Wie entwickelt sich das Verhältnis des einzelnen Menschen zur Gesellschaft und zum Staat? – Zweites Kulturengespräche von Schloss Ebenrain vom 8. – 10. 1. 1997

Wie entwickelt sich das Verhältnis des einzelnen Menschen zur Gesellschaft und zum Staat?

Zweites Kulturengespräche von Schloss Ebenrain vom 8. – 10. 1. 1997

 

Meine Grundfrage ist: Wie werden Menschen als gesellschaftliche und als politische Wesen sozialisiert? – Wie wird ein Mensch vom biologischen und psychologischen Einzelwesen, vom Individuum, zum “animal socialis” und zum “zoon politicon”, zum Rechtssubjekt in einem Staat? Welche Art von Verhältnis zu Gesellschaft und Staat erfolgt durch die primären Sozialisationen? Und umgekehrt: Wie wirkt sich der moderne Nationalstaat, wie das System der Demokratie auf den einzelnen Menschen aus?

Meine These ist, dass allen Menschen eine bestimmte Anzahl von Grundbedürfnissen eigen ist, die sich in drei Gruppen einteilen lassen: in die materiellen, die psychisch-geistigen und die sozio-politischen Bedürfnisse. Deren Erfüllung in der Gesamtheit ist die primäre Voraussetzung einerseits für das individuelle Überleben und für die individuelle Entfaltung, zugleich aber für mehr: für ein gelingendes Leben des einzelnen Menschen in der Pluralität der verschiedenen Menschen sowie für das Zusammenleben der vielen verschiedenen Menschen als Gesamtheit, allen Defizienzen und Schwierigkeiten, allen Paradoxien von Existenz und Zusammenleben zum Trotz. Allerdings bedarf es zur Organisation und Sicherung der Verteilung, resp.zur Partizipation aller an den lebensnotwendigen materiellen, psychisch-geistigen und sozio-politischen Güter verbindlicher kultureller Strukturen.  Diese sind sowohl gesellschaftlicher wie politischer Natur. Die beiden Bereiche, für welche immer Kultur, eine bestimmte Kultur Voraussetzung ist, vermischen sich zwar, sind in der Analyse jedoch auseinanderzuhalten.

Das Gesellschaftliche entwickelt sich aus der Struktur der Familie, resp. aus der Tatsache der gegenseitigen Abhängigkeit und Bedürftigkeit: aus der Notwendigkeit In unserem Kulturkreis findet sich der Prototyp des Gesellschaftlichen im griechischen “oikos”, dem Bereiche der Versorgung, der Unfreiheit und Sprachlosigkeit, der Ungleichheit, da an dessen Spitze der Familienvater steht, der einzige, der auch dem Bereich der “polis” zugehört, dem Bereich des Handelns aus Freiheit, zu dessen Entlastung Frauen, Kinder, Gesinde und Sklaven in einem System der Unterwerfung gut funktionieren müssen (an Stelle der Sklaven sind heute die rechtlosen Ausländer und Ausländerinnen, insbes. die sog. “Illegalen” zu verstehen). Das Politische dagegen ist der Bereich der Freiheit, d.h. der Be-freiung vom Joch der Bedürfniserfüllung aus der Notwendigkeit, sondern auch jener der Gleichheit, da ja die Ungleichen davon ausgeschlossen sind. Zugleich aber ist es auch der Bereich, der das Interesse all dessen, was über die vielen einzenen “oikos”-Bereiche hinausgeht, wahrnimmt: das, was “inter est”, was “zwischen” allen “ist”: etwa die Friedenssicherung, das Aushandeln von Veträgen mit anderen Städten oder anderen politischen Einheiten, der Handel und die Bedingungen des Handels, der Bau von Strassen, die Sicherung der Wasserzufuhr und der Abwässer, die Sicherung des Totenfriedens – kurz die Verwaltung und Organisation des Zusammenlebens der vielen Verschiedenen, der Gleichen und der Ungleichen. (Wer das Werk Hannah Arendts kennt, weiss, wie viel Gewicht sie der Unterscheidung des Politischen vom Gesellschaftlichen zumisst. Die Entwicklung totalitärer Regimes erklärt sie zu einem grossen Teil durch das Überhandnehmen des Modells des patriarchalen Ungleichheitssystems des Gesellschaftlichen, das auf der Herrschaft eines einzigen – oder weniger – über viele beruht, mithin auf Herrschaft und Unterwerfung, über das Modell des auf Freiheit und Gleichheit aufgebauten Modells des Politischen).

Während Jahrhunderten waren die Bereiche des Gesellschaftlichen und des Politischen nach dem Modell der griechischen Antike fixiert. Aufgebrochen wurden sie durch die Vorläuferbewegungen erst des Liberalismus, dann des Sozialismus und entsprechende weittragende Manifeste – etwa die Habeas Corpus-Akte von 1679, welche den Schutz der personalen Integratität vor willkürlicher Verhaftung und Inhaftierung vorsahen, die Bill of Rights von Virginia von 1776, welche der von Montesqieu in “De l’esprit des Lois” von 1748 propagierten “séparation des pouvoirs” (merkwürdig, wie im Deutschen der Begriff “pouvoir” zu “Gewalt” wird) in der einen knappen Monat später erfolgenden Unabhängigkeitserklärung der 13 nordamerikanischen Staaten Verfassungsdignität gab, dann die “Déclaration des droits de l’homme” von 1789, nicht “Menschen”rechtserklärung, sondern “Männer”rechtserklärung des Bürgertums, die sowohl die Frauen wie das Proletariat ausschloss, wie Olympe de Gouges mit ihrer “Déclaration des droits de la femme et citoyenne” von 1791 und Flora Tristan mit ihrer “Union ouvrière” von 1843 deutlich machten, schliesslich 1848 das “Kommunistische Manifest” von Karl Marx (der erste Band des “Kapitals” folgt 1867), die sich bildenden Arbeiterassoziationen und sozialistischen parteien, schliesslich die sozialistischen und kommunistischen Revolutionen sowohl in Deutschland wie im zaristischen Russland, insbsondere die folgenschwere Oktoberrevolution von 1917.

Das geschichticihe Verhängnis im ausgehenden 18. sowie im Lauf des 29. Jahrhunderts war, dass die sich bildenden und in der Folge auch deklarierten neuen Verfassungen einher gingen mit der sich im Lauf der Industriealisierung verfestigenden Klassenverhältniss, d.h. Verhältnisse der Abhängigkeit und der Ungleichheit. So wurden die Verfassungen des 19. Jahrhunderts, verkürzt gesagt, in erster Linie zu Garantieerklärungen der bürgerlichen Vorherrschaft. Das Prinzip der Freiheit, losgelöst vom Prinzip der Gerechtigkeit und der Sozialpflichtigkeit des Kapitals, festigte, im Sinn der griechischen Polis, vor allem die Handlungsmöglichkeiten der besitzenden Klasse, während das Prinzip der klassenfreien Gleichheit, wie es sich vor allem in der bolschewistischen, stalinistischen Realität durchsetzte, oder der sog. rassischen Gleichheit, wie sie im Nationalsozialismus Tatsache wurde, die Freiheit, daher das Recht auf Differenz, ausschloss.

Das ursprüngliche Konzept des Kommunismus, wie Marx es in den “Ökonomisch-philosophischen Manuskripten” von 1844, den sog. “Pariser Manuskripten”, entwickelt hat, richtet sich nicht gegen das Privateigentum, sondern gegen die ungenügende Partizipation der “Produktivkräfte”, d.h. der arbeitenden Menschen an dem von ihnen geschaffenen Mehrwert und damit am progressiven allgemeinen Reichtum. Es handelt sich um eine komplizierte, analytische  Auseinandersetzung um Ökonomie und bürgerliche, mithin politisch gefestigte Eigentumsverhältnisse, bei der klar wird, dass der einzelne Mensch in der Stillung seiner Grundbedürfnisse zu kurz kommt. Diesen grundsätzlichen, existentialen Mangel bezeichnet Marx als Entfremdung.

Ich möchte auf den Entfremdungsbegriff noch etwas näher eingehen, da sich mit seiner Hilfe, scheint mir, am klarsten das Verhältnis des einzelnen Menschen zu Gesellschaft und Staat illustrieren lässt.Der Begriff wurde zur Grundlage des linken Segments der Existenzphilosophie (vor allem der französischen; Simone Weil spricht allerdings nicht von “aliénation”, sondern von “déracinement”, Entwurzelung) wie zu jener der Kritischen Theorie und jeglicher Befreiungspolitik.

Als Marx die “Ökonomisch-philosophischen Manuskripte” verfasst, weile er seit einem Jahr als Emigrant, als Flüchtling in Paris. Eigentlich hätte er Philsophieprofessor werden wollen. Das Studium der Antike bot ihm die breite propädeutische Vorbereitung zum Studium des Menschen – der Natur des Menschen, wie er schrieb – und der Gesellschaft. Wären die Zeitbedingungen damals freier und ruhiger gewesen, weniger von antidemokratischen und antijüdischen Kräften beherrscht, hätte nicht polizeitstaatliche Repression die freiheitshungrige Jugend in Auflehung und Aufruhr versetzt, hätte sich sein Wunsch nach einer akademischen Karriere wahrscheinlich erfüllt. So aber wurde er, der aus einer Rabbinerfamilie stammte,  zum politischen Journalisten und zum Redakteur der “Rheinischen Zeitung” in Köln, schliesslich, wie ich schon sagte,  zum Emigranten, der ab 1843 in Paris begann, zusammen mit Arnold Ruge und weiteren Emigranten die “Deutsch-Französischen Jahrbücher” herauszugeben und sich über die Fehlentwicklung der Gesellschaft den Kopf zu zerbrechen. Allerdings hat Marx trotz seiner breiten Kenntnisse der antiken Literatur übersehen, dass sich gerade in der griechischen Mythologie eine kleine Geschichte findet, welche die Brücke zwischen seinem eigenen wissenschaftlichen und seinem gesellschaftsverändernden Bedürfnis schlagen könnte (resp. zwischen dem wissenschaftlichen und dem utopischen Kommunismus), und welche zugleich seiner Entfremdungstheorie als Theorie der Verletzung, ja der Negation der menschlichen Bedürftigkeit, resp. der wichtigsten Grundbedürfnisse wie als Theorie deren notwendigen Einforderung eine – buchstäblich klassische – Abstützung verleiht.

Ich will die Geschichte kurz wiedergeben. Sie handelt von Eros und findet sich in Platons “Symposion” (was weniger “Gastmahl”, denn “Trinkgelage” bedeutet). Sokrates hat sie den mit ihm um die Tafel versammelten jungen Männern erzählt, als Korrektur der irrigen Meinungen über die Natur des Eros, wobei Sokrates wiederum die Geschichte von Diotima vernommen hatte, der Seherin aus Mantineia. Diotima zufolge war Eros keineswegs vornehmer Abstammung, wie ständig erzählt wurde, und weder war Zeus sein Vater noch Aphrodite seine Mutter. Es verhielt sich völlig anders. Als Aphrodite zur Welt kam, wurde zu ihrer Ehre im Olymp ein grosses Fest gefeiert, zu welchem alle Götter und Göttinnen geladen wurden. Nur Penia, die Bedürftigkeit, hatte keinen Zutritt zum Fest. Da bemerkte sie, die ausgeschlossen war, wie Poros, der göttliche Wegefinder, müde vom Essen und Bechern, sich im Schatten eines Baumes ausruhte. Sie legte sich neben ihn und empfing von ihm den Eros. Daher sei der Eros, führt Sokrates aus, weder fein noch schön, sondern, seiner mütterlichen Herkunft entsprechend, immer der Dürftigkeit Genosse, er sei unbeschuht und rauh und schlafe vor den Türen im Freien. Zugleich aber gleiche er seinem Vater, er strebe nach Einsicht, nach dem Guten und nach dem Schönen, er sei einfallsreich und erfinderisch, doch was er sich schaffe, gehe ihm vorweg wieder verloren.

Hier hätte Marx einhaken können. Dass das Schöne und das Gute, wonach die Menschen mit aller Inständigkeit streben, vorweg verloren geht, dass alle Anstrengungen vergeblich sind, dass sie um das Resultat ihres Strebens, ihrer Arbeit betrogen und ständig in die  Bedürftigkeit zurückgeworfen werden, ist das entsetzliche Leiden, das Marx in den sog. “Pariser Manuskripten” von 1844 als “Entfremdung” bezeichnet. Der Begriff stammte ursprünglich von Hegel, der in seinen “Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte” festhielt, dass die menschliche Geschichte zugleich die Geschichte der Entfremdung des Menschen sei. Der Mensch sei nie, was er sein sollte, und er sollte sein, was er sein könnte. Eine knappe Formel, welche Hegels Kritik an der – dem Wesen nie gerecht werdenden – Existenz zusammenfasst. Etwa hundert Jahre später schrieb Walter Benjamin im Exil in Paris in seinem Essay über den “Begriff der Geschichte”, dass “niemals ein Dokument der Kultur sei, das nicht zugleich eines der Barbarei sei”. Und einige Zeilen weiter, dass “die Tradition der Unterdrückten uns darüber belehre, dass der ‘Ausnahmezustand’, in dem wir leben, die Regel sei”. Für den jungen Marx, wiederum hundert Jahre früher, ebenfalls als Emigrant in Paris, wurde der Entfremdungsbegriff zum Instrument seiner Gesellschaftskritik, der es ihm erlaubte, die Folgen einer durch ausschliessliches Profitstreben und zunehmende Arbeitsteilung geprägte Entwicklung herauszuarbeiten, resp. die Negativfolgen in der Dialektik des Fortschritts. Entfremdung bei Marx heisst Abkoppelung des Menschen vom Produkt seiner Arbeit, damit Entzweiung des Menschen mit sich selbst, Zerstörung seiner Individualität, Versklavung, ja Verdinglichung des Menschen. Marx zielte mit seiner Kritik nicht einfach auf höhere Löhne ab oder auf gleiche Einkommen für alle (das war eine Forderung von Pierre Joseph Proudhon, welche dieser im 1840 erschienen Werk “Qu’est-ce que la propiété?” erhoben hatte), wie er immer wieder falsch interpretiert wurde, er zielte schon gar nicht auf eine Aufhebung der Freiheit ab, wie dies der totalitäre Bolschewismus durchsetzte, im Gegenteil: Marx strebte in diesen frühen Werken nach einer Wiederherstellung sinnhafter Existenz, oder, wie Erich Fromm in einem Kommentar festhielt, nach “einer geistigen Emanzipation des Menschen, nach seiner Befreiung aus den Fesseln der wirtschaftlichen Bestimmtheit, um ihn zur befähigen, zur Einheit und Harmonie mit seinen Mitmenschen und der Natur zu finden”.

Indem Marx die Entfremdung der Menschen untersucht, thematisiert er indirekt  die Frage der Grundbedürfnisse. Deren massive Nichterfüllung erzeugt jenes geistige, materielle und soziale Elend, insbesondere jene Phaenomene der Verlassenheit und der Sinnlosigkeit, die Marx als Entfremdung diagnostiziert. Marx stellt fest, dass die Menschen einander gegenseitig  ständig neue Bedürfnisse suggerieren, doch handelt es sich dabei um unechte, um sekundäre oder tertiäre Bedürfnisse, zu deren Erfüllung in erster Linie Geld, viel Geld erfordert ist. Dahinter steht das manipulative, egoistische und auf Bereicherung ausgerichtete Bestreben, das durch die Erzeugung sekundärer Bedürfnisse immer weiter von der Erfüllung der Grundbedürfnisse wegführt. Im III. Manuskript von 1844 finden sich diese Einsichten klar formuliert: “Jeder Mensch spekuliert darauf, dem anderen ein neues Bedürfnis zu schaffen, um ihn zu einem neuen Opfer zu zwingen, um ihn in eine neue Abhängigkeit zu versetzen und ihn zu einer neuen Weise des Genusses und damit des ökonomischen Ruins zu verleiten. Jeder sucht eine fremde Wesenkraft über den anderen zu schaffen, um darin die Befriedigung seines eigenen eigennützgen Bedürfnisses zu finden. Mit der Masse der Gegenstände wächst daher das Reich der fremden Wesen, denen der Mensch unterjocht ist, und jedes neue Produkt ist eine neue Potenz des wechselseitigen Betrugs und der wechselseitigen Ausplünderung. Der Mensch wird umso ärmer als Mensch, er bedarf umso mehr des Geldes, um sich des feindlichen Wesens zu bemächtigen, und die Macht seines Geldes fällt gerade in umgekehrtem Verhältnis als die Masse der Produktion, das heisst seine Bedürftigkeit wächst, wie die Macht des Geldes zunimmt. Das Bedürfnis des Geldes ist daher das wahre, von der Nationalökonomie produzierte Bedürfnis und das einzige Bedürfnis, das sie produziert. Die Quantität des Geldes wird immer mehr seine einzige mächtige Eigenschaft;  wie es alles Wesen auf seine Abstraktion reduziert, so reduziert es sich in seiner eigenen Bewegung als quantitatives Wesen. Die Masslosigkeit und Unmässigkeit wird sein wahres Mass.”

Marxens Analyse erfasst alle Bereiche der in – willkürlich geschürte – Gelüste oder in Ausbeutung pervertierten Grundbedürfnisse, der materiellen ebenso wie der psychischen und der sozio-politischen.  Entfremdung ist das Resultat sowohl der “Raffinierung” wie der “Verwilderung” und “Verrohung”, ein völliger Verlust der Untrüglichkeit im Wissen, was wirklich not tut. Marxens Text liest sich wie eine prophetische Klage: “Selbst das Bedürfnis nach freier Luft hört beim Arbeiter auf, ein Bedürfnis zu sein, (…) Licht, Luft etc., selbst die einfachste tierische Reinlichkeit hört auf, für den Menschen ein Bedürfis zu sein”. Der Arbeiter lebe in miefigen Kellerwohnungen, in “Höhlenwohnungen“, die er sogar bezahle, aus Angst, aus diesen hinausgeworfen zu werden. “Die rohesten Weisen der menschlichen Arbeit kehren wieder, wie die Tretmüle der römischen Sklaven (….)”, und “die Vereinfachung der Maschine, der Arbeit wird dazu benutzt, um den erst werdenden Menschen, das Kind, zum Arbeiter zu machen, wie der Arbeiter ein verwahrlostes Kind geworden ist. Die Maschine bequemt sich der Schwäche des Menschen, um den schwachen Menschen zur Maschine zu machen.” Marx erkennt, dass die Sinnentleerung der menschlichen Arbeit die Sinnentleerung der menschlichen Existenz nach sich zieht. Immer wieder betont er, dass das dem Arbeiter (die Arbeiterin vergisst er systematisch) zugestandene dürftige Überleben, das keine Sinnlichkeit und nicht den geringsten Luxus zulasse, nicht genügen könne. “Je weniger du isst, trinkst, Bücher kaufst, ins Theater, auf den Ball, zum Wirtshaus gehst, denkst, liebst, theoretisierst, singst, malst, fichtest etc., um so mehr sparst du, um so grösser wird dein Schatz, den weder Motten noch Staub fressen, dein Kapital. Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äusserst, um so mehr hast du, um so grösser ist dein entäussertes Leben, um so mehr speicherst du auf von deinem entfremdeten Wesen.”

Für Marx steht unmissverständlich die mit dem kapitalistischen Ziel der Profitsteigerung verbundene Überflussproduktion im Zentrum der Kritik, die Verführung des  einen Teils der Menschen zur Anhäufung von Überflüssigem und die Instrumentalisierung des anderen Teils zu dessen Herstellung, ein sinnloser Abtausch von Lebensqualität gegen Quantität, sei es in der Akkumulation, sei es in der Fliessbandproduktion.  Was das Ausmass an Entfremdung betrifft, meint Marx, dass “Verschwendung und Ersparung, Luxus und Entblössung, Reichtum und Armut gleich” seien. So oder so ist eine trostlose menschliche Verarmung der Fall. “Und nicht nur deine unmittelbaren Sinne wie Essen etc. musst du absparen, auch Teilnahme mit allgemeinen Interessen, Mitleiden, Vertrauen etc., das alles musst du dir ersparen, wenn du ökonomisch (d.h. durch das kapitalistische System definiert, M.W.) sein willst, wenn du nicht an Illusionen zugrunde gehen willst.” Marx erkennt, dass das sinnentleerte Leben, das seinen eigenen Wert nur nach quantitativen Kriterien, resp. nur in Geldkategorien misst, auch ausschliesslich nach quantitativen Kriterien gemessen wird und dadurch wertlos, ja überflüssig wird. “Sogar das Dasein des Menschen ist ein purer Luxus, und, wenn der Arbeiter ‘moralisch’ ist (…), wird er ‘sparsam’ sein an Zeugung. Die Produktion der Menschen erscheint als öffentliches Elend.”

Marx spürt schon in der Anlage des Kapitalismus jene menschenverachtende totalitäre Tendenz heraus, die sich in der Kombination von Imperialismus und Rassismus verdichten und im Faschismus, insbesondere im Nationsozialismus aufs entsetzlichste zuspitzen wird. Hannah Arendt hat in ihrer 1955 erschienen Analyse des Zustandekommens des Nationalsozialismus (“Urspünge und Elemten totaler Herrschaft”) eben dies als entscheidend herausgearbeitet: dass ein totalitäres System sich dadurch kennzeichnet, dass es Menschen für überflüssig erklärt.

Der durch den Kapitalismus, für den bei Marx zumeist die Chiffre “Privateigentum” steht, geschaffene Ungleichwert menschlichen Lebens, mit der Konsequenz dessen Wertlosigkeit, könnte nur über eine radikale Umkehr korrigiert werden. Was als “Abschaffung des Privateigentums” später in der programmatischen Realisierung zu verhängnisvoller Gewalt und zu einer ideologischen Aporie führte, entsprach ursprünglich – nicht in der Konsequenz –  Marxens Konzept der Gleichheit. Dieses Konzept lag seinem ursprünglichen, noch in keiner Weise parteimässig verfestigten Kommunismus zugrunde. Er  bezweckte damit nichts anderes und nicht geringeres  als die Aufhebung der Entfremdung, resp. die Restitution des gleichen Menschseins in jedem Menschen, dessen Werthaftigkeit (oder “Würde”, wie es in der Menschenrechtserklärung von 1948 heissen wird) keiner anderen Begründung als derjenigen des Menschseins selbst bedarf, oder, mit anderen Worten, in der Tradition des deutschen Idealismus, die sich in der Reflexion des Bewusstsein, im Selbstbewusstsein, konstituiert. Ebenfalls im III.Manuskript von 1844 findet sich diese Absicht klar formuliert: “Die Gleichheit ist nichts anderes als das deutsche Ich = Ich in französische, das heisst politische Form übersetzt. Die Gleichheit als Grund des Kommunismus ist seine politische Begründung und ist dasselbe, als wenn der Deutsche ihn sich dadurch begründet, dass er den Menschen als allgemeines Selbstbewusstsein fasst.”

Marx war sich im Klaren, dass das wichtigste Grundbedürfnis des Menschen die Anerkennung und der Respekt seines Selbstwerts als Mensch ist (seiner Würde, wie wir heute sagen), und dass alle übrigen Grundbedürfnisse, deren Mangel er im entfremdeten Leben als schwerwiegendes Leiden, als Verarmung und als Verelendung diagnostiziert, sich aus diesem ersten und wichtigsten Grundbedürfnis ableiten – etwa das Bedürfnis nach  Wissen, nach Bildung, nach Partizipation an den überindividuellen, den allgemeinen Interessen, nach Vertrauen, nach Musse, Erholung und nach Schönheit. Er war sich jedoch auch im Klaren, dass mit der Erkenntnis dieser Tatsache für das tatsächliche Leben der Menschen noch nichts gewonnen war, resp. dass die Philosophie nicht genügt, um die Entfremdung aufzuheben. Er schreibt, in Fortsetzung der oben zitierten Erläuterung von “Gleichheit”: “Um den Gedanken des Privateigentums aufzuheben, dazu reicht der gedachte Kommunismus vollständig aus. Um das wirkliche Privateigentum aufzuheben, dazu gehört eine wirkliche kommunistische Aktion. Die Geschichte wird sie bringen und jene Bewegung, die wir in Gedanken schon als eine sich selbst aufhebende wissen, wird in der Wirklichkeit einen sehr rauhen und weitläufigen Prozess durchmachen. Als einen wirklichen Fortschritt müssen wir es aber betrachten, dass wir von vornherein sowohl von der Beschränktheit als dem Ziel der geschichtlichen Bewegung und ein sie überbietendes Bewusstsein erworben haben.”

Wenn wir das, was der damals sechsundzwanzigjährige Emigrant in Paris  wie ein Visionär vorauszusehen glaubte – den “rauhen und weitläufigen Prozess”, aber auch die “Beschränktheit als das Ziel der geschichtlichen Bewegung” mit demjenigen Prozess vergleichen, der 1918 begann und 1989 zu Ende kam, so müssen wir feststellen, dass Marxens Entwurf und die sowjetkommunistische Realität sehr verschiedene, sehr ungleiche Konzepte beinhalteten. Von Gleichschaltung, von Entmündigung und Unfreiheit, vom Terror der  Gesinnungskontrolle findet sich nichts in den marxistischen Frühschriften, die, wie ich erst neulich erfuhr, innerhalb des sowjetrussischen Herrschaftsbereichs während langer Zeit gar nicht verfügbar waren, resp. gar nicht gelesen wurden durften. Die Entfremdung der Menschen wurde auch im sowjetkommunistischen System vorweg generiert und petrifiziert, da, nicht anders als Kapitalismus, der einzelne Mensch zu einem ihm selbst fremden Zweck instrumentalisiert wurde, sei es zur Steigerung des – staatskapitalistischen – Mehrwerts, sei es zum ideologischen Zweck der Herrschaftssicherung. Weder wurde die extreme – zutiefst entfremdende – industrielle Arbeitsteiligkeit aufgehoben -, das eigentliche Instrument der kapitalistischen Mehrwertakkumulation, noch wurde die Abhängigkeit vom Geld zum Motor und Ziel einer eventuell dadurch tatsächlich zu verbessernden Existenz, noch wurden die anderen systembedingten Mängel behoben, die den Menschen in die Ungleichwertigkeit und in die Wertlosigkeit versetzen, im Gegenteil. Die Einsicht drängt sich auf, dass die realkommunistische “Abschaffung des Privateigentums” etwas ganz anderes war als das, was Marx als Aufhebung von Entfremdung – als “Negation der Negation” – entworfen hatte, ja dass das marxistische Konzept überhaupt noch nie realisiert wurde.

Was sich allmählich zu realisieren beginnt, ist höchstens jene von Marx im I. Band des “Kapitals” als Bedingung für das “Reich der Freiheit” geforderte Reduktion der Arbeitszeit, dies jedoch nicht gemäss der ursprünglichen sozialistischen Zielsetzungen einer Befreiung aus dem “Reich der Notwendigkeit” mit seinen heteronom definierten Zwecken, zu deren Erfüllung die Menschen mit all ihren Energien und und all ihrer Lebenszeit/Arbeitszeit instrumentalisiert werden, sondern infolge jener dem Kapitalismus eigenen Masslosigkeit, die sich die Fortschritte in der Technologie und die globale Flexibilisierung der Produktion zunutze macht, um Menschen zur Kurzarbeit zu verurteilen oder sie ganz aus dem Arbeits- und Erwerbsprozess auszuschalten. Damit geschieht die Verkürzung der Arbeitszeit auch wieder unter dem heteronomen Diktat jener weniger, welche für sich selbst auf Kosten der vielen eine Profitsteigerung anstreben – und kann daher in den wenigsten Fällen als Befreiung von der Arbeit und als Möglichkeit einer autonom gewählten Tätigkeit verstanden werden, wie Marx dies als wirklichen Fortschritt und letztlich als Erfüllung eines wichtigsten Grundbedürfnisses postuliert hat.

Doch zurück zum 19. Jahrhundert: Was Marx ausser acht liess, vermutlich weil er sich selbst innerhalb des patriarchalen Herrschaftssystems nicht zum Gegenstand der Selbstkritik machen wollte und daher auch das Patriarchat nicht als (Herrschafts)System der Entfremdung untersuchte, ist die Tatsache der zusätzlichen Entwertung und Wertlosigkeit der Frauen. Wenn tatsächlich die Arbeit (mithin der Arbeitslohn) das Konstituens des Kapitalismus ausmacht, wie Marx immer wieder festhält, so hätte der so viel geringere Arbeitslohn der Frauen (und der wiederum noch viel geringere der Kinder) für die gleiche Arbeit ihn eigentlich zutiefst beunruhigen müssen. Dem aber war nicht so. Er setzte sich zwar vehement, vor allem im I.Band des “Kapitals”, gegen die industrielle “Vermarktung” der Kinder und der jungen Frauen ein, doch er machte den zusätzlichen systemimmanenten Affront des Kapitalismus  – jenen der geringeren Frauenlöhne und der noch viel geringeren Kinderlöhne – in diesem Sinn nicht zum Thema, entsprach doch der geringere Arbeitslohn jener generellen Minderwertigkeit der Frauen, die das patriarchale System propagierte resp. heute noch propagiert.

Marxens Unterlassung erscheint umso signifikanter, als er, der damals in Paris lebte, direkt oder über Arnold Ruge die Arbeiten der 1844 in Bordeaux gestorbenen Flora Tristan kennen musste, dieser unermüdlich kämpferischen, furchtlosen französisch-peruanischen Frühfeministin und Frühsozialistin, deren Leben ich eigentlich erzählen müsste, damit die Bedeutung ihrer theoretischen Arbeit und ihrer Versuche einer tatsächlichen Veränderung der Lebenszusammenhänge der Arbeiterinnen und Arbeiter klar würde. Nur so viel: Flora Tristan, , 1802 geboren, verfügte über kein akademisches Studium wie Marx, ja sie hatte nicht einmal die öffentliche Grundschule besuchen können. Sie kannte die unbeschreiblich elenden Lebens- und Wohnverhältnisse des französischen Industrieproletariats aus der Nähe,  auch jene in London, wohin sie dreimal gereist war, und ebenso die Armutsverhältnisse in Peru,  dem Herkunftsland ihres Vaters, das sie während zweieinhalb Jahren bereist hatte. Sie erkannte nicht nur die Gesetzmässigkeit der menschenverachtenden Ausbeutungsverhältnisse, sondern ebenso deren Verdoppelung für Frauen durch die Geschlechterhierarchie, die sich auch im Proletariat ungeschmälert durchsetzte. “Jeder Proletarier hat noch eine Frau, die er unterdrücken kann”, schrieb sie in ihrem kurz vor dem Tod fertiggestellten Buch “Union ouvrière” (“Arbeiterunion”). Für sie stand fest, dass Frauen einer guten Bildung bedurften, um ihre Lebensverhältnisse und ihre Rechtsverhältnisse zu verbessern. Und ebenso stand für sie fest, dass Lernen und Wissen nicht geschlechtsspezifische Bedürfnisse, sondern Grundbedürfnisse aller Menschen sind, dass die Rede von geschlechtsspezifischen Eigenschaften  ein aptriarchaler Unterdrückungstrick ist, der durch die geschlechtsspezifische Sozialisation von Knaben und Mädchen perpetuiert wird (womit sie den Grundgedanken von Mary Wollstonecrafts “Vindication of the Rights of Women” aufnahm und verstärkte). Dass allein durch die Erfüllung der Grundbedürfnisse die schreckliche Demoralisierung der Arbeiterschaft korrigiert werden könnte – das, was Marx als deren “Verrohung” bezeichnet -, vertrat sie nicht nur in diesem letzten Buch, sondern in all ihren Werken (“Pérégrinages d’une Paria”, Promenades dans Londres etc.). Sie kämpfte für die Errichtung von sog. “Arbeiterpalästen”, einer Art Volkshäuser, die allen Arbeiterinnen und Arbeitern gemeinsam gehören würden, in denen die Kinder und die nicht mehr arbeitsfähigen alten Menschen eine Obhut fänden, wo vielfältige Weiterbildung angeboten würde und wo die in prekären, engen und hässlichen Wohnverhältnissen lebenden Menschen einen Ort der Musse und der Erholung fänden.

Exkurs: Mary Wollstonecraft’s Feststellung, dass “der Begriff eines Geschlechtscharakters die Moral zerstöre“, bot sich mir als Schlüssel zu Fragen an, die in dieser Weise, scheint mir, noch nicht genügend aufgearbeitet wurden. Hätte alles Entsetzliche, was Auschwitz beinhaltet, verhindert werden können, wenn die Frauen und Männer der Eltern- und Grosselterngeneration gegen die Instrumentalisierung ihrer selbst aufgestanden wären, wenn die Männer sich zur Wehr gesetzt hätten gegen die Forderung, “hart” zu sein, wie es dem weiterhin tradierten “Geschlechtscharakter” entsprach, sich bedingungslos einer Autorität zu unterwerfen, mit gedankenloser Präzision Befehle auszuführen, eigene Stärke aus der Verachtung der Schwächeren zu schöpfen? – wenn die Frauen, statt”mild” zu schweigen, weil “Schweigen Gold war”, wie sie gelehrt wurden – auch wiederum in Befolgung eines so deklarierten typisch weiblichen Geschlechtscharakters, wenn sie im Gegenteil laut gegen die Unerträglichkeit ihres Missbrauchs als Dienerinnen der Männer, als Verschönerinnen des Hauses, als ewig duldende und tröstende Mütter der harten Männer protestiert und die Verachtung ihrer selbst, die damit verbunden war, als unerträglich deklariert hätten, statt diese Verachtung zu internalisieren, zu somatisieren, an die Töchter weiterzugeben und die Söhne mit dem Frauenbild der Unterwerfung dem Vaterland zu überlassen?

Viele dieser Fragen wurden als feministische Arbeit der Identitätsfindung geleistet, etwa bei Luce Irigaray, bei Judith Butler, bei Muriel Dimen oder bei Jessica Benjamin findet. Die Schwierigkeiten gerade der weiblichen – aber nicht ausschliesslich der weiblichen – Identitätsfindung hängen, vermute ich, mit den fehlenden Müttern und Vätern als Identifikationsfiguren des sprachfähigen, selbstdefinitionsfähigen Widerstandes gegen deren  eigene demütigende Instrumentalisierung zusammen, vor allem aber des fehlenden Widerstandes gegen eine von entsetzlichstem Herrschaftsmissbrauch gezeichnete Welt, eine Welt der hypostasierten patriarchalen Verachtung aller Differenz, der gegenüber die Väter und die Mütter in die Sprachlosigkeit fielen oder, eventuell, gar in die Komplizenschaft. Die feministische Arbeit der jüngsten Jahre ist daher gekennzeichnet durch Trauer, dies vor allem, sodann durch das Bemühen, über die Geschlechts- und Geschlechterdifferenz hinaus die Notwendigkeit der Anerkennung der unendlichen Pluralität von Differenz im Bild des Menschen nachzuweisen und anzunehmen, auch jener Differenz, die als Fremdheit und als immer wieder andere Fremdheit erschreckt.

Ganz besonders ist in diesem Zusammenhang auf die Arbeit Sarah Kofmans hinzuweisen. Sie, die schrieb, dass nach Auschwitz keine Erzählung mehr möglich sei, bestand auf der Pflicht aller, die das Grauen der Gewalt erkannt haben und sich ihm widersetzen, zu sprechen, auch wenn zu wenig oder zu viele Wörter verfügbar seien, auch wenn die Wörter durch den totalitären Verrat selber verletzt worden waren. “Ich” war für Sarah Kofman so ein Wort. Im Herrschaftsbereich der Nazis gab es nur die “Töter-Ichs”, während für die “Untermenschen” kein “Ich” mehr galt und kein Eigenname, kein Gesicht, kein Blick, keine Geschichte, keine Beziehung, kein Bedürfnis, keine Welthaftigkeit – bloss eine Nummer, die in die Körper eingebrannt wurde und die von bellenden Stimmen in die Baracken und über die Appellplätze gebellt wurde. Sarah Kofmans letztes schmales Werk vor ihrem Tod (den sie sich selbst gab) im Jahre 1994 war eine vorsichtige, selbst im Nachlesen schmerzliche, fragmentierte Spurensicherung ihres eigenen Ich (Rue Ordener – Rue Labat) über das Erzählen des Erinnerbaren aus der Kindheit und aus der Zeit des Heranwachsens, über das Benennen der Leerstellen, der Brüche, der sprachlos gebliebenen Verluste, der Deportation und der Tötung des Vaters in Auschwitz, über das Nachspüren der traumatisierenden Identifikationsdiffusion zwischen Mutter und Wahlmutter – eine Spurensicherung über die Sprache, nachdem sie mit grosser Sorgfalt und vorbildlichem Respekt in ihrem ganzen Werk den Versuch der Rückgewinnung des Ich in den Erzählungen der Überlebenen aus den Lagern und den Stätten der Vernichtung, der Vernichtung des individuellen Ich und des Menschheits-Ich, zu analysieren und zu verstehen versucht hatte. Philosophie, Psychoanalyse und feministische Fragestellungen waren für Sarah Kofman komplementäre Möglichkeiten der Identitätsfindung, so wie “die hilfreiche Hand”, die im Lager genügte, um “das eigene ‘Ich’, das kein ‘Ich’ mehr sein konnte, zu ergänzen”, wie es im Band “Erstickte Worte” heisst. Das Schreiben, das Zuhören, das Verstehen und Sprechen werden bei Sarah Kofman zur Möglichkeit, die Bilder aus der Sprachlosigkeit zu befreien und das Unsägliche zu benennen, damit das Ich seinen/ihren  Platz und Namen in der eigenen Geschichte und in den Beziehungen der Welt wiedergewinnen kann.

Ebenfalls Frauen waren es, die sich seit dem 19. Jahrhundert für die Aufhebung eines weiteren Segments der Entfremdung einsetzten: gegen Kolonialpolitik, Aufrüstung und Krieg, resp. gegen die Instrumentalisierung von Menschen zum Zweck des Tötens und der Herrschaftssicherung eineger weniger. Es waren mächtige, wenngleich machtlose  Manifestationen gegen Menschenverachtung und Gewalt, damit Manifestationen für ein friedfertiges Zusammenleben. Dabei ging es, denke ich, im Grunde um das Bedürfnis nach Respekt vor jeglicher Differenz im gleichen Menschsein, dessen Erfüllung unvereinbar ist mit menschenverachtender Gewalt – mit imperialistischer, kolonialistischer, rassistischer Gewalt. In der Friedensbewegung gelang es den Frauen, sich weltweit zu solidarisieren, auch wenn es – leider – eine Solidarisierung der Ohnmacht war: Schon vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatten sich Frauen aus allen Ländern Europas zusammengeschlossen, unter Einschluss der Frauenbewegungen Englands und der USA, ja selbst Brasiliens, Australiens, Britisch-Indiens und Japans, um gegen die Aufrüstung und gegen die Kriegsvorbereitungen öffentlich Widerstand zu leisten. Am 15. Mai 1899 fand in Den Haag die erste Internationale Friedensdemonstration der Frauen statt; am gleichen Tag veranstalteten überall in der Welt Frauenorganisationen Kundgebungen gegen den Krieg. Besonders stark war die feministische Friedensbewegung in Russland, obwohl nach Erlassen der zaristischen Polizei öffentliche politische Versammlungen nicht gestattet waren, schon gar nicht solche von Frauen. In Spanien und in Japan gingen die Frauen an diesem Tag überhaupt das erstemal organisiert mit einem politischen Anliegen auf die Strasse. In Amerika schlossen sich 1’250’000 Frauen den Kundgebungen an.

Wir wissen es heute: Mit dem Krieg von 1914-1918 war der erste weltweite Beweis erbracht, dass mit gezielter nationalistischer Hetzpropaganda  Millionen von Menschen zu gefügigen Werkzeugen gemacht werden konnten, dass Millionen von Menschen sich – entgegen aller anerzogenen religiösen Gebote und moralischen Normen – in den Dienst der Machtphantasien skrupelloser Staatschefs und Generäle sowie der nicht weniger skrupellosen Bereicherungsinteressen einzelner “Rüstungsbarone” einspannen liessen, dass sie sich zum erbärmlichen Töten und Getötetwerden buchstäblich berauschen liessen. “Zum systematischen Morden muss bei normal veranlagten Menschen erst der entsprechende Rausch erzeugt werden”, stellte Rosa Luxemburg fest. “Der Bestialität der Praxis muss die Bestialität der Gedanken und Gesinnung entsprechen, diese muss jene vorbereiten und begleiten.”

Nicht die Tatsache der Bereitschaft zur moralischen Verführung – der Verführung zum Hassen und Töten – und zur politischen Überlistung waren neu; nur weil dies immer schon so war, gelang überhaupt die “Gesinnungsvorbereitung” , von der Rosa Luxemburg spricht. Zur “Weltenwende” wurde der Erste Weltkrieg, weil er den Kodex der Angst zum weltweiten Instrument der Repression werden liess. Weil er die Grammatik der Entwertung des einzelnen Menschenlebens und, in der Konsequenz, die Entwertung millionenfachen Menschenlebens länderübergreifend, kontinenteübergreifend – sowohl durch die Mittel der elektronischen Propaganda wie jener mächtiger Waffensysteme – zum Zweck staatlicher Machtinteressen quasi programmatisch für die weitere Zukunft festlegte. Weil damit Sprachlosigkeit und Gewalt als – quasi legitime –  ultima ratio sich durchsetzten, nicht einmal mit dem Vorwand der Regelung von Konflikten, sondern in der Durchsetzung von Interessen. (Die mit dem Kriegsende einsetzende Trauergeschichte des Völkerbundes erbringt dafür den Beweis). Der Erste Weltkrieg wurde zur “Weltenwende”, weil er die  philosophische Errungenschaft der Aufklärung – den Anspruch des einzelnen Menschen auf Subjektwürde, auch dann, wenn er Objekt ist -, weil er diese Errungenschaft, welche die bürgerlichen Revolutionen in Amerika und in Frankreich, die auch den Kampf gegen das Sklaventum beflügelt hatte, definitiv zur Farce werden liess. Seither ist es schwer, gegen die millionenfach erwiesene Tatsache der Bereitschaft der einzelnen Menschen zur Entmündigung den Beweis für die unverzichtbare Würde selbstverantwortlichen Handelns anzutreten.

“Bleibt Hoffnung in dieser angsterfüllten Welt?” fragte Theodor W. Adorno Jahrzehnte später, nachdem der Zweite Weltkrieg alle Erfahrungen des Grauens und der Entmenschlichung des Ersten Weltkriegs in einem nicht mehr vorstellbaren, nicht mehr beschreibbaren Ausmass hinter sich gelassen hatte. Als selbst die Tatsache von Abermillionen von Ermordeten und von Abermillionen von gequälten Überlebenden, von elternlosen Kindern, von Verstümmelten und Vertriebenen die Frage der Verantwortung und damit der Sühne höchstens auf der Stufe der Helfershelfer, der instrumentalisierten Willfährigen, stellte, weil die verantwortlichen Machthabenden und deren Nachfolger sich entweder aus dem Staub gemacht oder in den alten Konfigurationen konstruierter Feindschemata schon wieder neue Kriege führten, weil auch diese geführt und nicht durch die Aufarbeitung früherer Kriege verhindert werden wollten, in Korea, in Afrika, in Vietnam, in Iran und Irak – Hunderte von Kriegen seit dem Zweiten Weltkrieg, Kriege zwischen Nationen, zwischen Grossmächten und kleineren Staaten, im Innern von Nationen gegen Minderheiten – bis nun zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien, dessen Zeugen und Zeuginnen wir mit Entsetzen und Ohnmacht oder mit wachsender Indifferenz geworden sind.

Ich komme zum Schluss: Es zeigt sich, dass das Verhältnis des einzelnen Menschen zu Gesellschaft und Staat in mehrfacher Hinsicht paradox ist. Nach wie vor ist es geprägt durch Entfremdung, vielfache Entfremdung, welche einerseits durch die usprüngliche Sozialisation in die hierarchischen Strukturen der Familie – die individuelle Kolonisation – geprägt wird, andererseits durch die ökonomischen Abhängigkeits- und Ausgrenzungsverhältnisse, sodann durch die nationalstaatlichen Verhältnisse, durch welche menschen eienrseits zu Rechtssubjekten, andererseits zu rechtlosen politischen Objekten – zu Fremden – werden. Mein abschliessendes Postulat ist, dass die Grundbedürfnisse aller Menschen erfüllt werden müssen, damit die vielfachen zerstörerischen Kompensationen der Entfremdung – Gewalt gegen andere, Gewalt gegen sich selbst, Süchtigkeiten, Rassismus etc. – hinfällig werden. Gesellschaftliche und staatliche Strukturen sollen dazu dienen, dass die Grundbedürfnisse erfüllt und Entfremdung verringert wird.

Unter den Grundbedürfnissen verstehe ich, zusammenfassend, im materiellen Bereich, das Bedürfnis nach Schutz der körperlichen Integrität, nach gesunder und genügender Nahrung, nach Schutz vor Kälte und Nässe, Hitze und Schmutz sowie nach medizinischer Versorgung bei Erkrankung; im geistig-psychischen Bereich das Bedürfnis nach Erkennen und Lernen, nach Bildung und Erfahrung, nach Freiheit in der Gestaltung des eigenen Lebens, sodann im sozio-politischen Bereich das Bedürfnis nach gemeinsamem Leben mit denjenigen, die man liebt, nach selbstbestimmter, menschenwürdiger Arbeit, nach Respekt und Anerkennung, nach Schönheit und Erholung, sowie nach einer Stimme in der Gesellschaft.

 

Ungleiche Veteilung der Güter, Chancen und Profite ist die Ursache der Nichterfüllung der Grundbedürfnisse einer grossen Anzahl von Menschen. Was die einen vergeuden, entbehren die anderen; Rechte, die die einen beanspruchen, verweigern sie den anderen Die Folge davon sind Armut und der Status der Fremden und Rechtlosen. Wer in grosser Armut oder in rechtlicher Diskriminierung lebt, lebt, kämpft ums blosse Überleben. Wer ums Überleben kämpft, ist ausgegrenzt von den politischen und kulturellen Entscheiden.Eine demokratische Gesellschaft ist zutiefst instabil und gefährdet, wenn ein Drittel der Bevölkerung aus ökonomischen oder poitischen Gründen nicht an ihr teilhat.

Solange die Grundbedürfnisse nicht erfüllt sind, können die Grundrechte nicht eingelöst werden. Grosse Armut oder der Status der rechtlosen Fremden (Ausänder und Ausländerinnen) ist eine Verletzung der Menschenwürde. Die Qualität einer Gesellschaft und damit das Verhältnis der einzelnen Menschen auch zum Staat misst sich an der Lebensqualität der schwächsten ihrer Mitglieder.

Allmählich müssten wir wissen, dass sich nur die wenigsten Konflikte lösen lassen, nur die geringsten, sowohl im politischen wie im privaten Zusammenleben, durch Repressions- und ausgrenzungsstrukturen jedoch keine. Vor allem müssen wir lernen, die Angst vor Konflikten zu durchschauen, auch die Vorstellung von ausschliesslichen Entweder-Oder-Lösungen zu durchbrechen. Wir müssen lernen, Konflikte und Differenzen als Anforderung an die kreative Vernunft in die Normalität des Zusammenlebens der vielen – auf welcher Ebene auch immer – einzubauen. Dies würde, scheint mir, nach und nach erlauben, Entfremdung abzubauen, statt immer wieder neue Entfremdung zu generieren, und den wichtigsten Grundbedürfnissen der Menschen in allen Bereichen – in jenen der materiellen Lebenssicherung, wie in jenen der psychischen, der sozialen und politischen Zusammenhänge – gerecht zu werden.

 

Wichtige Literatur:

Erich Fromm. Das Menschenbild bei Marx. Mit den wichtigsten Teilen der Frühschriften von Karl Marx. Verlag Ullstein, Frankfurt a.M. 1988

Olympe de Gouges. Oeuvres. Edition Mercure de France. Paris 1986

Rosa Luxemburg. Politische Schriften. Hrg. Osip F.Flechtheim. Athenäum Verlag, Frankfurt a.M. 1987

Karl Marx / F. Engels. Deutsche Geschichte im 19. Jhd. Hrg. I. Fetscher. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1969

Karl Marx. Die Frühschriften. 2 Bde. Hrg. S.Landshut/ J.P. Mayer. Kröner Verlag, Leipzig 1936

Karl Marx. Das Kapital. 2 Bde. Hrg. Karl Korsch. Verlag Ullstein, Frankfurt a.M. 1969

Rober Owen. Eine neue Auffassung von der Gesellschaft. Verlag C.L.Hirschfeld, Leipzig 1900

Flora Tristan. Arbeiterunion. Sozialismus und Feminismus im 19. Jhd. Hrg. P.B.Kleiser. isp-Verlag, Frankfurt.a.M. 1988

Maja Wicki. Rosa Luxemburg, Simone Weil und Hannah Arendt. In: W.Goetschel (Hrg). Perspektiven der Dialogik. Zürcher Kolloquium zum 80. Geb. Von Hermann L.Goldschmidt, Passagen Verlag, Wien 1994

Maja Wicki. “Die revolutionärste Tat ist, laut zu sagen, was ist. Über politische Stummheit und politische Sprache. In:  Poltische Sprache in der Schweiz. Konflikt und Konsens. Verlag Orell Füssli, Zürich 1992

Maja Wicki (Hrg). Wenn Frauen wollen, kommt alles ins Rollen. Der Frauenstreiktag vom 14. Juni 1991. Darin: Nicht was die Männer sind und haben, sondern mehr und anders. Über Vorbilder, revolutionären Geist und Glück.  Limmat Verlag, Zürich 1991

Mary Wollstonecraft. Verteidigung der Rechte der Frauen. 2 Bde. Hrg. Berta Rahm. Ala Verlag, Zürich 1978

 

 

 

 

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