„Experiment Kiffen“ – Fluchtversuche – woraus und wohin?

„Experiment Kiffen“

Fluchtversuche – woraus und wohin?

 

Meine Praxis befindet sich im Hinterhof eines Wohnhauses aus dem 19. Jahrhundert, am Rand des ehemaligen Dorfes Hottingen, wo es früher neben den dörflichen Gebäuden, die zum Teil noch stehen, auch Weinberge und Bauernhöfe gab, und in welchem sich heute – zusätzlich zum Schauspielhaus und Kunsthaus, zur Universität und zu zahlreichen Kliniken – zahlreiche Mittelschulen und Privatschulen befinden. Seit etwa eineinhalb Jahren steht täglich ein- bis zweimal ein heute 16jähriger Jugendlicher unter dem Eingangsdach zur Praxis und raucht einen Joint, im Sommer vor der Sonnenhitze geschützt, bei schlechtem Wetter vor Regen und Kälte, geschützt vor allem vor jeder Kontrolle, die ihn ängstigt und die folgenschwer sein könnte. Jedesmal, wenn er dort steht und raucht, spüre ich seine Präsenz. Er kommt (vorläufig) nicht zu mir in Therapie, er steht einfach da im Schutz und im Schatten, und verschwindet wieder nach zehn Minuten. Er ist körperlich schmal, eher kleingwachsen, er hat manchmal verängstigte, manchmal herausfordernde Augen, wirkt aber scheu und verletzlich, nervös und „gestresst“, wie er von sich selber sagt. Ab und zu ergibt sich ein kurzes Gespräch.

Das erste Mal, als ich ihn traf, erschrak er und bat mich, ihn nicht zu „verraten“. Ich fragte ihn, wie er dazu komme zu kiffen. Er habe mit zwölf Jahren begonnen, sagte er, andere Jungen hätten ihm den ersten Joint angeboten und gesagt, er solle mal versuchen. Nun brauche er täglich diesen „Rückzug“. Er halte sonst die Schule und alles andere gar nicht aus. Was „alles andere“ bedeutet und was ihn vor allem belastet, eventuell auf quälende Weise – ob es die Situation zu Hause ist, die Beziehung zum Vater, zur Mutter, ob es ein Mangel an liebevollen und stützenden Beziehungen ist, oder ob es vor allem der Wechsel von der Kindheit zum Erwachsenwerden ist, ein sexueller Hunger, der ihn „stresst“, oder ob es der Mangel an stärkenden Vorbildern ist, generell die Angst vor der Zukunft – darüber hat er nicht gesprochen. Er hat mich bis heute nur als Garantie der Sicherheit aufgesucht, nicht als Therapeutin wie andere Menschen, welche ihre Geschichte, die Bedingungen des Alltags oder sich selbst nur mit Mühe ertragen. Feststeht, dass, was mit zwölf Jahren als Experiment begann, für ihn zum Zwang wurde.

 

Was bedeutet „Experiment“?

Ethymologisch, aus dem lateinischen „experiri“ abgeleitet („es“/aus, „periri“/erfahren, versuchen, erproben), hat das Substantiv die Bedeutung von „Probe“, auch von “Versuch“ und von „Beweis“. Vom Psychischen her verknüpft sich damit ein seit der frühen Kindheit unterschiedlich entwickeltes Bedürfnis, Neues zu lernen, das Wissen durch Erfahrung zu erweitern, die innere und um die äussere Realität zu erproben, auch Grenzen zu überschreiten, die durch Regeln oder Verbote gesetzt sind, eventuell die Erwachsenen – Mutter, Vater etc. -, deren Aufmerksmakeit oder liebevolle Betreuung mangelhaft ist, herauszufordern. Allzu häufig kommt es vor, dass Mütter und Väter überfordert sind, dass sie weder genügend Kenntnisse über ihre Verantwortung haben, dass sie selber eine schlechte oder konfuse Kindheit erlebt haben oder so sehr unter wirtschaftlichem und zeitlichem Druck stehen, dass die Betreuung und Erziehung der Kinder, ob sie noch klein seien oder Jugendliche werden, zu kurz kommt.

Weshalb aber begeben sich Söhne berühmter Politiker und Wirtschaftsbosse in die väterlichen Fussstapfen, wenn sie doch unter Abwesenheit, Geringschätzung und Zurückweisung des mit Karriere überbeschäftigten Vaters gelitten haben?

Die Karrieren der Väter stehen häufig unter dem Antrieb eines Machthungers, der kaum eine genügende Aufmerksamkeit für Kinder zulässt. Söhne von Mächtigen leiden daher oft unter psychischen Mangelerfahrungen und, als Folge, unter geringem Selbstwertgefühl. Durch die affektive Zurückweisung steigt der Vorbild- und Konkurrenzkampf mit dem Vater.

So kommt es immer wieder vor, dass die Söhne einem kompensatorischen Wiederholzwang erliegen. Sie gehen den Weg des abwesenden, bewunderten und häufig zugleich gehassten Vaters wie in einem Wettkampf. Das scheint ihnen die einzige Möglichkeit zu sein, die erlebte Herabsetzung zu korrigieren. Sie verbeissen sich in diesen Weg – eventuell sogar im gleichen Bereich – mit dem Ehrgeiz, dasselbe Ziel zu erreichen, scheitern dabei aber häufig. Denn die Latte liegt viel höher als bei Kindern aus unbelasteten Familien mit frei wählbaren und gestaltbaren Lebenszielen. Leider kommt es häufig vor, dass dieser Weg so bedrängend ist, dass er durch Experimente zu korrigieren versucht wird, die gefährdende Folgen haben können, sei es durch Drogen- oder Alkoholmissbrauch, sei es durch suchthafte Besessenheit in der Realisierung von Zielsetzungen, die trotz allem jenen des Vaters ähnlich sind.

Zusätzlich zu den persönlichen, familiären Beziehungszusammenhängen, die aus vielen Gründen problematisch sind, kommen gesellschaftliche und zeitbedingte Umstände, die eine enorme Beeinträchtigung der inneren Sicherheit bewirken.

Unsere Gegenwart wird noch immer als Postmoderne bezeichnet. Vom Begriff her hat sie an der Moderne teil, lässt diese jedoch hinter sich zurück. Sie bedeutet Kritik und Infragestellung der Moderne, zugleich deren Überschreitung. Sie wurde infolge der enormen Beschleunigung der technologischen Entwicklung, und des einflusses der Technologie auf alle wirtschaftlichen und sozialen Strukturen zur Epoche der grundsätzlichen „Beliebigkeit“. Der Rekurs auf die eine, verpflichtende Vernunft als verbindliche Instanz ist geschwunden. Sie wurde abgelöst durch die unbeschränkte Pluralität der Rekursmöglichkeiten. Was zählt, ist vor allem der materielle oder immaterielle, eventuell hedonistische (aus griech. „hedone“ / Vergnügen, Lust, Begierde, Sinnenlust) Eigennutzen. Die Fragen nach dem Lebenssinn werden häufig abgeschoben, werden dadurch aber zur psychisch belastenden Unruhe und zur Angst. Neben dem Wirklichen nimmt das Virtuelle überhand, neben dem Sagbaren das Unsagbare, neben den Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens und Zusammenlebens die Dekonstruktion und Auflösung. [1] Was die Postmoderne vor allem prägt, schein die Subversion des Wissens[2] zu sein, wie Michel Foucault es ausdrückt, resp. das Wissen um die Brüchigkeit und Unzulänglichkeit allen Wissens, das Misstrauen gegenüber allumfassenden Rezepten und Heilslehren, überhaupt die Absage an das „Totale“ oder „Ganze“. Gleichzeitig hat sich in der Postmoderne auf Grund der Verlorenheit in der Zeitentwicklung, der Virtualität und der völligen Unsicherheit der wirtschaftlichen Sicherheit eine starke Tendenz zu kollektiven Zugehörigkeiten entwickelt, zu fundamentalistisch-religiösen wie zu politisch-rassistischen. Diesen Bewegungen, die ebenfalls suchthafte Eigenschaften und Auswirkungen haben, gehören häufig gerade die jungen Menschen an, die eines Halts bedürfen.

Die aktuellen technologischen, wirtschaftlichen und ökologischen Entwicklungen haben enorme Subsistenzängste geschaffen, deren Konsequenzen wir heute schon erleben. An den Vorteilen kann nur ein Bruchteil der Bevölkerung partizipieren, nur derjenige, der in der Beschleunigung der Marktglobalisierung und der technologischen Innovationen durch spezifische Kompetenz und Effizienz Schritt halten kann. Der andere Teil fühlt sich infolge der Rationalisierungen, Fusionierungen und beschleunigten Innovationen zunehmend marginalisiert und für überflüssig erklärt, auf spürbare Weise durch Entlassung, durch Arbeitslosigkeit, durch materielle Not, durch Sinnverlust oder durch andere Gründe. Auch in der Schweiz gehen ständig Arbeitsplätze verloren, Unsicherheit nimmt überhand. Freiheit kann unter Bedingungen der psychischen und physischen Subsistenznot kaum oder nicht wahrgenommen werden.

Leider wird häufig durch die Konstruktion von Feindbildern, mit Hilfe derer die angeblichen Verursacher der Existenznot benannt und angegriffen werden können, eine Art Rache gesucht. Viele dieser Aspekte erinnern an die dreissiger Jahre. Die breite Zustimmung der Massen Arbeitsloser zum Nationalsozialismus sowie zu den Zielen der antisemitischen und generell rassistischen Aufhetzung muss in Erinnerung bleiben. Vergleichbare Propagandaresultate sind auch unter den heutigen Bedingungen denkbar. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien mit den unsäglichen ethnischen Säuberungen ist ein Beweis dafür. Auf jeden Fall ist festzustellen, dass die Aufteilung unserer Gesellschaft in Effiziente und „Unbrauchbare“, in „marktkonforme“ Menschen und „nicht-konforme“ oder „überzählige“, wie der französische Kulturkritiker Paul Virilio in einem Interview bemerkte, auf exponentielle Weise zunimmt. Zur zweiten Gruppe gehören auch viele junge Menschen insbesondere der unteren Bevölkerungsschichten.

Überzählig zu sein entspricht keinem Grundbedürfnis. Dagegen ist das Bedürfnis nach sicherem Selbstwert, nach Integration, nach einer Aufgabe und einem Platz in der Gesellschaft prioritär. [3]Bei der Nichterfüllung von Grundbedürfnissen sind „Hungerkrankheiten“ die Folge, wie zahlreiche Forscher und Forscherinnen nachgewiesen haben, so u.a. der Basler Psychiater Raymond Battegay[4], Krankheiten der Seele, deren angestrebte Selbstheilung häufig in psychische oder physische „Unersättlichkeiten“ ausartet, die zum Teil als Süchte bezeichnet werden können. Drogensucht, die häufig mit dem Experiment des Kiffens beginnt, ist eine davon. Battegay untersucht verschiedene andere Erscheinungen, so etwa Anorexia nervosa, Adipositas, den „Hunger“ nach Fusion bei narzistisch Gestörten, die unersättliche, destruktive Tendenz zu einer totalen Fusion mit einem Objekt und dessen Zerstörung, Herz-und Kreislauferkrankungen bei behindertem Tatenhunger, den emotionalen Hunger bei lebensbedrohenden Krankheiten und weitere mehr.  Auch die „Unersättlichkeit“ der Workaholics ist dazu zu rechnen, oder jene der Konsum-, Kauf- und Sammelsüchtigen, vor allem auch der ungezügelte, masslose Machthunger.

Schon Sigmund Freud hatte in seinem Essay „Das Unbehagen in der Kultur[5] auf die nicht-zeitbedingten, existentiellen „Ersatzbefriedigungen“ aufmerksam gemacht (oder der „Hilfskonstruktionen“, wie er Theodor Fontane aus dessen Roman „Effi Briest“ zitiert): „Das Leben, wie es uns auferlegt ist,  ist zu schwer für uns, es bringt uns zu viele Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. Um es zu ertragen, können wir Linderungsmittel nicht entbehren. (…) Solcher Mittel gibt es dreierlei: mächtige Ablenkungen, die uns unser Elend geringschätzen lassen. Ersatzbefriedigungen, die es verringern, Rauschstoffe, die uns für dasselbe unempfindlich machen. Irgend etwas dieser Art ist unerlässlich“. Und etwas weiter, nachdem er die „ungezählte Male gestellte Frage nach dem Lebenszweck“ aufgenommen hat,  bemerkt er, dass die Menschen gemeinhin einfach nach dem Glück streben: „Es ist, wie man merkt, einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt. Dies Prinzip beherrscht die Leistung des seelischen Apparates vom Anfang an. An seiner Zweckdienlichkeit kann kein Zweifel sein, und doch ist sein Programm im Hader mit der ganzen Welt, mit dem Makrokosmos ebensowohl wie mit dem Mikrokosmus. Es ist überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstreben ihm; man möchte sagen, die Absicht, dass der Mensch ‘glücklich’ sei, ist im Plan der ‘Schöpfung’ nicht enthalten“.

Freud stellt fest, dass „Glück“ nur als episodisches Phaenomen“ erlebbar sei, dass die „Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation nur ein Gefühl von lauem Behagen“ ergebe. „Wir sind so eingerichtet, dass wir allein  den Kontrast intensiv geniessen können, den Zustand nur sehr wenig“. Er skizziert dann, quasi mit existenzphilosophischem Strich, die Komponenten des sowohl existenz- wie kulturbedingten „Unglücks“: die Körperlichkeit mit ihrer Anfälligkeit für Krankheiten und Leiden, letztlich die Sterblichkeit, sodann die „Aussenwelt mit ihren unerbittlichen, zerstörenden Kräften“, resp. die fremdbestimmten oder externen, nicht zur Disposition stehenden Bedingungen unseres Lebens (etwa die klimatischen oder politischen Verhältnisse unserer Zeit), schliesslich die Bedingungen, die sich aus den Beziehungen zu anderen Menschen ergeben.

Wie kann die soziale Verantwortung wahrgenommen und umgesetzt werden, wenn die Hintergründe und Ursachen der Gefährdung zahlreicher Jugendlicher, in Süchten eine Fluchtmöglichkeit zu finden, erkannt werden? Meine lange Erfahrung bestätigt, dass nicht Strafen und nicht Härte im Kontrollverhalten eine Veränderung der Suchtgefährdung bewirken, sondern ein Eingehen auf die persönlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, die das „Experiment Kiffen“ (häufig verbunden mit anderen gefährdenden „Experimenten“, mit Alkohlkonsum etc.) bewirken, eventuell sogar eine Veränderung dieser Ursachen. Jugendliche brauchen der verlässlichen Begleitung, der stärkenden Vorbilder und der praktisch umsetzbaren, nicht gefährdenden Realisierung ihres Bedürfnisses, das, was „Freiheit“ bedeutet, mit ihren Fähigkeiten und ihren Begabungen in Verbindung zu bringen, eine berufliche und beziehungsmässige Entwicklung als stärkend zu empfinden und so die Angst vor dem Erwachsenwerden überwinden zu können. Zentral ist die Vermittlung der stärkenden Kraft der Selbstverantwortung und der Genugtuung beim Aufbau dessen, was Lebenssinn und Lebenswert bedeutet.

 

[1] Gemäss Jean-François Lyotard, einem der Theoretiker der Postmoderne begann die Postmoderne gegen Ende des letzten und zu Beginn dieses Jahrhunderts, in der Kunst etwa mit Cézanne, Duchamp, Lissitsky, Braque und Picasso, oder in der Literatur mit Proust und Joyce, oder in der Philosophie mit der Existenzphilosophie, der Neuen Kritik, dann der Dekonstruktion, in der politischen Theorie mit der Kommunikationstheorie etc.

[2] Michel Foucault. Von der Subversion des Wissens. Hrg und aus dem Französischen und Italienischen übersetzt von Walter Seitter, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1987.

[3] Simone Weil, eine französische Philosophin, die 1943 im Exil in London starb, entwickelt in ihrem letzten Werk „Enracinement“[3], im ersten Kapitel, eine eigentliche Theorie der Grundbedürfnisse, die noch heute beachtenswert ist. Die Grundbedürfnisse sind allen Menschen eigen, unabhängig von Herkunft und Stand. Sie betreffen das körperliche und das psychische Leben, Körper und Geist jedes Menschen, sowohl als Individuum wie als Glied einer Sozietät. In der Befriedigung der Grundbedürfnisse sind alle Menschen aufeinander angewiesen. Diese Tatsache schafft jene wechselseitige Abhängigkeit, deren Anerkennung eigentlich die Voraussetzung für gerechte Verhältnisse des Zusammenlebens schaffen müsste. Die Begründung der Grundrechte findet sich letztlich in der Tatsache der Anerkennung und Stillung der Grundbedürfnisse der anderen Menschen ab. Simone Weil unterscheidet materielle und immaterielle Grundbedürfnisse, deren Nichterfüllung immer zu Hungererscheinungen führt, ja zum Tod des Menschen führen kann, ob es sich um den Hunger nach körperlicher oder nach geistiger Nahrung handle. Gemäss Simone Weil ist etwa das Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit und Integration, nach Schönheit und nach Zuwendung ebenso prioritär wie dasjenige nach körperlicher Ernährung und nach einem Dach über dem Kopf, und dieses wiederum ebenso unverzichtbar wie jenes nach Freiheit und nach einer zustimmungsfähigen Ordnung.

[4] Raymond Battegay. Hungerkrankheiten. Unersättlichkeit als krankhaftes Phaenomen. Fischer Taschenbuch, Frankfurt a.M. 1992 (Erstausgabe Verlag Hans Huber, Bern 1982).

[5] Sigmund Freud. Das Unbehagen in der Kultur (1929/30). Studienausgabe Bd.9, S.Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1974

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