel erklärt würde (wie zeigt sich die Wahl bei den einzelnen Zeitungen? Warum unterscheiden sich die Kriterien je nach Zeitung?). Es geht dabei um das Training der Urteilskraft, und dieses Training ist letztlich zugleich Training in gutem Geschmack (auch wiederum gemäss Kant).

IIIa) Können wir nun abschliessend die eingangs gestellten Fragen beantworten? Was meinen Sie? Welche der Zeitungen, die Sie verglichen haben, erfüllt Ihrer Meinung nach die ethischen Kriterien am besten? Ich möchte darauf in der nun folgenden kurzen Diskussion eingehen.

 

IIIb) Nach dem Mittagessen werden Sie im Workshop versuchen, in die Rolle von Journalistinnen und Journalisten zu schlüpfen und gemäss den eben besprochenen Kriterien eine Meldung über ein aktuelles Ereignis, auf welches wir uns einigen werden für eine lokale oder regionale Zeitung zu schreiben.

 

[1] Letztlich basieren auch neuere Ethikansätze, etwa John Rawls Kontraktualismus oder Ernst Tugendhats “Goldene Regel” auf Kant, derjenige von Rawls mehr auf dem praktischen Imperativ (“Achte jeden Menschen gleich, auch den schwachen, instrumentalisiere niemanden”, wobei die Beachtung der Regel bei Rawls nur instrumentell begründet wird, d.h. ich halte die Regel nur ein, damit eine anderer Mensch sie auch mir gegenüber einhält), derjenige von Tugendhat eher auf dem kategorischen, der besagt, dass die Maxime des eigenen Handelns so gewählt werden müsse, dass sie zum allgemeinen Gesetz erklärt erden könnte. Dabei steht bei Tugendhat das Prinzip der Reziprozität der Achtung vor jedem Menschen im Mitttelpunkt, jedoch nicht auf Grund einer instrumentellen Begründung, sondern wegen des Konzepts des Guten selbst, das dahinter steht.

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