Sozialethik – für Drogensüchtige mehr als eine Dimension des Überlebens – Psychische Kreativität im Dienst der Leidensabwehr und Leidenskorrektur in der globalisierten, postmodernen und postindustriellen Welt
Sozialethik – für Drogensüchtige mehr als eine Dimension des Überlebens
Psychische Kreativität im Dienst der Leidensabwehr und Leidenskorrektur in der globalisierten, postmodernen und postindustriellen Welt
Diplomrede anlässlich der Diplomfeier am 27. Juni 2003 Fachhochschule für Soziale Arbeit Zürich
„Ein gleichbleibendes Leiden wird nach einer gewissen Zeit unerträglich, weil die Energie, die es ertragen lässt, erschöpft ist. Es stimmt also nicht, dass vergangenes Leiden nicht mehr zählt.“ (Simone Weil)[1]
Es kommt nicht von ungefähr, dass ich mit einer Textstelle aus den Aufzeichnungen Simone Weils beginne. Diese Aufzeichnungen aus den sog. „ Cahiers“ („Arbeitsheften“) dokumentieren die letzten Lebensjahre der französischen Philosophin, d.h. die Jahre 1941 bis 1943, nachdem sie zusammen mit ihren Eltern und mit Tausenden von Menschen vor der anrückenden deutschen Besetzungsmacht Paris verlassen und über Vichy und Toulouse nach Marseille fliehen musste, in der Hoffnung, von dort nach Übersee zu gelangen. Am 14. Mai 1942 schiffte sich Simone Weil nach Casablanca ein und von dort nach New York. Doch New York war nur eine Zwischenstation. Am 10. November verliess sie die USA wieder und erreichte nach ca. zwei Wochen Schiffsreise Südengland. Mitte Dezember 1942 gelangte sie schliesslich nach London und schloss sich dem Kreis von France libre an, zu welchem ehemalige Studienkollegen gehörten, darunter Maurice Schumann, mit welchem sie von New York aus Verbindung aufgenommen hatte. Im Auftrag der französischen Widerstandregierung begann sie, ein Buch über die politische und gesellschaftliche Neuordnung Frankreichs nach dem Krieg zu schreiben[2]. Sie erkankte an Tuberkulose, wies jede medizinische Behandlung zurück und starb am 24. August 1943 in Ashford/Kent. Gemäss dem offiziellen Totenschein war die Todesursache „Herzversagen durch Herzmuskelschwäche, hervorgerufen durch mangelhafte Ernährung und Lungentuberkulose. Die Verstorbene hat sich selber getötet und zerstört, indem sie sich in einer Phase von Geistesgestörtheit weigerte zu essen“.
Simone Weil war eine Süchtige, erkenntnis-, wahrheits- und gerechtigkeitssüchtig. Und ihre Droge waren das Denken und die Askese, masslos, bis zum Tode. Sie konnte davon nicht absehen, ja, das Denken und Sich-Versenken in die Fragen und Geheimnisse des Nicht-Erkennbaren waren die einzige Nahrung, die sie noch zuliess. Und da sie die eigentliche Nahrung, die ihren Hunger hätte stillen können, nicht fand, starb sie, der medizinischen Diagnose zufolge an einer psychotischen Nahrungsverweigerung, tatsächlich vielleicht an einer Transzendenzsucht, die zu einer radikalen Ablehnung des Essens und des Lebens überhaupt führte, zu einer radikalen Verneinung der Libido. Hinter ihrer Sucht aber stand ein Leiden, das zu verstehen die Philosophie nicht genügt.[3] Ich versuche, als Psychoanalytikerin zu verstehen, was sich der Philosophie entzieht und eine Antwort zzu finden auf die Frage, was geschieht, wenn „die Energie, die das Leiden ertragen lässt, erschöpft ist“.
Die Frage, die Sie vermutlich beschäftigt, ist, ob es etwas Gemeinsames gibt zwischen Simone Weil und den suchtkranken, drogenabhängigen jungen Menschen, die Sie kennen und begleiten. Ich meine, dass es, neben ungezählten entscheidenden Differenzen, etwas Gemeinsames gibt. Es ist das der Suchtkrankheit zugrundeliegende Leiden, ein je biographisch bedingtes seelisches Leiden, das die Psyche allein nicht mehr bewältigen kann, weil ihre Energie erschöpft ist, und von welchem sie daher Bewältigungsanteile an den Körper delegiert.
Das primäre „Hungerleiden“
Bei allen Suchtkranken ist das Primärleiden in irgend einer Form ein „Hungerleiden“[4].Aus multiplen Gründen, auf die ich eingehen werde, können die wichtigsten psychischen Bedürfnisse eines Kindes in dessen primärer Beziehungskonstellation – Mutter, Vater, das familiäre Umfeld – nicht gestillt werden. Daraus erwächst ein quälender emotionaler Hunger, ein Hunger nach anerkennender, stützender und in keiner Weise missbrauchender Liebe, Hunger nach einer Beziehungserfahrung, in welcher das hungernde Ich sich seiner selbst sicher und dadurch sich selber gegenüber zustimmungsfähig werden könnte, Hunger nach Aufhebung der Einsamkeit und Verlorenheit, Hunger nach sinnvoller Gestaltung des Lebens. Das Leiden, das aus dem ungestillten Hunger erwächst, kann durch die verfügbaren psychischen Energien, deren Quell die – zumeist prekäre – Ichstärke ist, kaum lange ertragen werden, wenn es nicht in irgend einer Form abgewehrt wird, schon in der Phase der frühkindlichen Entwicklung (s. das sog. Hospitalismus-Syndrom, Enuresis, Nahrungsverweigerung, Stottern oder Sprachverweigerung, masslose Wutausbrüche oder unerklärliche Ekzemanfälligkeit etc.). Unbestritten ist, dass bei allen Suchtkranken die Anfänge des Leidens in die früheste Kindheit zurückgehen, in die primären Beziehungserfahrungen, die zum Teil traumatisierend wirkten und deren psychokausale Erklärung wiederum in den frühen und späteren Beziehungserfahrungen der Eltern liegen, so dass das einzelne Leben mit seiner spezifischen und unaustauschbaren Geschichte immer auch als Teil einer generationenübergreifenden Geschlechtergeschichte gesehen werden muss, in welcher Mangelerfahrungen und Unglück häufig von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Die Möglichkeiten einer analytischen Therapie bestehen darin, diese Anfänge aus dem Dunkel des Unbewussten – aus der Verdrängung – zu befreien, sie bewusst zu machen und sie dadurch in die Geschichte des Überlebens zu integrieren, d.h. diese verstehbar zu machen als eine Geschichte der vielen mehr oder weniger tauglichen oder untauglichen Entscheide, die alle als Abwehrmassnahmen des primären Leidens – und eventueller späterer Leidenserfahrungen – aus der schier unbegrenzten Kreativität des Unbewussten getroffen wurden. Zugleich aber kann die analytische Therapie der Geschichte eine neue Wendung geben, indem zwanghafte Wiederholungen nicht länger mehr nötig erscheinen und allmählich dank einer zunehmenden Ichstärke nicht mehr erfolgen. Das Geheimnis der Freiheit, von welcher im theoretischen philosophischen Diskurs so viel die Rede ist, offenbart sich mir im – oftmals schwierig erkämpften, über zahlreiche Widerstände scheinbar immer wieder in Frage gestellten – therapeutischen Erfolg, der, in irgend einer Form, einen Neuanfang ermöglicht.
Wie es im Lauf der Geschichte der Leidensabwehr zum Konsum beruhigender, betäubender, stimulierender oder wahrnehmungsverändernder Drogen kommt, und wie sich dieser Konsum zur – wiederum leidensbesetzten – Abhängigkeit entwickelt, warum sich nicht eine andere Form der Abwehr entwickelt, ist nicht zuletzt abhängig von vielen Faktoren, die in den entscheidenden Momenten – in der Pubertät, in der Adoleszenz, in Momenten der Krise – im Lebensumfeld der späteren Suchtkranken zusammenspielen. Es handelt sich um Spielvariationen der Abwehrkreativität. Zu den entscheidenden Faktoren gehören die Wahl und der Einfluss von „peer groups“, die Verfügbarkeit von Drogen durch Markt- oder Trendangebote, das jeweilige familiäre und kulturelle Umfeld etc. -, Faktoren, mit welchen in diesen Momenten die späteren Suchtkranken bereit sind, sich in eine Kollusion (ludere, colludere: mit-, zusammenspielen) zu begeben, auf Grund der Illusion (illudere: in sich hineinspielen, phantasieren), dadurch aus dem Lebensunbehagen, dem Lebensunglück austreten zu können. Dass dies so nicht gelingen kann, ist jedesmal nach dem Abklingen der drogenspezifischen Wirkung die ernüchternde, quälende und schliesslich unerträgliche Desillusion (desilludere: ent-spielen, ent-phantasieren, das Spiel verderben), eine Erfahrung der Ernüchterung und der Konfrontation mit der eigenen Realität, wie sie sie ist, resp. der „Spiel“enttäuschung und des „Spiel“verlusts, eine Erfahrung, die so qualvoll ist, dass sie das dahinterliegende Grundleiden in seiner Komplexität überdeckt und vordergründig zum Hauptleiden wird, so dass die Vermeidung dieser unerträglich schmerzhaften Desillusion in seiner Dringlichkeit zum Hauptanliegen der – nun mehr – Süchtigen wird, das jede andere Tätigkeit, jedes andere Streben begleitet, überdeckt oder sogar mehr und mehr ausschaltet. So kommt es, dass eine vielfache Leidensgeschichte auf deren benennbare, auch gesellschaftlich kategorisierbare Abwehrform hin reduziert wird: als Drogenabhängigkeit.
Im Stich gelassen, übergangen, benutzt, überfordert und vielfach bedroht.
Die Kindheitsgeschichten suchtkranker Menschen sind vielfältig geprägt durch psychische Entbehrungen, durch Erfahrungen emotionaler Überforderung, Missachtung oder gar Verachtung, durch Beziehungsverrat und Im-Stich-gelassen-werden. Während die einen Kindheiten durch ungewöhnliche, auch äussere Gewaltereignisse und Traumatisierungen erschüttert sind, sei es durch sexuellen Missbrauch, sei es durch vielfache, häufig als „Disziplinarmassnahmen“ beschönigte Quälereien, durch externalisierte oder versteckte, psychisch aber nicht minder spürbare Aggressivität in all ihren Formen, sind andere Kindheiten äusserlich vielleicht gut situiert und weniger auffällig, doch dadurch nicht weniger verhängnisvoll geprägt durch den Mangel an verlässlichen inneren und äusseren Strukturen, an sicheren Grenzen und haltenden Erfahrungen, oder durch eine erstickende Beziehungsabhängigkeit, die der Ich-Entfaltung des Kindes keinen Raum lässt, die ich fusionelle „Psychophagie“ nenne. Häufig fühlen sich Kinder und Jugendliche allein gelassen und in grosser Beziehungsnot, insbesondere in den wichtigen Entwicklungsphasen und -krisen, infolge tatsächlicher oder emotionaler Abwesenheit beider Eltern oder eines Elternteils, ob durch deren eigene psychische Not (z.B. Depressionen, schwere Krankheiten etc.) oder durch rücksichtslose Ablehnung von Verantwortung und Sorge, sei es durch unklare und verlogene, rivalisierende, lieblose oder unredliche, macht- und rachebesetzte Gefühlsverhältnisse zwischen den Eltern, sowie in der Folge zwischen dem Patienten/der Patientin als Kind und einem oder beiden Elternteilen.
Alle Kindheitsgeschichten von Suchtkranken sind daher, so oder so, je persönliche psychische Mangel- oder „Hunger“geschichten, deprimierende Leidensgeschichten, wie ich schon erwähnt habe. Und jede dieser persönlichen Geschichten ist, zusätzlich zu den familiären Herkunftsbedingungen und zur individuellen Geschichte des Patienten/der Patientin, durch die gesellschaftlichen Bedingungen mitdefiniert, in welchen die Familie verortet ist, durch Weltbilder, Ideologien, kollektive äussere Ereignisse, politische, wirtschaftliche, weltanschauliche und standesmässige Bedingungen etc. Es ist somit nicht eine einfache Kausalität, die zu Drogenabhängigkeit führt, auch wenn der ausschlaggebende Faktor der Drogenkonsum selber ist, sondern ein komplex vernetztes externes und innerpsychisches System, das, wie dies zahlreiche klinische Studien bewiesen haben[5], dazu führt, dass die innerpsychische Leidensabwehr destruktiv wird, dass der emotionale Hunger, dass Wut, Scham oder Rachebedürfnisse sich externalisieren, resp. sich äussere, über den Körper zuführbare Mittel der – scheinbaren – Befriedung, Dämpfung oder Erfüllung suchen, sich aber dadurch häufig verstärken, nicht zuletzt weil zu den psychischen zwanghaften Abwehrphaenomenen die körperliche Abhängigkeit und eine durch die Illegalität der Beschaffung verursachte zusätzliche Situation der ständigen physischen und psychischen Bedrohtheit hinzukommt. Léon Wurmser hält fest[6]: „Im grossen und ganzen ist das Symptom des Drogenkonsums auf Seiten des Kindes ein Derivat der gesamten Familienhaltung der Unbeständigkeit, Selbstbezogenheit und, besonders bedeutsam, der inneren und äusseren Unaufrichtigkeit. (…) Die hierarchische Struktur und Autorität innerhalb der Familie ist aufgespalten, untergraben, verwischt, zerbrochen. Alle Grenzen und Begrenzungen verschieben sich, sind unzuverlässig und verschwommen und werden überschritten.“
Verortung der Einzelgeschichte in der kollektiven Geschichte
Was den zeitgeschichtlichen Hintergrund der heutigen suchtkranken jungen Menschen betrifft, so erscheint es mir bedeutungsvoll, dass das letzte Viertel unseres Jahrhunderts durch einen generellen Verlust an verlässlichen, konfliktresistenten Beziehungen auch im Gesellschaftlichen und Politischen gekennzeichnet ist, resp. durch eine öffentlich „legitimierte“ und praktizierte, generelle Verachtung der Würde und des unverfügbaren Werts der Menschen und ihrer Beziehungen. Das begann schon zu Beginn unseres jahrhunderts und steigerte sich in den 30er- und 40er Jahren, als „Kulturnationen“ den Lebenswert und die Lebensberechtigung von Menschen systematisch relativiert und Kategorien von „Übermenschen“ und von „Untermenschen“ geschaffen haben. Seit damals wurde die systematische Erniedrigung, Ausgrenzung und Tötung von Millionen von Menschen deklariert, zugelassen und/oder durchgeführt, und seit damals haben sich auch angesehene Wissenschaften wie Medizin, Psychiatrie, Jurisprudenz, Philosophie, Anthropologie etc. und zahlreiche derer Vertreter – und auch Vertreterinnen – sich in den Dienst der Mächtigen und deren Praxis der Diskriminierung und Ausmerzung von Menschen gestellt. Seit damals wurde definitiv jegliche Sicherheit zerstört, überall, auch hier in der Schweiz.
Die Eltern der heutigen Suchtkranken waren damals Kinder oder junge Erwachsene, die Eltern der Eltern wiederum waren Täter, Mitläufer oder Opfer, überall wurden Generationen von Menschen von den Ideologien der Menschenverachtung infiziert und wurden durch diese direkt oder indirekt auf je spezifische, persönliche Weise gepägt. Seither ist die Verlässlichkeit des Zusammenlebens der unterschiedlichen Menschen grundsätzlich in Frage gestellt, und der Wertezerfall resp. die Werteperversion, die mit aggressivem Nationalismus, mit nationalistisch legitimiertem Antisemitismus, mit generellem Rassismus und Fremdenverhetzung, mit religiösem Fanatismus und Ethnizismus sowie mit der Verachtung und Instrumentalisierung der sog. „Schwachen“ – der Kinder, der Frauen, der Kranken, der körperlich oder geistig weniger effizienten oder weniger funktionstüchtigen Menschen – einhergeht, setzt sich offen und hemmungslos in allen öffentlichen und privaten Systemen durch. Sie eskaliert in den über Medien und politische Kanäle vorbereiteten und mit sadistischer Rohheit durchgeführten sog. „ethnischen Säuberungen“ im ehemaligen Jugoslawien und anderswo, in der zum Teil während Jahren stillschweigend praktizierten oder durch Waffenlieferungen, diplomatische Verhandlungen mit den Verbrechern etc. offen deklarierten Kollusion der westlichen Demokratien, nicht zuletzt auch in deren Asylpolitik und Rückschaffungspraxis, generell in deren wachsenden ausländerfeindlichen Parteien- und Machtentwicklung. Sie setzt sich aber auch in der Wirtschaft durch mit den ausschliesslich nach share-holder-value-Kriterien orientierten Rationalisierungen und Restrukturierungen und den dadurch bedingten Massenentlassungen von Menschen. Sie findet einen Ausdruck in der immer skrupelloseren sog. „Sexindustrie“ und in der – nun auch über Internet – ständig wachsenden kommerzialisierten sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen. Und sie findet selbst in den politischen Entscheidungs- und Exekutivgremien, in der medizinischen Versorgung, im Bildungswesen, in allen Verwaltungsbereichen ein Echo, da die Sorge um das das Wohl der Menschen durch den Trend zu firmenmässigen Effizienz zunehmend in den Schatten gestellt wird. Wo die Qualität des Zusammenlebens und damit die Lebensqualität der einzelnen Existenz vorrangig durch Kosten-Nutzen-Berechnungen innerhalb eines gewinnmaximierenden „managment“ – ob „private“ oder „public“ – bestimmt wird, muss befürchtet werden, dass die Würde des einzelnen Menschen nicht mehr ein unverfügbarer Wert ist.
Zu dieser Entwicklung kommt ein weiterer Entwertungsfaktor des Menschen und menschlichen Zusammenlebens hinzu, der bedenkenswerte Ausmasse angenommen hat. Ich meine die inflationäre Massenproduktion von Konsumgütern, den daraus resultierenden Konsumdruck und Konsumismus, die zur Entwertung der Sachen, zur Entwertung auch des menschlichen Herstellens und Machens führen, und die mit der Überflutung durch überflüssige Produkte eine Überflutung durch Müll nach sich ziehen. All dies bewirkt nicht nur eine Lähmung der Eigeninitiative, sondern bedroht alle kreativen Energien . Wie lässt sich in einer Welt Sicherheit gewinnen, in der alles Wegwerfcharakter bekommt und austauschbar wird, nicht bloss die Sachen, auch die Beziehungen, letztlich die Menschen? – in der täglich mit Ausgrenzung, mit Abschiebung oder mit Stigmatisierung durch das Label „wertlos“ oder „überflüssig“ oder „lästig und störend, weil kostenintensiv“ gerechnet werden muss? – in welcher Vermassung und Fragmentierung der Gesellschaft die überschaubaren und verlässlichen Rekursorte für Wärme, Schutz und Geborgenheit – die Familie, die Nachbarschaft, den Freundeskreis – immer mehr bedrängen, bedrohen und aufreiben? – in welcher daher Verunsicherung, Angst und Vereinsamung überhandnehmen? – in welcher der Schein und Show, das Artifizielle, die Pseudo-Realität als „Realität“ gehandelt werden? Dass gerade in dieser Zeit auch eine Vielzahl von Drogen auf den Markt kommen und durch das grosse Angebot zwar billiger, wenngleich nicht legaler werden, bietet eine zusätzliche Erklärung dafür, dass neben den legalen Drogen Alkohol und Nikotin auch mehr Drogen konsumiert werden, manchmal sogar in Kombinationen, um die Überflutung mit Leere ertragen, um nach Aussen oder nach Innen gerichtete destruktive Impulse „wegstecken“ oder kontrollieren zu können, kurz, um einen einigermassen erträglichen Selbst- und Realitätsbezug herzustellen. Was Ibsen literarisch in den privaten Beziehungen als die „Lebenslüge“ demaskierte, ist auch in den kollektiven Dimensionen zu einer grossen „Realitätslüge angewachsen.
Die Komplementarietät der Grundbedürfnisse
Mir scheint, dass die postindustrielle, postmoderne Welt, in der wir leben, neben der technologischen Revolution, derer sie sich rühmt, dringend einer Rückbesinnung auf die menschlichen Grundbedürfnisse bedarf – sowohl auf die persönlichen Grundbedürfnisse wie auf die Grundbedürfnisse des Zusammenlebens, um den bedrohlichen Entfremdungsfolgen entgegenzuwirken. Die Grundbedürfnisse sind immer komplementär, sowohl die materiellen und die sozialen wie die psychischen, intellektuellen und spirituellen. Sie zeigen sich, zum Beispiel, als Bedürfnis nach starken, tragenden und warmen Beziehungen, nach Zugehörigkeit zu einem grösseren schützenden System, zu einer Familie oder doch zu einem verstehbaren, vertrauten Kreis von Menschen, zugleich aber als Bedürfnis nach Eigeninitiative, nach Eigengestaltung des Lebens, nach Eigenverantwortung und nach eigenem Handeln, mithin als Bedürfnis nach Ausbrechen aus den Einbindungen, nach Freiheit. Und sie zeigen sich, wiederum komplementär, als Bedürfnis nach einer verlässlichen, nicht willkürlichen und nicht bedrohlichen Ordnung, und zugleich nach Veränderung der Ordnung, d.h. wiederum als Bedürfnis nach Freiheit. Ebenfalls zeigen sie sich als Bedürfnis nach Lernen, nach Entfaltung der Fähigkeiten, Talente und Kräfte, nach sinnvoller Arbeit sowie, in irgend einer Weise, nach dem Produkt der Arbeit, wie auch als Bedürfnis nach Musse und Spiel. Und sie zeigen sich als Bedürfnis nach Sicherheit, nach Schutz vor Krankheit und vor jeder anderen Bedrohung, nach körperlicher und seelischer Integrität, sowie gleichzeitig als Bedürfnis nach Offenheit und Weltzugehörigkeit, nach Selbständigkeit und Abenteuer, letztlich wiederum als Bedürfnis nach Freiheit. Sie zeigen sich auch als Bedürfnis nach persönlichem Verfügenkönnen über die Zeit, mithin nach Vergangenheit, d.h. nach Kenntnis der Geschichte, nach Erinnerung, Verzeihen und Vergebung, sowie nach Zukunft, d.h. nach Engagement und nach realisierbaren, verlässlichen Versprechen, wie andererseits nach einer überpersonalen verpflichtenden Zeitstruktur.
Gewiss, es gibt in unserem Kulturbereich kein unentfremdetes Leben, aber ein weitgehend leidvolles Leben wäre vorstellbar, wenn es sich in einer ausgewogenen Erfüllung der komplementären Grundbedürfnisse entfalten könnte. Was heute jedoch zumeist der Fall ist, zeigt sich als Stimulation und teilweise Erfüllung von Sekundär- und Tertiärbedürfnissen, während die Grundbedürfnisse unerfüllt bleiben und in dieser Unerfülltheit zu den „Hungerkankheiten“ führen, die ich eingangs erwähnt habe. Andererseits kommt es vor, dass einzelne Primärbedürfnisse zwar erfüllt werden, jedoch einseitig und in dieser Einseitigkeit übermässig. Dabei wird die Komplementarietät vernachlässigt, was Menschen ebenfalls krank werden lässt. Dies ist, zum Beispiel, im politischen Bereich in reaktionären und totalitären Systemen der Fall, wo ausschliesslich Sicherheit, Ordnung und Einbindung „erfüllt“ werden, was sich in dieser Ausschliesslichkeit zu einem feindbildbesetzten Kontrollsystem verfestigt, in welchem die Bedürfnisse nach Offenheit, nach Selbstverantwortung und Eigeninitiative nicht bloss unerfüllt bleiben, sondern unterdrückt und gar geleugnet werden, sodass sich schwerwiegende Fehl- und Mangelentwicklungen einstellen. Analog verhält es sich in privaten Systemen, insbesondere im innerfamiliären System.
Ein Fallbeispiel unter vielen mag illustrieren, wie die Generationengeschichte dazu führt, dass sich, nicht zuletzt auf Grund sequentieller Traumatisierungen in der frühen Kindheit, die mit einem Mangel an emotional guten, verlässlichen Strukturen einhergingen, Drogenkonsum und Drogenabhängigkeit ergeben. Die Geschichte des jungen Mannes, die ich Ihnen vorstellen möchte, macht auch deutlich, wie schwierig eine Therapie ist, wenn der Patient sich aus dem Geflecht von Lebenslügen und Strukturmangel nicht zu lösen vermag. Und sie mag indirekt illustrieren, wie unverzichtbar Institutionen wie das Aebihus sind, in denen andere, von Respekt geprägte, tragende Beziehungserfahrungen gemacht und selber eingeübt werden können.
Der traurige Libero und sein Hündchen
Ich nenne ihn Libero. Nirgendwo hat der knapp dreissigjährige Mann einen festen Platz in der Welt. Er weiss weder, wer sein Vater ist, noch hat er je über längere Zeit mit seiner Mutter zusammengelebt. Er hat weder Geschwister noch eine Partnerin oder einen Partner, bloss „ein paar Kollegen“, wie er sagt, die er manchmal beim Spazieren durch die Stadt trifft oder in der gemeinnützigen Institution, wohin er sich täglich einmal begibt. Libero wurde mir von der Sozialarbeiterin, die ihn mit grossem persönlichem Einsatz betreut, überwiesen, nachdem er sich freiwillig für einen Heroinentzug in eine psychiatrische Klinik begeben hatte, und er in ein Methadonprogramm aufgenommen wurde. Er hatte, wie er ihr gegenüber versicherte, den festen Wunsch, nun eine „wirkliche“ Therapie zu machen, nachdem er verschiedene Therapieversuche abgebrochen hatte. Ich wusste, dass es ein schwieriger Prozess sein würde, da er jahrelang auf der Gasse gelebt hatte, und da er Drogen konsumierte, seit er elf Jahre alt war. Vom vierzehnten Altersjahr an war er heroinsüchtig.
Als er bei mir die Therapie begann, lebte er allein in einer kleinen Wohnung, welche die Sozialbetreuerin für ihn auf ihren Namen gemietet hatte. Sie erledigte alle administrativen Aufgaben, seine Postzustellungen wurden an sie weitergeleitet, und sie bezahlte die Rechnungen. Er lebte einerseits von der Fürsorge, andererseits von einer kleinen IV-Rente, die sie einteilen half. Sie versuchte mit grosser Geduld und Umsicht, ihn Schritt für Schritt wieder an ein irgendwie geordnetes Leben zu gewöhnen. So holte sie ihn, zum Beispiel, regelmässig zum Monatsanfang ab, um mit ihm eine Monatskarte für die Benutzung der öffentlichen Verkehrsbetriebe zu kaufen, nachdem er während der Jahre auf der Gasse Bussen wegen nicht bezahlter Fahrtaxen in fünfstelliger Höhe angehäuft hatte, ohne dass er dafür das geringste Schuldempfinden gezeigt hätte. Es war für ihn einfach „schicksalshaft“, dass die Bussen immer ihn trafen, während andere Menschen davon verschont blieben, wie er sagte. In seiner inneren Wahrnehmung gehörte dies zu den „typischen Ungerechtigkeiten“, die „sein Schicksal“ waren; dass es ausschliesslich mit dem Kauf oder dem unterlassenen Kauf eines Tickets zu tun hatte, galt für ihn nicht. Damit er nicht eine Gefängnisstrafe wegen des hohen unbezahlten Bussenbetrags absitzen musste, hatte die Sozialarbeiterin mit den städtischen Behörden vereinbart, dass er nach dem Entzug, gleichzeitig mit dem Beginn der Therapie bei mir, einen alternativen Arbeitseinsatz leisten würde, der ebenfalls zur Resozialisierung und zur Festigung seiner Zeitstruktur beitragen würde. Damit erklärte er sich einverstanden. Er wollte ein neues Leben beginnen.
Libero wirkte wie ein geschlagenes Kind, als er das erstemal zu mir in die Praxis kam, ein schiefes, kindliches Lächeln, traurige, manchmal träumerische Augen, eine unmodulierte Stimme, eine schlaffe, nach vorn geneigte Haltung, ob er ging oder sass. Der Körper wirkte schwer und plump, obwohl er nicht übergewichtig war, so, als ob er nicht ihm gehörte. Während der ersten Wochen nach dem Entzug kam er regelmässig und pünktlich zweimal wöchentlich in die Stunde, dann unregelmässiger, schliesslich blieb er ohne eine Erklärung ganz weg, bis er nach einigen Wochen noch einmal erschien. Ich hielt die für ihn vorgesehene Zeit noch während längerer Zeit offen, versuchte, da er keinen eigenen Telephonanschluss hatte, ihn über die Institution, in welcher er regelmässig verkehrte, telephonisch zu erreichen, und kontaktierte schliesslich die Sozialarbeiterin, um zu erfahren, wie es um ihn stehe. Er habe wieder „einen Absturz gehabt“, sagte sie. Er beziehe zwar weiterhin seine Tagesdosis Methadon, aber konsumiere zugleich wieder Heroin, obwohl er dies ihr gegenüber bestreite. Er schlafe wieder die Tage durch, begebe sich am späten Nachmittag zu unregelmässigen Zeiten irgendwann in die Institution, um sein Methadon zu holen, und mehr nicht. Auch sei ihr mitgeteilt worden, dass er den alternativen Arbeitseinsatz ebenfalls abgebrochen habe, er sei nach einigen wenigen Stunden dort nicht mehr erschienen.
In der Nacht sei er schlaflos, darüber klagte er schon in der ersten Stunde. Erst gegen Morgen, wenn es schon hell würde, fielen ihm vor Erschöpfung die Augen zu. Die Nacht ängstigte ihn. Daher war er froh, als er von jemandem auf der Gasse ein Hündchen erhielt. Von der zweiten Stunde an nahm er sein Hündchen mit. Er sagte, es tue ihm gut, nach der Stunde nicht allein weggehen zu müssen, sondern das Hündchen bei sich zu haben. Dass er das Hündchen zunehmend vernachlässigte, dass es sichtbar magerer und ängstlicher wurde, dass es in der Wohnung die Notdurft verrichtete, weil er am Morgen nicht die Energie hatte, aufzustehen und es hinauszuführen, dass er es in der grössten Sommerhitze von den öffentlichen Brunnen, wo es Wasser trinken wollte, ungeduldig wegzerrte, all dies und noch mehr widerspiegelte eine Parallelität zwischen der Missachtung seiner Bedürfnisse als Kind und als Jugendlicher durch seine erwachsenen Betreuungspersonen und der Behandlung, die er dem Hündchen angedeihen liess. Eine der ersten Feststellungen, die er mir gegenüber formulierte, war, dass es für ihn unerträglich sei, dass er nicht als erwachsener Mann wahrgenommen werde, durch niemanden, sondern als „ein unbestimmtes Etwas, auch nicht wie ein Kind, aber doch so ähnlich.“ Auch sagte er mit gleichzeitig, er habe einen verunstalteten Körper. Das sei wegen der schweren Verbrennungen, die er in der Kindheit erlitten habe, aber das habe er nun akzeptiert, das sei eben nicht mehr zu ändern.
Schon Liberos Mutter war in Folge einer Behördenintervention den Eltern weggenommen worden und war in Pflegefamilien und Heimen aufgewachsen. Sie war Alkoholikerin, eine unstete, unter Alkoholeinfluss unberechenbare, aufbrausende und gewalttätige Frau, unstet weniger hinsichtlich ihres Wohnsitzes als hinsichtlich ihrer Partner und ihrer Tätigkeiten. Auch sie hatte den Knaben nicht in ihrer Obhut behalten dürfen. Libero erzählte in der zweiten Stunde, er sei der Mutter weggenommen worden, als er ein halbes Jahr alt war, und sei in einer Pflegefamilie plaziert worden, und die Mutter habe dazu nichts zu sagen gehabt. Seine frühesten Erinnerungen betreffen jedoch erst die Zeit nach dem vierten Altersjahr, nachdem er wegen Misshandlungen, die ihm in der Pflegefamilie angetan worden waren (mit Absicht zugefügte Verbrennungen), und einem nachfolgenden langen Spitalaufenthalt in ein Heim für sog. „schwer erziehbare Kinder“ gesteckt worden war, wo er wiederum mehr Züchtigungen als Zuwendung erfuhr. In dieser ganzen Zeit wie auch in den nachfolgenden Jahren, als er für die gesamte Primar- und Realschulzeit in einem weiteren Heim verwahrt wurde, verteidigte er in sich das idealisierte Bild der liebevollen Mutter, durch welches er sich selber gestärkt fühlte, da sie in seiner psychischen Wahrnehmung beide, gemeinsam, Opfer der gleichen Behördenwillkür waren, und da die Mutter, wie er, ständig Gewalt erfuhr. Er sagte, es habe ihn gestärkt zu wissen, dass „draussen jemand für ihn kämpfe“. Während der Wochenenden oder in den Ferien, die er bei der Mutter verbrachte, wurde er in ihre wechselnden Beziehungsgeschichten hineingezogen, wobei er jeden neuen Partner der Mutter wiederum als „Vater“ anzunehmen versuchte. Vor allem nachts kam es infolge ihres – oder des beiderseitigen – Alkoholismus regelmässig zu „schrecklichen Gewaltszenen“, wie Libero sagte, bei denen er erwachte und schon als kleiner Bub eingriff, um, wie er erklärte, „die Mutter zu schützen“.
Als er in der frühen Adoleszenz von seinem Vormund erfuhr, die Mutter sei zu seinem Heimaufenthalten nicht gezwungen worden, sondern habe dies aus eigenen Stücken veranlasst, brach für ihn die minimale, ich-stützende innere Struktur der guten Mutterrepäsentanz, die er trotz aller Defizienzen verteidigt hatte, zusammen. Von diesem Augenblick an , sagte er mir in der dritten Stunde, habe er nicht mehr für sich gekämpft. Er handelte mit Drogen, konsumierte Drogen, lebte auf der Gasse, übernahm Gelegenheitsarbeiten, wohnte zeitweise bei einem Mädchen, das ihn aber wieder auf die Strasse stellte, fand während einiger Monate Aufnahme in einer religiösen Institution, lehnte aber die damit verbundene Therapie ab, lebte erneut auf der Gasse etc. Wenn es ihm ein wenig besser ging, versuchte er, den Kontakt mit seiner Mutter wieder aufzunehmen. Inzwischen wohnte sie im nahen Ausland und hatte einen festen Partner. Libero erzählte: „Sie schrieb mir, dass sie heiraten würden, lud mich zum Fest ein und schickte mir ein Ticket. Aber drei Tage vor der Hochzeit, d.h. einen Tag, bevor ich abreisen wollte, erhielt ich ein Telegramm, in welchem sie schrieb, sie wolle mich nicht sehen, ich solle bleiben, wo ich sei. So war es immer. Immer wieder.“
Als er nach einigen Wochen Therapieunterbruch nochmals bei mir in der Praxis erschien, erfuhr ich den Grund für den erneuten Absturz. Es handelte sich um eine Wiederholung der alten Traumatisierung der Verstossung durch die Mutter. Er sagte: „Nach dem Entzug hatte ich meinen Eltern geschrieben, ich sei nun vom Heroin frei, ich wolle ein neues leben anfangen und möchte sie gerne besuchen, vielleicht ein paar Tage bei ihnen Ferien machen. Zuerst schrieb die Mutter, sie sei einverstanden, sie werde mir das Geld fürs Ticket schicken, doch statt dem Geld kam ein Brief, wo sie schrieb, sie habe mit der Ärztin der Klinik gesprochen, und diese habe ihr gesagt, ich hätte keinen Entzug gemacht. Und einen Lügner wolle sie nicht sehen.“ Ich fragte ihn darauf, was er nun zu tun gedenke. Er antwortete, er werde die Ärztin anrufen und fragen, was sie tatsächlich der Mutter gesagt habe und wer nun der Lügner resp. die Lügnerin sei. Und er wolle nochmals einen Entzug machen, in ein paar Monaten, sobald er spüre, dass er möge. Ich versicherte ihm, dass er die Therapie wieder aufnehmen dürfe, sobald er in der Lage sei, die vereinbarten Stunden einzuhalten. Ich würde wieder Zeit für ihn finden, und wir würden da fortfahren, wo wir stehengeblieben sind.
Kann Libero von seiner Sucht genesen? Was braucht es dazu? Er befindet sich in einer negativen Symbiose mit seiner Mutter, in einer von libidinösem Hunger, von Sehnsucht nach ihrer endlich erfolgenden mütterlichen Anerkennung, und zugleich von hasserfüllter Frustration geprägten Abhängigkeit von ihr. Diese Abhängigkeit führt zu einer quälenden Ambivalenz, zu ruheloser Eifersucht und zum Bedürfnis nach Rache, das er in seinem hilflosen Regress durch Heroinkonsum gegen sich selber richtet. Der körperliche Entzug reicht nicht aus, er ist jedoch die Voraussetzung für weitere Schritte, die ihm erlauben werden, aus der verhängnisvollen Ambivalenz nicht nur in seiner Objektbeziehung, sondern auch in seiner Selbstbeziehung auszusteigen, so dass das Bedürfnis nach Rache wegfällt und sich, wie er es sich wünscht, nach und nach eine „neue Geschichte“ entwickeln kann, in welcher er endlich zum jungen Mann wird, den er sehnlichst sein möchte, der respektiert wird und den er in sich selber respektieren kann.
Ein grosser Teil dieses Wandels wird dank der Konstanz und klaren Verlässlichkeit seiner Sozialbetreuerin sowie seiner Therapeutin möglich sein, die ihm erlauben werden, in sich eine eine zunehmende Ich- und Selbstanerkennung aufzubauen und selber wieder beziehungsfähig zu werden. Es wird noch einige Zeit brauchen, bis Libero so weit ist, aber die Erfahrung mit anderen Drogenabhängigen zeigt, dass Geduld und Ermutigung, zugleich eine kreative, aber auch fordernde und gratifizierende, strukturierende Resozialisierung aus der destruktiven Spirale der Suchtabhängigkeit hinauszuführen vermögen, so dass der junge Mensch das Leiden, das Kindheit und Adoleszenz prägten, auf konstruktive Weise verarbeiten kann und er aus der Dimension des Überlebens zu einer tatsächlichen, nicht illusionären und daher weniger desillusionsgefährdeten, Gestaltung seines Lebens gelangt.
Das Erstarken des Lebenswertes und der Lebensqualität ist in der Vermittlung und Begleitung von Menschen, deren Geschichte sie in Neben- und Abseitsgleise führte, eine der zentralen Aufgaben, die sich heute innerhalb der Sozialarbeit stellen. Dazu gehört, Orte zu schaffen, in denen es möglich wird, Hoffnung aufzubauen, eine sinnvolle Tätigkeit zu erlernen, Selbstwert und Selbstsicherheit zu erlangen, und im Übergang von der Abhängigkeit zum selbst verantworteten und gestalteten Leben um eine gute Begleitung im Lebenstraining zu wissen. Damit einher geht eine Alltagsrealität, in welcher Spielregeln der wechselseitigen Sorgfalt, des Selbstschutzes, der Freiheit wie des multiplen Zusammenlebens eingeübt werden können.
[1] Simone Weil. Cahiers /Aufzeichnungen. Bd.2. herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Verlag Carl Hanser Verlag, München/Wien 1993.
[2] L’enracinement. Prélude à une déclaration des devoirs envers l’être humain. Hrg. von Albert Camus.Verlag Gallimard, Paris 1949.
[3] cf. M.W. Simone Weil. Eine Logik des Absurden. Verlag Paul Haupt, Bern/Stuttgart 1983 sowie verschiedene Buchbeiträge.
[4] Raymond Battegay. Hungerkrankheiten.
[5] Ich verweise insbesondere auf die Arbeiten von Léon Wurmser, von denen ich in meiner Arbeit am meisten profitiert habe, so „Die verborgene Dimension. Psychodynamik des Drogenzwangs“. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997, sodann von O. F. Kernberg (1983), H. Kohut (1976), H. Krystal / H.A. Raskin (1983) u.a.m.
[6] a.a.O. S.325