Menschen zwischen Heimat und nirgendwo – Schweiz – Ort des Asyls oder der neuen Bedrohung? – SP-Veranstaltung in Maur, 16. September 1997

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Menschen zwischen Heimat und nirgendwo

Schweiz – Ort des Asyls oder der neuen Bedrohung?

 SP-Veranstaltung in Maur, 16. September 1997

 

Laut demn Aussagen von Kofi Annan im Zusammenhang mit dem jüngsten Jahresbericht der UNO sid weltweit gegen 40 Milllionen Menschen unterwegs, vertrieben, heimatlos gemacht durch Kriege und Bürgerkriege, durch rassistische oder religiöse Gewalt, durch Angst, durch Hunger, kurz, infolge von lebensbedrohender Gewalt oder wirtschaftlicher und ökologischer Not im eigenen Land. Auf Grund der politischen und wirtschaftlichen Destabilisierungen in vielen Ländern Osteuropas, Afrikas, des mittleren Osten und in weiteren Gebieten der Welt könnten sich diese Zahlen in den nächsten Jahren vervielfachen, doch niemand, trotz aller Hochrechnungen, kann voraussagen, ob und in welchem Ausmass diese Flucht- und Migrationsbewegungen stattfinden werden. Wir wissen lediglich, dass, unabhängig von den Zahlen, die traumatisierenden Folgen von Flucht und Exil für jeden einzelnen Menschen unabsehbar sind.

Wo halten sich jedoch die Menschen auf, die weltweit unterwegs sind? Wie viele gelangen in die Schweiz und welche Rechte und Bedingungen werden ihnen hier gewährt?

Mehr als zwei Drittel finden eine vorübergehende prekäre Aufnahme in Südwestasien, im Mittleren Osten, in Nordafrika und in Afrika selbst, in Lateinamerika oder in der Karibik. Das heisst, die ärmsten Länder haben für die weitaus grösste Anzahl Flüchtlinge zu sorgen. Die europäischen Länder hingegen, die hochentwicklten und reichen Länder, zu denen auch die Schweiz gehört, tun sich schwer, für die relativ kleine Anzahl von Asylsuchenden, die zu ihnen gelangen, Aufnahme- und Integrationsmöglichkeiten zu schaffen. Ein Beispiel: Nachdem 1991 der Krieg im ehemaligen Jugoslawien begann, 1992 in Bosnien-Herzegowina, waren allein aus diesem Land, das in seiner über Jahrhunderte entstandenen kulturellen Durchmischung der Schweiz gar nicht unähnlich ist, über 3 Millionen Menschen auf der Flucht, zum Teil innerhalb Bosnien-Herzegowinas selbst, zum Teil in den anderen Teilrepubliken oder den angrenzenden, nun selbständigen Ländern. Der kleinste Teil gelangte in die anderen europäischen Ländern. In der Schweiz hat es lange gebraucht, bis der Bundesrat bereit war, die Grenzen etwas weiter zu öffnen. Der Krieg allein, die psychische und materielle Not der Vertriebenen genügten nicht. Es brauchte die Berichte über die KZ-ähnlichen Gefangenenlager und die dort begangenen Verbrechen, es brauchte den Druck der internationalen Behörden, bis Bundesrat Arnold Koller bereit war, zuerst 200, dann nochmals 1000 ehemalige Lagerinsassen und deren Familien aufzunehmen, und diesen Menschen den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen. Die 1000 Frauen und Kinder dagegen, welche die SFH schon im August 1992 aus überfüllten kroatischen Durchgangslagern in die Schweiz geholt hatte, ursprünglich für einen Erholungsaufenthalt von drei Monaten, sowie die rund 1000 Frauen, Kinder und alten Leute, die um die gleiche Zeit in der grössten Sommerhitze an der kroatisch-slowenischen Grenzen blockiert waren und schliesslich ebenfalls mit einem dreimonatigen kollektiven Touristenvisum in die Schweiz einreisen durften, haben weder ein individuelles Asylverfahren noch den Flüchtlingsstatus erhalen. Sie waren (und sind es zum Teil noch immer) “vorläufig Aufgenommene”, wie alle diejenigen, die im Rahmen der Asylgesetzrevision als “Gewaltflüchtlinge” bezeichnet werden. Das bedeutet, dass sie relativ unbürokratisch in einem Pauschalverfahren einreisen können, dass jedoch ihre Aufenthaltsgenehmigungen alle sechs Monate zur Verlängerung vorgelegt werden müssen, dass der Bundesrat nach eigenem Ermessen beschliessen kann, dass diese nicht verlängert wird und dass sie “zurückgeschafft” werden (wie dies im April 1996 und im vergangenen März erneut für die bosnischen und tamilischen Flüchtlinge angeordnet wurde). Dieser Status lässt auch nur einen sehr begrenzten Familiennachzug zu, verwehrt, je nach den kantonalen Bestimmungen, die Arbeits-, Bildungs- und übrigen Integrationsmöglichkeiten zum Teil völlig, gewährt auch Unterstützungspauschalen, z.B. für psychisch oder körperich kranke Menschen, in einem viel geringeren Mass.

Insgesamt hat der Bund von 1992 bis 1993 ca. 3500 Kriegsvertriebene aus dem ehemaligen Jugoslawien aufgenommen, zum weitaus grössten Teil jedoch nur vorläufig. In der gleichen Zeit wurde die eigentliche Asylpraxis enorm verschärft, und Bundesrat Koller und das BFF präsentierten stolz die sich verringernden Zahl von Asylsuchenden, als die Dissuasionspolitik des Bundes begann, sich mit sog. “günstigen” Resultaten abzuzeichnen. Während 1991 noch 41’629 Asylgesuche eingereicht wurden, waren diese 1992, d.h. innerhalb eines Jahres, auf 17’960 zurückgegangen. Von den insgesamt 36’904 BFF-Entscheiden im Jahre 1992 (die zumeist Gesuche aus früheren Jahren betrafen) wurden nur 3,8% positiv entschieden. In Zahlen: auf 29’590 negative Entscheide kamen lediglich 1410 positive. Damals stammten 6200 Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller aus dem ehemaligen Jugoslawien (inklusive Kosova), rund 2800 aus den Bürgerkriegsgebieten von Sri Lanka, 1800 aus der Türkei, darunter viele Kurdinnen und Kurden, etwa 1000 Menschen aus Somalia. Heute sind die Verhältnisse immer noch immer sehr prekär, besonders wegen der harten Rückschaffungspraxis.

 

Die heutige Asylpraxis

Um die heutige Asylpraxis zu illustrieren, habe ich mir während der Vorbereitung für diesen Vortrag gedacht, dass es für Sie interesssant wäre, genauere Angaben über eine bestimmte Flüchtlingsgruppe zu erhalten. Ich habe mich daher beim BFF nach den heutigen Anerkennungsquoten für Asylsuchende aus der Türkei erkundigt. Wie Sie wissen, werden bei den schweizerischen Ämtern keine Unterschiede bezüglich Kurden/Kurdinnen resp. Türken/Türkinnen gemacht. Laut der BFF-Asylstatistik von Ende 1996 wurden im Lauf des Jahres 1996 insgesamt 22′ 537 Ayslgesuche anerkannt, davon 621 aus der Türkei: mithin etwas weniger wie ein Drittel aller im vergangenen Jahr anerkannten Flüchtlinge stammen aus der Türkei. Das bedeutet, dass die Anerkennungsquote von Menschen aus der Türkei, deren Asylgesuch im vergangenen Jahr behandelt wurde, vergleichsweise hoch ist: nach allen Rekursen, d.h. letztinstanzlich, wurden doch 43,8% aller Asylgesuche aus der Türkei positiv beantwortet. Ende März dieses Jahres befanden sich insgesamt 3’947 anerkannte Flüchtlinge aus der Türkei in der Schweiz, sodann – wiederum allein aus der Türkei – 9’784 Menschen mit einer humanitären Aufenthaltsgenehmigung oder einer ähnlichen fremdenpolizeilichen Genehmigung. Zum gleichen Zeitpunkt verfügten 1’272 Personen mit Herkunft aus der Türkei während oder nach dem Asylverfahren über eine vorläufige Aufnahme, 740 Asylgesuche waren noch erstinstanzlich und 1248 zweitinstanzlich pendent (resp. lagen noch der ARK vor), bei 969 Personen war das Verfahren abgeschlossen, ohne dass eine Wegweisung erfolgen konnte, 258 befanden sich in der Schweiz mit einem abgeschlossenen Verfahren und einer abgelaufenen Ausreisefrist. Insgesamt umfasste die schweizerische Asylstatistik von Ende März dieses Jahres  17’969 Personen mit Herkunft aus der Türkei. (Dazu kommt eine mir unbekannte Anzahl von Personen mit einem nicht asylpolitischen, sondern ausländerpolitischen B- oder C-Status).

Ich will Ihnen kurz schildern, nach welchen Kriterien die Asylrekurskommission (ARK) letztinstanzlich bei der Asylgewährung entscheidet. Dabei ist es auch wiederum nützlich, beim gleichen Herkunftsland zu bleiben, bei der Türkei, deren politische und menschenrechtliche Verhältnisse ich selber gut kenne. Die Informationen stützen sich auf den neuesten Lagebericht der SFH zur Türkei ab. Gemäss diesem Bericht stellt die ARK zwar fest, dass sich die mehrheitlich von Kurden und Kurdinnen bewohnten Provinzen in einer kriegs- oder bürgerkriegsähnlichen Situation befinden. Trotzdem kommt das BFF, im Sinn einer allgemeinen Beurteilung, zum Schluss, es es ei nicht von einer “zielgerichteten kollektiven Verfolgung” der Kurden und Kurdinnen auszugehen. Die Rückkehr in ihre Herkunftsgebiete könne diesen zwar nicht zugemutet werden, jedoch beständen, ausser in bestimmten Ausnahmefällen, Möglichkeiten der “innerstaatlichen Fluchtalternative”. (Lediglich bei den Yezidi wird die Kollektivverfolgung anerkannt).

Als Ausnahmen, welche die “innerstaatliche Fluchtalternative” nicht zulassen, gelten Fälle, wo nahe Angehörige politisch aktiver Personen einer Verfolgung ausgesetzt sein könnten, insbesondere, wenn sie selber registriert oder politisch aktiv sind, oder wenn gar mehrere nahe Verwandte politisch aktiv sind, sodann wenn die Asylsuchenden einer bekannten oppositionellen Familie entstammen, wenn sie eventuell schon selber Verfolgung erdulden mussten und daher eine begründete Furch vor erneuter Verfolgung haben. Ob eine “innerstaatliche Fluchtalternative” erwogen werden kann, hänge von vielen Faktoren ab, in erster Linie von politischen. Wenn von einer in der Schweiz asylsuchenden Person  angenommen werden müsse, dass sie der türkischen Polizei bekannt sei, ob sie registriert sei oder nicht, so müsse die Möglichkeit, irgendwo in der Türkei unbehelligt leben zu können, ausgeschlossen werden. Gemäss der Zusammenstellung der SFH werden auch soziale und wirtschaftliche Faktoren in Betracht gezogen, zum Beispiel wird von der ARK geprüft, ob die betreffenden Personen im Westen der Türkei Bekannte, Freunde/Freundinnen oder gar Familienmitglieder haben, so dass sie über ein minimales soziales Netz verfügen würden, oder ob sie auf Grund ihrer Sprachenkenntnisse, Berufsausbildung – und/oder -erfahrung die Möglichkeit hätten, ihre Existenz zu sichern. Auch medizinische Erwägungen fallen bei der Erwägugn der Zumutbarkeit ins Gewicht. Ebenfalls wird in Betracht gezogen, dass politische anti-türkische Tätigkeit im Exil die persönliche Sicherheit einer Person in der Türkei nach deren Rückschaffung gefährden könnte. (Es muss allerdings festegestellt werden, dass die verschiedenen Kammern der ARK sehr ungleich arbeiten).

Klare Gründe für Asylunwürdigkeit werden für Personen genannt, die vor ihrer Einreise in die Schweiz entweder ein gewöhnliches strafrechtliches (d.h. nicht politisches) Delikt begangen haben, auf welchem Zuchthausstrafe steht, oder die ein Verbrechen im Sinn der Flüchtlingskonvention begangen haben, z.B. Beteiligung an Völkermord. Wer solche Verbrechen begangen hat, geht der Flüchtlingseigenschaft verlustig.

Zur Praxis der Asylgewährung lässt sich insgesamt sagen, dass, gestützt auf “Asylon”, die Zeitschrift des Bundesamtes für Flüchtlinge, etwa 30% der Asylgewährungen bei Gesuchen erfolgten, die in erster Instanz abgelehnt worden waren. Die Prüfung der Fluchtgründe erfolgt somit  in vielen Fällen mit grösserer Sorgfalt durch die ARK, auch wenn dies leider nicht für alle Kammern zutrifft.  Anlass zu genereller Kritik gibt, laut dem Bericht der SFH, einerseits die Art und Weise, wie die Schweizer Behörden sich nach den Auskünften der türkischen Botschaft richten, andererseits die Einschätzung der Gefährdung von Militärdienstverweigerern, in welchem Stadium auch immer die Dienstverweigerung erfolgt. Wer in der Türkei nicht zur Musterung, resp. nicht zum Militärdienst erscheint, wird landesweit zur Fahndung ausgeschrieben. Da in den letzten Jahren vermehrt junge Kurden auch im Osten gegen ihr eigenes Volk eingesetzt werden, ist die ohnehin schon beträchtliche Anzahl von Militärdienstverweigerern noch gestiegen. Gemäss Angaben der  verschiedenen Menschenrechtsvereine gibt es an die 300’000 kurdische und türkische Militärdienstflüchtige. Ausdrücklich wird von der SFH die Militärdienstverweigerung als Menschenrecht und damit als Asylgrund genannt, aus welchen Gründen auch die Militärdienstverweigerung erfolge (ob aus inner-kurdischen, inner-türkischen resp. antifaschistischen, aus religiösen, persönlichen oder  aus allgemeinen Gründen der Gewaltverweigerung).

Zu kritisieren ist, laut SFH, neben der Tatsache, dass die schweizerischen Behörden ihre Erkundigungen zur Person der Asylsuchenden über die türkische Botschaft in der Schweiz anfordern oder über die schweizerische Botrschaft in der Türkei, wo zahlreiche Türken arbeiten, zu kritisieren ist vor allem die zu kurze Frist von einem Monat, die für die Beschaffung von Dokumenten eingeräumt wird. Innerhalb dieser Frist ist es oft nicht möglich, Aufgebote zur militärischen Musterung oder zum Militärdienst, Haftbefehle oder andere Bescheinigungen von Prozessen, Polizeiverhören oder Gefängnisaufenthalten (z.B. Haftbestätigungen, Entlassungsdokumente) etc. zu beschaffen. Bei gefälschten Dokumenten schliesst das BFF grundsätzlich auf Unglaubwürdigkeit des Asylgesuchs, während die ARK  diesbezüglich manchmal differenzierter urteilt.

 

Menschenrechte als übergeordnete Normen

In welchem Mass entsprechen diese Asylbedingungen internationalen Rechtsvorstellungen, etwa der Menschenrechtsdeklaration der UNO? In welchem Mass sind überhaupt die Menschenrechtsdeklarationen verbindliche Normen?

Die Menschenrechte können als Normen bezeichnet werden, die allen nationalen Rechtssystemen übergeordnet sind und deren Umsetzung die Grundlage für eine im Entstehen begriffene universelle Kultur der Achtung vor dem Menschen sein könnte – der Achtung einerseits vor der körperlichen und psychischen, geistigen Integrität wie vor der Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Alter (betrifft mithin auch die Kinder), Religion und Sprache, Achtung andererseits vor der Schutzwürdigkeit, vor der Freiheit und demokratisch geregelten Selbstbestimmung des Zusammenlebens. Die Menschenrechte betreffen daher sowohl den einzelnen Menschen in seiner personalen (leiblichen und geistigen) Unersetzbarkeit und Unverfügbarkeit wie die kulturell-sozialen und die politischen Bedingungen des Zusammenlebens der Menschen in der Pluralität und Verschiedenheit ihrer persönlichen Herkunft und ihrer Geschichten. Die Menschenrechte sind somit die affirmative, verpflichtende  Antwort auf die körperlichen und seelischen, die sozialen und politischen Grundbedürfnisse, d.h. auf diejenigen Grundbedürfnisse, welche alle Menschen teilen.

Die Menschenrechte haben eine lange Geschichte. Ich will nur ein paar Etappen erwähnen: Gegen willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen wurden in England 1679 die “Habeas Corpus Acte” proklamiert, in denen festgehalten wird, dass es bei einer Verhaftung nicht nur einer richterlichen Verfügung bedarf, sondern auch, dass bei vermeintlichem Verdacht und bei ungerechtfertigter Verhaftung, auch bei ungerechtfertigtem Urteil durch die ausführenden Beamten ein Schadenersatz  an diejenigen Personen zu zahlen sei, die zu Schaden gekommen sind.

Gegen Korruption, Machtfilz und Machtmissbrauch der Machthabenden im Staaat publizierte rund fünfzig Jahre später, 1748, der französische  Staatstheoretiker, Baron de Montesquieu,ein grundlegendes Buch, das er den “Geist der Gesetze” nannte und das bis heute die Notwendigkeit der Gewaltentrennung und gegenseitigen Kontrolle der gesetzgebenden Gewalt, der Regierungsgewalt und der richterlichen Gewalt auf allen Ebenen begründet.

Keine zwanzig Jahre später, 1776,  wurde die “Bill of Rights of Virginia” proklamiert, welche die eigentliche Grundlage der amerikanischen Demokratie bildet. Artikel 1 heisst: “Alle Menschen sind von Natur gleichermassen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte, deren sie ihre Nachkommenschaft bei der Begründung einer politischen Gemeinschaft durch keinerlei Abmachungen berauben können: nämlich das Recht auf Leben und Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu behalten und Glück und Sicherheit zzu erstreben und zu erlangen.” Art. 2: “Alle Macht ruht im Volke und leitet sich daher von ihm ab; alle Amtspersonen sind seine Treuhänder und Diener und ihm jederzeit verantwortlich.” Die Gewaltentrennung ist in Art. 5 festgehalten, die Habeas Corpus Acte in Art. 10, Religionsfreiheit in Art. 16 etc. – eine für die damalige Zeit fortschrittliche Verfassung, mit der Einschränkung, dass mit “Menschen” nur freie Männer gemeint waren, dass Frauen und Sklaven von allen diesen Rechten ausgeschlossen waren.

Auch die Menschenrechtserklärung im Gefolge der Französischen Revolution von 1789, die sich stark an die “Bill of Rights” von Virginia anlehnt, ist eine Freiheits- und Gleichheitserklärung der Männer, der bürgerlichen Männer, die sich damit gegen die Vorherrschaft und Cliquenwirtschaft von Adel und Kirche zur Wehr setzten. Ausgeschlossen waren ebenfalls die Frauen, und ausgeschlossen war auch der Dritte Stand, das Proletariat. Bedeutungsvoll ist Art. 2: “Der Endzweck aller politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und und unabdingbaren Menschenrechte (resp. “Männerrechte”, droits des hommes, maw). Diese Rechte sind die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit, der Widerstand gegen Unterdrückung.” Eine Frau aus dem Volk, Olympe de Gouges, Analphabetin, mutig, zornig und weitblickend, proklamierte 1791 vor der Nationalverammlung die “Rechte der Frau und Bürgerin”, womit sie nicht nur die gleichen politischen Rechte für die Frauen forderte, sondern auch eine ganze Reihe von zivilrechtlichen Gleichberechtigungen im Eherecht, Scheidungsrecht usw. Sie handelte sich damit ihren Tod auf dem Schaffott ein.

Worauf sich die allmählich etablierende universale Kultur der Menschenrechte jedoch am meisten abstützt, ist die “Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen” von 1948. Zwei Weltkriege waren vorausgegangen, Nationalsozialismus, Faschismus und Stalinismus, totalitäre Systeme, in denen systematische Menschenunterdrückung und Menschenverachtung kaum mehr zählbare Millionen von Getöteten und Ermordeten, und Millionen von an Leib und Seele gebrochenen Überlebenden schufen, ein riesiges Trümmerfeld der Humanität. Da entstand im Rahmen der Vereinten Nationen ein aus 30 Artikeln bestehender Kodex der gleichen unverbrüchlichen Rechte, die allen Menschen, buchstäblich allen ohne eine einzige Ausnahme, zustehen, allein aus dem einen Grund: weil sie Menschen sind. Ich wähle einige der Artikel aus, die mir besondern wichtig erscheinen, etwa Art. 3 “Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person”, Art. 5 “Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden“, sodann Art. 7 “Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz gegen jede unterschiedliche Behandlung, welche die vorliegende Erklärung verletzen würde, und gegen jede Aufreizung zu einer derartigen unterschiedlichen Behandlung“, ferner Art. 9 “Niemand darf willlkürlich festgenommen, in Haft gehalten oder des Landes verwiesen werden”,  Art. 12 “Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, sein Heim oder seinen Briefwechsel noch Angriffen auf seine Ehre und seinen Ruf ausgesetzt werden. Jeder Mensch hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen derartige Eingriffe oder Anschläge“. Artikel 13 hat zwei Teile: “Jeder Mensch hat das Recht auf Freizügigkeit und freie Wahl seines Wohnsitzes innerhalb eines Staates”, weiter “jder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschliesslich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren”. Und Art. 14, wiederum in zwei Teilen “Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu geniessen”, worauf die Einschränkung folgt: “Dieses Recht kann jedoch im Fall einer Verfolgung wegen nichtpolitischer Verbrechen oder wegen Handlungen, die gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen verstossen, nicht in Anspruch genommen werden”.

Sie mögen festgestellt haben, dass gerade die Rechte, die ich aus den zitierten Menschenrechtsdeklarationen beispielhalber hervorgehoben habe, in Bosnien, in Algerien, in der Türkei oder in Sri Lanka aufs gröbste verletzt werden. Es ist leider so, dass, neben ihrer universalen normativen Bedeutung, die Menschenrechte eine grosse Schwäche haben: sie sind nur durchsetzbar, wenn sie in das positive Recht der einzelnen Länder aufgenommen sind, resp. wenn sie Teil nationaler Gesetzgebung sind – und damit auf nationaler Ebene eingeklagt werden können. Die meisten Nationen weisen zwar in ihren Verfassungen hehre Deklarationen auf, doch wechselnde politische Verhältnisse und daraus resultierende Gesetzgebungen – Sondergesetze, Ausnahmegesetze etc. – lassen Verfassungen zeitweise – tragischerweise – zur blossen Rhetorik verkommen. So war es in der Türkei nun während langen Jahren, insbesondere in den Jahren unmittelbar nach dem Militärputsch von 1980, als innerhalb von drei Jahren an die 200’000 Menschen aus politischen Gründen verhaftet, unter Folter verhört und häufig unter Folterbedingungen jahrelang in Gefängnissen überall in der Türkei festgeahlten wurden. 259 Todesurteile wurden im Zusammenhang mit den Militär-Sonderprozessen ausgesprochen, 49 Menschen hingerichtet. Zum Teil sind die Verhältnisse heute noch auf vergleichbare Weise unerträglich, wenn nicht gar ums vielfache schlimmer. Allein seit 1990 wurden aus den kurdischen Gebieten der Türkei an die drei Millionen Menschen vertrieben, 3000 Menschen wurden getötet. Die täglichen Drangsalierungen der kurdischen Bevölkerung bedürften der stundenlangen Schilderung, doch selbst dann könnte nur ein winziger Bruchteil des Leidens vermittelt werden

Oder vergegenwärtigen wir uns die Situation der tamilischen Asylsuchenden. Von all denjenigen, die den weiten Weg bis in die Schweiz geschafft haben, haben die wenigsten eine Chance zu bleiben. Gemäss der im BFF üblichen Devise “last in first out”, müssten die meisten, die in den letzten Jahren kamen, mit der Ausschaffung rechnen, obwohl für Rückkehrende, insbesonder für junge Männer, die persönliche Sicherheit enorm gefährdet ist, wie sorgfältige Abklärungen der Hilfswerke ergeben. Die Rückkehrenden werden, vielen verlässlichen Berichten zufolge, von den singhalesischen Sicherheitsbehörden als mutmassliche Sympathisanten der “Tamil Tigers” sofort bei der Einreise oder in Colombo willkürlich festgenommen, verhört, gefoltert und gefangengehalten. Bis heute geht der Bundesrat auf die Appelle der Hilfswerke, auf Rückschaffungen von Menschen nach Sri lanka, nach Bosnien, nach Algerien zu verzichten, nicht ein.

Die pauschale Rückschaffung von Tausenden von Menschen in die Unrechtsverhältnisse von Kosova sowie nach Bosnien, in dieses vom Krieg noch immer völlig zerstörte – moralisch, infrakstrukturmässig, kulturell und wirtschaftlich zerstörte – Land, in Dörfer und Städte, die auf Grund der verbrecherischen “ethnischen Säuberungen”, die durch das Dayton-Abkommen nicht rückgängig gemacht wurden, ist ein Akt der Inhumanität. Das ist für die betroffenen Menschen ebenso klar wie für einen Teil der Bevölkerung, der sich mit ihnen solidarisiert. Dagegen beginnt sich ein gemeinsamer ziviler Widerstand zu formieren, von dem wir allerdings noch nicht wissen, ob er günstige Resultate erzielen wird.

 

Menschenrechtsverletzende Asylpraxis in ganz Europa

Die Haltung der Schweiz, mit Gesetzesverschärfungen und Verfahrensmassnahmen die Einreise und den Aufenthalt von Asylsuchenden und Flüchtlignen möglichst zu erschweren, entsprecht einer gesamteuropäischen Praxis. Es ist merkwürdig, dass, obwohl die Mehrzahl der schweizerischen Bevölkerung und der Stände etwa in der EWR-Abstimmung sich klar europa-ablehnend entschieden hat, in Sachen Flüchtlings- und Asylpolitik eine grosse Übereinstimmung zwischen den eidgenössichen Behörden und den übrigen europäischen Ländern herrscht. Nach dem Fall der Berliner “Mauer” im November 1989 und dem Zusammenfallen der staatssozialistischen Regimes, begann das um die damalige EG zentrierte Europa mit seinen zugewandten Staaten – darunter die Schweiz – eine neue Architektur der Fronten zu verfestigen und festungsmässige Vertragswälle gegen den – befürchteten – Zustrom von Vertrieben und Armen auszubauen. Diese Architektur der Einigelung richtet sich zugleich gegen potentielle Menschen-“Ströme” aus Ost- und Südeuropa wie gegen diejenigen aus den Armutsländern der übrigen Welt. Diese Abwehrpolitik geht bis auf 1985 zurück, als die damalige EG-Kommission beschlossen hat, gemeinsame europäische “Verwaltungsmassnahmen” im Asylbereich festzulegen. Im gleichen Jahr unterschrieben die Benelux-Staaten, Frankreich und die damalige Bundesrepublik das sog. “Erste Schengener Abkommen”, das den schrittweisen Abbau der innerstatlichen Grenzkontrollen beinhaltete. Fortan sollte für die Bearbeitung eines Asylantrages nur noch ein Vertragsstaat zuständig sein. Das bedeutet, dass bei einem ablehnenden Entscheid fortan kaum mehr eine weitere Chance für eine eventuelle Asylgenehmigung in einem anderen Vertragsstaat bestand/besteht, zumal beschlossen wurde, sich nicht nur in Verfahrensfragen zu einigen, sondern auch über Computer gespeicherte Informationen zur Person der Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller auszutauschen. Damals schon wurde die Einführung eines einheitlichen Visums angestrebt.

Die Schere wurde zunehmend enger, als 1990 auch Spanien, Portugal und Italien dem Schengener Abkommen beitraten. Spanien, zum Beispiel, führte die Visumpflicht für nordafrikanische Asylsuchende ein. Hunderte, vielleicht gar Tausende ertranken darauf in all diesen Jahren beim Versuch, mit Fischerbooten illegal vom Meer her die spanische Küste zu erreichen. England hat im Sommer 1991 erklärt, seine Einreisebestimmungen nach Massgabe der Schengener Bestimmungen zu verschärfen. Diese wurden 1990 im sog. “Zweiten Schengener” und im “Dubliner” Abkommen ausgeweitet. Mitte Februar 1993, als der Krieg in Bosnien sich aufs entsetzlichste verschärfte, haben sich an einer Ministerkonferenz in Budapest, an der Delegationen aus 35 Ländern teilnahmen, die meisten Vertreter, darunter auch Bundesrat Arnold Koller, für verschärfte koordinierte Massnahmen gegen die sog. “illegale” Einwanderung und das damit verbundene Schlepperwesen ausgesprochen. Nur so gelänge es, “die Probleme der Migration in den Griff zu bekommen”, hiess es im Pressecommuniqué zum Abschluss der Konferenz.

Es stellt sich mit zunehmender Deutlichkeit heraus, dass für die europäischen Staaaten, inklusive für die Schweiz, Menschen, die um Asufnahme nachsuchen, als innerstaatliches Problem der europäischen Länder gelten. Vergleichbar war die Haltung der Staaten, die 1938 an der Konferenz von Evian das “Problem” der jüdischen Flüchtlinge durch Abwehr und Dissuasion zu “lösen” versuchten. Auch in unserem Jahrzehnt, wie damals, erklären die europäischen Staaten, das Flüchtlings”problem” “in den Griff zu bekommen”, indem das Hauptaugenmerk auf die Abwehr der Flüchtlinge lenken. Nicht die zur Flucht oder zur Migration zwingenden Bedingungen in den Herkunftsländern werden ins Auge gefasst, nicht diesen soll abgeholfen werden, sondern die Einreise von Notleidenden in andere Länder soll verhindert werden.

Um das “Problem in den Griff zu bekommen”, denken sich – scheinbar – ernstzunehmende Profis Lösungen aus, die nachdenklich stimmen müssen. So etwa schlägt der Nobelpreisträger für Wirtschaft von 1992, Gary S. Becker, vor, dass der Markt die Einreise von Gesuchstellenden regeln soll. Einreiserechte sollen wie andere Güter nach dem Gebot von Angebot und Nachfrage geregelt werden. Die Preise für Visa sollen in jährlichen Versteigerungen ausgehandelt werden, so dass das diejenigen, die schliesslich einwandern können, schwer dafür bezahlt hätten. Dies würde sie motivieren, meint Becker, sich entsprechend dem Eintrittspreis nützlich zu machen, sich “anzupassen” und sich nicht als “Schmarotzer” zu benehmen.

 

Asylabwehr und Fremdenhass

Das Cliché ist deutlich erkennbar – dasselbe, das bei der Abwehr der jüdischen Flüchtlinge im Vorfeld und während des 2. Weltkriegs mit eine entscheidende Rolle spielte, das bei den Anschlägen auf Asylunterkünfte, ja bei jeder Gewalt gegen Asylsuchende in starkem Mass mitspielt. Das wirklich Bedrohliche ist, dass die Regierungen, die verantwortlichen Politiker und Politikerinnen, sich in starkem Mass in den Dienst dieses Feindbildes stellen, statt sich kraft ihrer Persönlickeit ihm entgegenzustellen. Sie handeln im Sin populistischen Machtkalküls, wie es etwa in der Schweiz im Vorfeld der Abstimmung über die Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht deutlich wurde.

Im Cliché des Schmarotzers zeigt sich eine eine der Ursachen der Fremdenangst und des Fremdenhasses. Vielen Ängsten, vor allem kollektiven Ängsten liegen auf vielfältige Weise vermittelte fixe Bedrohungsbilder zugrunde. Diese gehören zu den unbewussten Steuerungen über Vorbilder, über kolportierte Geschichten etc. wie zu den bewusst gesteuerten Beeinflussungen im Rahmen politischer Machtstrategien. Dazu kommt, dass negative wirtschaftliche Entwicklungen sie verstärken. Diese Ängste zu korrigieren und abzubauen ist schwierig, da die Abwehr zumeist gross ist. Es braucht viel Zeit, die Möglichkeit, angstlösende Erfahrungen mit “Fremden” zu machen und das eigene nicht-angenommene, verdrängte Fremde zu erkennen, Vorbilder und Fremdsteuerungen in Frage zu stellen, und neue eigene Urteilsmöglichkeiten als Grundlage für neue Handlungsmöglichkeiten zu finden. Die Asylpolitik ist, scheint es mir, daher der Gradmesser für den Emanzipationsstand unseres Volkes. In der Schweiz ist er nicht sehr hoch, doch Veranstaltungen wie heute abend, oder die Tätigkeit von Basisbewegungen zeigen auch wieder diese Gegenbewegung auf.

 

Als ich in den achtziger Jahren als Journalistin in der Türkei weilte, zur Zeit der Prozesse gegen die nach dem Militärputsch verhafteten “Dissidenten”, lernte ich aussergwöhnliche, mutige Menschen kennen, neben Müttern, Frauen und Schwestern von politischen Gefangenen auch Mitglieder des Menschenrechtsvereins, darunter den Verleger des kleinen Gedichtbandes “… tirnaklarimla yaziyorum” (“…ich schreibe mit den Fingernägeln”), worin sich auf Türkisch und auf Deutsch Gedichte von politischen Gefangenen aus den Jahren 1980-1985 finden. Als ich in den vergagenen Wochen über ein Motto für den heutigen Abend nachdachte, habe ich aus  diesen Gedichten dasjenige mit dem Tiel “Merhaba” ausgesucht. Geschrieben wurde es von Hülya Ayse Özzümrüt, einer jungen Frau, die 1980 verhaftet und 1984 in einem Prozess, der gleichzeitig gegen 100 Angeklagte geführt wurde, wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation zum Tod, später zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Während der Verhandlungen gab Hülya unmissverständlich zu verstehen, dass sie das Sondergericht nicht anerkenne und dass sie ihren Kampf im Gefängnis weiterführe. Zum Kampf gehörten auch ihre Gedichte, die aus dem Gefängnis geschmuggelt und veröffentlicht werden konnten.

“Ich, schon Jahre in Ketten, hinter verschlossenen Türen, dröhnenden Riegeln, vergitterten Augen, schon lange habe ich die Blumen der Berge nicht gesehen, bin immer nur der Dunkelheit der Nacht begegnet…

doch…

der Tag wird mitten in der Nacht geboren, die Freiheit mitten in uns. In unseren groben, rissigen Händen leuchtet das Leben, verlischt nie…”

Bis heute geht der Kampf weiter – in den türkischen Gefängnissen, in den kurdischen Dörfern und Bergen, im Untergrund in den kurdischen Städten, in einer  prekären, immer gefährdeten Öffentlichkeit in der Türkei, hier in der Emigration  – zum Beispiel in Zürich.

Worum geht es in diesem Kampf?

Zusammenfassend liesse sich – im Sinn einer These – sagen: Es geht um die Menschenrechte. Mit anderen Worten: Es geht um die Persönlichkeitsrechte der Kurdinnen und Kurden, und es geht um die politischen und kulturellen Rechte des kurdischen Volkes, mithin um Rechte, wie sie nach international anerkannten Deklarationen und Konventionen  allen Menschen und allen Völkern auf unveräusserliche Weise zustehen. Diese Rechte werden durch den türkischen Staat auf extreme Weise verletzt.

(2) Die Situation in der Türkei

Gemäss amnesty international (amnesty-Magazin Nr. 2, April 1997) hat der internationale Druck auf die heutige türkische Koalitionsregierung von Erbakans Wohlfahrtspartei (Refah) und Tansu Cillers Partei des rechten Wegs (DYP)  bewirkt, dass so etwas wie eine leise Hoffnung auf eine teilweise Verbesserung der Unrechtsverhältnisse sich einstellen könnte. Weniger vorsichtig kann ich es nicht formulieren, denn die politische Realität in den kurdischen Gebieten rechtfertigt diese Hoffnung noch in keiner Weise. Am 17. Oktober 1996 hat die Vize-Ministerpräsidentin in einer Rede angekündigt, dass verschiedene Verbesserungen im Bereich der Menschenrechte geplant seien, so die Reduktion der maximalen Dauer der Polizeihaft auf 10 Tage und das Recht der Häftlinge auf Zulassung eines Rechtsbeistandes nach vier Tagen. Am 6. März dieses Jahres wurde das Gesetz vom Parlament verabschiedet. (Ein Rechtsbeistand war in den Provinzen, die unter Ausnahmezustand stehen, bis dahin nicht zugelassen, und die Polizeihaft dauerte bis 30 Tage). Was trotz dieser angekündigten Gesetzesverbesserung jedoch weiterhin unangetastet bleibt, ist die Folter, die in Polizeihaft, vor allem unmittelbar nach den Verhaftungen, nach wie vor regelmässig und systematisch angewendet wird, und Folter gehört zu den schwersten Menschenrechtsverletzungen, da sie die körperliche wie die seelische Integrität der Menschen zutiefst verletzt, zumeist mit Schäden, die kaum mehr oder nie mehr heilen. Zwar hat Tansu Ciller auch im Zusammenhang mit den international sich häufenden Foltervorwürfen in einer Rede vom 10. März dieses Jahres in Ankara gesagt: “Dies ist eine Schande, die wir nicht ertragen können. Folterungen werden aus unserer Nation getilgt” (NZZ, 11. März 1997, zitiert in amnesty Magazin Nr. 2 1997). Dieser Ankündigung gegenüber ist jedoch Skepsis angezeigt, solange nicht jeder Folterer in der Türkei mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen muss. Generell ist festzuhalten, dass Frau Cillers Aussagen keine Glaubwürdigkeit beanspruchen können, da bewiesenermassen sie und ihr Mann in die Strukturen und Geschäfte der türkischen Mafia verwickelt sind (s. Autounfall vom 3. 11. 1996 bei Susurluk, bei dem  der Polizeichef Hüseyin Kocadag, der international gesuchte Mafiaboss und Rechtsextremist Abdullah Catli, die Schönheitskönigin Gonza Uz und Tanzu Cillers Parteikollege Sedat Bucak, Parlamentsabgeordneter und Chef einer die PKK bekämpfenden Miliz verwickelt waren. Die Vize-Ministerpräsidentin bezeichnete darauf den beim Unfall getöteten Mafiaboss Catli öffentlich als Helden und Patrioten).

Neben der nach wie vor geltenden Folterpraxis klagt amnesty international ebenso sehr das Verschwindenlassen und sog. “extralegale” Töten von Menschen an, d.h. Verbrechen “ohne bekannte Täterschaft”, die in letzter Zeit nicht abgenommen, sondern ums vielfache zugenommen haben. Die Anklage richtet sich an den türkischen Staat, der durch die Armee, durch diePolizei, die Gendarmerie, durch Dorfmilizen wie durch die sog. “Konterguerilla” (die sich z.T. auch der Hizbullah bedient)  diese Verbrechen begeht, jedoch auch, zum Teil,  an sich untereinander bekämpfende kurdische Gruppierungen. Die Angehörigen  der “Verschwundenen” haben in jüngster Zeit sich zu organisieren begonnen und mit öffentlichen Kundgebungen in verschiedenen Städten in der Türkei nationanale und internationale Beachtung gefunden, Kundgebungen, die durch amnesty international unterstützt und begleitet wurden. Die Verbrechen gingen jedoch weder zurück noch wurden von Seiten der Behörden Anstrengunen unternommen, diese aufzudecken.

Auch die Bedingungen in den Gefängnissen wie bei Gefangenentransporten sind nach wie vor so menschenunwürdig, dass gerade im vergangenen Jahr, nach der im Mai 1996 erfolgten Ernennung des berüchtigten ehemaligen Direktors der Polizeidirektion Mehmet Agar zum Justizminister und den durch diesen sofort verfügten Haftverschärfungen, wiederum zahlreiche Gefangene in verschiedenen Gefängnissen mit Todesfasten dagegen zu protestieren versuchten. Nachdem Agar nach der Demission der Regierung am 6. Juni 1996 in seiner Funktion als Justizminister durch Sevket Kazan ersetzt wurde und nachdem mehrere Gefangene in Folge des Todesfastens starben oder unter schwersten gesundheitlichen Schädigungen litten, kam es zu einigen Mässigungen und Verbesserungen, z.B. zur Schliessung des Hochsicherheitsgefängnisses von Eskisehir. An anderen Orten aber gingen die Übergriffe auf Gefangene weiter, so etwa im Gefängnis von Diyarbakir, wo in jüngster Zeit mehrere Gefangene zu Tode geschlagen wurden.

Zu den schwerwiegenden Menschrechts verletzungen gehören die Zwangsumsiedlungen und Dörferzerstörungen in den kurdischen Provinzen, besonders in jenen von Tunceli, Bingöl, Erzincan, sowie in den Grenzregionen zu Iran, Irak und Syrien hin. Tausende von Dörfern wurden zerstört und niedergebrannt, die Ernten wurden vernichtet, das Vieh gestohlen, an die drei Millionen Menschen wurden, wie ich schon sagte, allein seit 1990 vertrieben, etwa 10’000 Menschen leben als Binnenflüchtlinge auf türkischem Statsgebiet, irgendwo in anderen Dörfern, in Lagern, am Rand der Städte, Hundertausende mussten ins Ausland fliehen. Die Folge ist ein kaum mehr wiedergutzumachender Verlust an Kultur und an Zusammenhalt der kurdischen Bvölkerung. Während bis 1991 der Gebrauch der kurdischen Sprache überhaupt verboten war, reduziert sich das Verbot heute auf den Schulunterricht. Nach wie vor schweren, willkürlichen Einschränkungen ausgesetzt ist auch die Pressefreiheit, auch wenn es heute in der Türkei eher möglich ist, öffentlich Kritik zu üben. Doch nach wie vor kommt es immer wieder zur Schliessung von Zeitungen und zur Verhaftung von Journalisten und Journalistinnen. Ich erinnere etwa an die Schliessung von “Özgüt Ülke” (Freies Land) sowie an die Verhaftung und monatelange Folterung von Mensure Yüksel Erdohan, der Chefredaktorin. Im Januar 1997 gelang es ihr, in Deutschland Asyl zu erhalten.

Das Ausmass an Gewalt allein in den Monaten März und April dieses Jahres wird durch die Monatsberichte des türkischen Menschenrechtsvereins (IHD) in Ankara und des kurdischen Menschenrechtsvereins (IHD) in Diyarbakir belegt. Diese Menschenrechtsvereine geniessen eine hohe internationale Anerkennung. So hat etwa der deutsche Aussenminister Klaus Kinkel anlässlich seines Türkeibesuchs im März dieses Jahres dem IHD in Ankara einen Besuch abgestattet. Auch werden die Eingaben und Beschwerden beider Menschenrechtsvereine, auch desjenigen von Diyarbakir, anden Europäischen Gerichtshof von Strassburg regelmässig angenommen und untersucht.

Für den Monat März stellt der IHD von Ankara (Quelle: Hevi vom 3. bis 9. Mai 1997) für die ganze Türkei folgende Menschenrechtsverletzungen fest: Insgesamt wurden 2910 Personen in Polizeigewahrsam genommen, 8 Menschen wurden durch “unbekannte Täter” getötet (sog. “extralegale Hinrichtungen”), 12 Frauen und Männer wurden bei Attentaten ermordet, 6 verletzt, 7 Personen starben in Untersuchungshaft infolge von Folter, 168 Menschen kamen im Lauf von Gefechten um, von 48 Menschen ist bekannt, dass sie in diesem Monat Folterungen ausgesetzt waren, 107 Menschen kamen in Gefängnishaft, gegen 164 wurden Gefängnisstrafen wegen Meinungsäusserungsdelikten ausgesprochen, aus 4 Dörfern wurde die Bevölkerung gewaltsam vertrieben, 10 Orte wurde bombardiert, insgesamt wurden in diesem Monat 41 Presseleute festgenommen, 26 Publikationen (Bücher, zeitschriften, Zeitungen etc.) konfisziert, 6 Lokale resp. Sekretariate von Vereinen, Gewerkschaften, Redaktionen, Parteien oder anderen Gruppierungen wurden geschlossen, 8 wurden überfallen.

Für den Monat April dieses Jahres hält der IHD von Diyarbakir (Quelle: die Tageszeitung “Özgür Politika”) folgende Menschenrechtsverletzungen fest, die in den kurdischen Gebieten begangen wurden: Insgesamt wurden allein in diesem Monat bei 208 sog. “Zwischenfällen”, d.h. bei Angriffen, Überfällen, Attentaten, Tötungen mit “unbekannter Täterschaft”, Gefechten usw. 88 Menschen getötet. Präziser: 71 Menschen starben bei Gefechten, 122 wurden dabei verletzt; 3 Zivilpersonen wurden bei Angriffen getötet, 9 verletzt; 7 Menschen wurden Opfer sog. “extralegaler Hinrichtungen” und 3 weitere Menschen wurden tot aufgefunden, ohne dass deren Identität hätte festgestellt werden können. In Erzurum-Dumplupinar und in Bitlis kamen 3 Kinder infolge von Minenexplosionen ums Leben – der 12jährige Muhammet Kurçul und die 10jährigen Gökhan Kurçul und Cevdet Isik; 2 weitere Personen wurden durch Minenexplosionen schwer verletzt. 2 Menschen wurden in Gefängnishaft überführt, 185 in Polizeigewahrsam, 1 Person ist verschwunden, 2 Menschen erhielten Todesdrohungen. Gegen drei Dörfer wurde ein Lebensmittelembargo verhängt, sodass die Bevölkerung Hunger leidet, 1 Dorf wurde niedergebrannt, 1 weiteres Dorf wurde gewaltsam von der Bevölkerung entleert und 6 Dörfer wurden überfallen. In verschiedenen Gefängnissen gab es insgeamt 7 gewaltsame Eingriffe des Gefängnispersonals gegen Gefangene.

Angesichts dieser Dokumentation des Schreckens stellt sich die Frage:

 

(4) Ich komme zum Schluss:

Es muss festgehalten werden, dass auf türkischem Staatsgebiet, von Seiten der Behörden in allen Bereichen der militärischen und der zivilen Repression (sog. “Sicherheit”), sodann von Seiten para-offizieller Organisationen, aber auch zum Teil von Seiten oppositioneller Gruppierungen ein entsetzliches, ein unerträgliches Ausmass an direkter und indirekter Gewalt herrscht, das ein Leben in “Sicherheit und Würde”, wie die schweizerische Formel heisst, nicht zulässt. Terror und Angst, körperliches und seelisches Leiden, Armut, Verelendung und Heimatlosigkeit, das persönliche Unglück von ungezählten Menschen, von Kindern, von Frauen, Männern und alten Menschen sowie eine weitreichende kulturelle Zerstörung und Zukunftslosigkeit sind die Folge. Wenn die Regierungen und Behörden anderer Länder davor die Augen verschliessen, werden sie zu Komplizen dieser Verbrechen, die als Verbrechen gegen die Menschheit geahndet und durch ein Menschenrechtstribunal verurteilt werden müssen. Denn Menschenverachtung und Menschenschinderei, Vertreibungen und Deportationen, Folter und Quälereien treffen und zerstören einzelne Leben, zugleich aber treffen sie die Menschheit in jedem einzelnen Menschen, da nur die Achtung vor jedem Menschen und vor jedem frei gewählten Zusammenleben die Mannigfaltigkeit, die Pluralität und die Besonderheit  der Menschheit überhaupt gewährleistet. Unentwegt und furchtlos müssen die Verbrechen – und die Verbrecher – beim Namen genannt werden, muss für deren Beendigung gekämpft und Sühne grfordert werden. Zugleich aber gilt es, durch gegenseitigen Respekt der je persönlichen Bedürfnisse nach politischer Meinungsfreiheit und freier Lebensgestaltung, des je persönlichen Bedürfnisses nach Glück ein Beispiel für die Achtung der Menschenrechte vorzuleben, in einem Leben der gegenseitigen Unterstützung und Zuwendung: “Der Tag wird mitten in der Nacht geboren, die Freiheit mitten in uns.”

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