Süchtige Menschen in einer süchtigen Gesellschaft oder: Von der Sehnsucht, Entfremdung durch Unersättlichkeit zu heilen – Sucht und Abhängigkeit – Vom sozialen Ausschluss zur Integration
Süchtige Menschen in einer süchtigen Gesellschaft
oder
Von der Sehnsucht, Entfremdung durch Unersättlichkeit zu heilen
Sucht und Abhängigkeit. Vom sozialen Ausschluss zur Integration
Meine Damen und Herren
Erlauben Sie mir, das Thema, das Sie mir gestellt habe, ein wenig abzuwandeln resp. auszuweiten, weil ich der Frage, auf welche Sie eine Antwort erwarten, auf den Grund gehen möchte. Den Phaenomenen auf den Grund gehen, die Zusammenhänge ergründen und analysieren, die dabei gewonnenen Erkenntnisse wiederum kritisch befragen und versuchen, sie zu benennen und zu ordnen, ist die der Philosophie eigene Aufgabe. Ich lade Sie ein, mit mir zusammen in den nächsten fünfundvierzig Minuten diese Aufgabe anzugehen. Sie werden sehen, dass es mit der einen Frage, die Sie gestellt haben, nicht getan ist (“ob die Süchte dem Bedürfnis nach neuen Erfahrungen dienen”), dass sich vorweg neue Fragen stellen, dass vielleicht die Fragen wichtiger sind als die Antworten.
Sie alle sind Fachleute im Bereich der Suchtprobleme. Sie wissen daher, dass mit “Drogen, Akohol, Tabak, Glückspiel und Medikamenten”, die im Veranstaltungsprogramm als “Fluch und Segen unserer Gesellschaft” bezeichnet werden, nur ein Teil der Süchte und Süchtigkeiten unserer süchtigen Gesellschaft genannt werden. Ich will einige weitere aufzählen: Magersucht, Esssucht, Erotomanie und Sexsucht, Arbeitssucht (Workaholics), Kaufsucht, Sammelsucht, Fernseh- und Unterhaltungssucht, Risikosucht, Geschwindigkeitssucht, Bereicherungssucht, Gewalt- und Zerstörungssucht, Erfolgssucht, Herrschsucht, Gerechtigkeitssucht usw. – alles Phaenomene der Unersättlichkeit, die häufig auch kombiniert auftreten, die sich oft während Jahren verdichten und steigern und zunehmend schwerer steuerbar sind, sodass ein zusätzliches Phaenomen, dasjenige der Abhängigkeit, auftritt. Menschen aus allen Herkunfts- und Altersschichten, Männer und Frauen, junge und alte Menschen und solche in den “besten Jahren”, selbst Kinder, immer mehr Kinder weisen irgend ein Suchtverhalten auf. Was haben diese unterschiedlichen Phaenomene gemeinsam, resp. haben sie überhaupt etwas gemeinsam?
Meine These ist, dass die Entfremdung der Menschen so allumfassend und allbeherrrschend geworden ist, dass das Leiden übermächtig wird. Süchte verstehe ich als Phaenomene der Unersättlichkeit, ob diese sich in der Einverleibung oder Anverleibung von Stoffen zeige, oder in der Unterwerfung und Konditionierung der eigenen Psyche, des eigenen Körpers oder jener anderer Menschen, mit welchen die Aufhebung resp. die Befreiung von Entfremdung bezweckt wird. Was Entfremdung bedeutet, werde ich gleich erläutern. Meine zweite These ist, dass es untaugliche Versuche sind, da unsere ganze Gesellschaft in all ihren Bereichen Entfremdung vorweg generiert, dass es mithin einer Veränderung der Gesellschaft bedarf, damit Menschen ihre Grundbedürfnisse stillen können – nicht nur die materiellen, sondern insbesondere die psychischen und die sozialen -, damit nicht schwerwiegende Mangelerfahrungen entstehen, die sie durch Unersättlichkeit zu kompensieren suchen.
Was ist unter “Entfremdung” in der philosophischen Begriffsverwendung zu verstehen? Der Begriff stammt ursprünglich von Hegel, der in seinen “Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte” festhielt, dass die menschliche Geschichte zugleich die Geschichte der Entfremdung des Menschen sei. Der Mensch sei nie, was er sein sollte, und er sollte sein, was er sein könnte. Eine knappe Formel, welche Hegels Kritik an der – dem Wesen nie gerecht werdenden – Existenz zusammenfasst. Etwa hundert Jahre später schrieb Walter Benjamin im Exil in Paris in seinem Essay über den “Begriff der Geschichte”, dass “niemals ein Dokument der Kultur sein, das nicht zugleich eines der Barbarei sei”. Und einige Zeilen weiter, dass “die Tradition der Unterdrückten uns darüber belehre, dass der ‘Ausnahmezustand’, in dem wir leben, die Regel sei”. Für den jungen Marx, wiederum hundert Jahre früher, ebenfalls als Emigrant in Paris, schon damals, wurde der Entfremdungsbegriff zum Instrument seiner Gesellschaftskritik, der es ihm erlaubte, die Folgen einer durch ausschliessliches Profitstreben und zunehmende Arbeitsteilung geprägte Entwicklung herauszuarbeiten. Entfremdung bei Marx heisst Abkoppelung des Menschen vom Produkt seiner Arbeit, damit Entzweiung des Menschen mit sich selbst, Zerstörung seiner Individualität, Versklavung, ja Verdinglichung des Menschen. Marx zielte mit seiner Kritik nicht einfach auf höhere Löhne ab oder auf gleiche Löhne für alle, wie er immer wieder falsch interpretiert wurde, sondern auf die Wiederherstellung sinnhafter Existenz. Doch ich will nicht länger bei den in den “Philosophisch-ökonomischen Manuskripten” von 1844 und später im “Kapital” wieder aufgegriffenen Thesen verweilen, sondern von diesen zu einer kurzen Bestandesaufnahme der entfremdenden, seelisch krankmachenden Entwicklungen in unserer Gesellschaft übergehen, in welcher die von Marx thematisierte Sinnentleerung noch weiter fortgeschritten ist.
Welche Entfremdungserscheinungen stellen wir heute fest? Entfremdung des Menschen von sich selbst, vom eigenen Bild, von den eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten infolge gesellschaftlich normierter Erfolgs- und Glücks- und Schönheitsbilder, aber auch infolge einer in allen gesellschaftlichen Zusammenhängen tatsächlich oder latent spürbaren Gewalt, Entfremdung daher von der eigenen Emotionalität, von der eigenen Körperlichkeit und von der eigenen Sexualität, von den eigenen Schwächen und Kräften; Entfremdung von der eigenen Geschichte, von den eigenen Lebensetappen mit ihren Hoffnungen und ihrem Versagen, auch mit dem Bestehen von Schwierigkeiten und Prüfungen durch eine von Angeboten überbordenden “Kultur” der Zerstreuung und des Vergessens; Entfremdung auch vom eigenen Zeitrhythmus durch das externe Zeitdiktat einer vorweg gesteigerten Beschleunigung aller Arbeitsleistungen und Tätigkeiten, mit ständiger Gehetzheit und Gestresstheit der Menschen als Folge; Entfremdung vom Wissen um Raumverhältnisse resp. um Distanz und um Nähe durch die extreme Beschleunigung der Transporte, vor allem aber der Kommunikation (diese erfolgt schon mit Lichtgeschwindigkeit), so dass Ereignisse und Erkenntnisse veralten und “wertlos” werden, bevor sie erzählt oder sonst irgendwie vermittelt werden können, Entfremdung daher vom Wert des gelebten Lebens und der eigenen existentiellen und kognitiven Erfahrung; Entfremdung vom Wissen um die Unterscheidung von Grundbedürfnissen und Sekundär- und Tertiärbedürfnissen, da das eminente Bedürfnis nach Geld alle anderen Bedürfnisse überdeckt, ein Entfremdungsgrund, den schon Marx aufgedeckt hat, der heute mit der Käuflichkeit aller Güter in einer von Werbung und Angeboten beherrschten Welt durch die Unterschiedslosigkeit, mit welcher der Wert und die Notwendigkeit all dieser Güter angepriesen wird, exponentiell angewachsen ist; Entfremdung insbesondere hinsichtlich des Bedürfnisses nach Sicherheit und Unverletztheit der eigenen personalen Integrität und jener der Menschen, die man liebt und für die man sich verantwortlich fühlt, vor allem jener der Kinder, durch das Gefühl einer aktuellen oder einer untergründigen ständigen vitalen Bedrohung; Entfremdung von der Sprache, resp.vom Sinn und von der Bedeutung der Wörter durch deren Denaturierung durch Werbung und Propaganda; Entfremdung von den anderen Menschen und von sinnschaffenden Beziehungen, da Beziehungen immer weniger als gemeinsames verpflichtendes Projekt, sondern als Teil der konjunkturbedingten, austauschbaren Güterwelt verstanden werden und da sie in unendlich vielen Fällen von der allgegenwärtigen Gewalt infiziert sind; Entfremdung von der Natur durch die überhandnehmende Künstlichkeit der Welt, in welcher perfektionierte Machbarkeit, “virtuel reality” die eigentliche Natur verdrängt, die ohnehin durch rücksichtslose Ausbeutung und Verschmutzung allmählich völlig verarmt und erstickt; Entfremdung vom Produkt der Arbeit – der zentrale Kritikansatz von Marx – durch die Folgen der extremen Arbeitsteiligkeit und Rationalisierung, damit Entfremdung von der Arbeit selbst, da diese allein nach Profitmaximierungskriterien erfolgenden Standortkriterien angeboten oder entzogen wird, nach Kriterien der zu steigernden share-holder-values und nicht nach den Bedürfnissen der arbeitenden Menschen, mit dem Resultat, dass Menschen von einem Tag auf den anderen für überflüssig erklärt werden; Entfremdung von der Gesellschaft, da diese sich nicht mehr nach solidarischen, sondern ausschliesslich nach ökonomischen Kriterien, nach Rentabilitätskriterien definiert, so dass die Gesellschaft selbst zum “Unternehmen” wird, wo die Rede von “zu vielen” Menschen, von Übervölkerung, von Überalterung, von Überfremdung, von “Massen“arbeitslosigkeit, von “Überlastung” des Sozialstaates zwar scheinbar bedenkenlos in aller Mund ist, potentiell aber jeden einzelnen Menschen existentiell bedroht, da jeder und jede einmal Kind ist und eventuell alt, krank oder invalid werden kann, und in jedem Ausland Ausländer oder Ausländerin ist, heute aber Kranke und Invalide, alte Menschen, Kinder und nicht-zahlungskräftige Ausländer und Ausländerinnen, insbesondere Flüchtlinge “zu teuer” sind resp. nicht rentieren und daher, gemäss der Logik der kapitalistischen, neo-liberalen Ökonomie, eigentlich wegrationalisiert werden müssten – kurz, Entfremdung in allen Bereichen der individuellen Existenz und der Gesellschaft, damit überhandnehmende Sinnentleerung, das Gefühl des Ungenügens in allen Bereichen, der fragmentierten, für wertlos, für austauschbar und für überflüssig erklärten Existenz, der umfassenden Fremddefinition durch häufig benennbare, häufig aber durch nicht mehr benennbare Mächte, das Gefühl des Ausgeliefertseins, der Isolation, der Bedrohung.
Nicht alle Menschen sind sich des Ausmasses an Entfremdung gleich bewusst, viele leiden scheinbar nicht unter der Tatsache, dass Gewalt und Geld, Hektik und Stress, Propaganda und Werbung alles bestimmen. Viele verdrängen und/oder kompensieren die eigene Instrumentalisierung erfolgreich. “Instrumentalisierung” bedeutet, dass Menschen zu einem ihnen selbst fremden Zweck gebraucht, behandelt, ev. missbraucht werden, sowohl Menschen, über welche in demütigenden Untergebenen- und Abhängigkeitsverhältnissen verfügt wird (so in besonderem Mass Kinder, gerade auch in wohlhabenden Verhältnissen, deren Existenz häufig in erster Linie der Prestigesteigerung der Eltern dient), aber auch Menschen, die scheinbar Macht besitzen, die aber auf Grund ihrer Fähigkeiten innerhalb eines Systems zu einem ihnen fremden Zweck eingesetzt, resp. instrumentalisiert werden. Kant hat in seiner “Kritik der praktischen Vernunft” das Instrumentalisierungsverbot als “praktischen Imperativ” erklärt und diesem (neben dem kategorischen Imperativ) die Bedeutung einer wichtigsten ethischen Maxime verliehen. Heute jedoch ist die Nichtbeachtung und Verletzung dieser ethischen Maxime die Regel. Allein die Befolgung des Instrumentalisierungsverbots würde dagegen bedeuten, dass die Würde der Menschen intakt bliebe. Dazu aber bedürfte es einer anderen, einer solidarischen, nicht nach Profitmaximierungskriterien strukturierten Gesellschaft, in welcher der gleiche Wert jedes Menschen auf Grund der gleichen Menschheit in jedem Menschen respektiert würde. Sachen dürfen instrumentalisiert werden. Indem Menschen instrumentalisiert werden, werden sie daher den Sachen gleichgemacht, werden verdinglicht, für austauschbar und, je nachdem, für wertlos erklärt. Entfremdung und Instrumentalisierung haben die gleichen Folgen, resp. die Instrumentalisierung der Menschen ist die schwerwiegendste Entfremdungsursache.
Wenn ich eben sagte, dass viele Menschen diese Tatsachen erfolgreich verdrängen und/oder kompensieren, heisst das nicht, dass sie unentfremdet leben. Es gibt kein unentfremdetes Leben und keine unentfremdeten Menschen. Marx entwickelte seine Theorie als Theorie der Befreiung von Entfremdung. Er glaubte an die Realisierung dieser Theorie in einem echten Sozialismus, der den Menschen erlauben würde, alle ihre Grundbedürfnisse selbsttätig und in paritätischer Gegenseitigkeit zu befriedigen. Dieser Sozialismus wurde nie Wirklichkeit, wird es wohl kaum je werden. Nach Marx wäre Aufhebung der Entfremdung Glück. Doch “Glück ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten”, schrieb Freud in seinem Essay “Das Unbehagen in der Kultur” von 1929/30, und er fuhr fort, dass “was man im strengsten Sinn Glück heisst, der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse entspricht und seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich ist. Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen; wir sind so eingerichtet, dass wir nur den Kontrast intensiv geniessen können, den Zustand nur sehr wenig”. Dagegen seien die Möglichkeiten, Unglück zu erfahren, vielseitig. Das Leiden drohe sowohl vom eigenen Körper her, sodann von den unerbittlichen und zerstörenden Kräften der Aussenwelt her, sodann aus den Beziehungen mit anderen Menschen. In welchem Mass Menschen anderen Menschen schwerstes Leid zufügen können, tiefste Demütigungen und unerträgliche Schmerzen, Zerstörung der körperlichen und seelischen Integrität durch Torturen jeder Art, wissen wir von Überlebenden der polnischen Ghettos und der nationalsozialistischen Vernichtungslager, der Vernichtungskriege in Vietnam, in Kambodscha, in afrikanischen Ländern, der Folterkeller in den türkischen und anderen Polizeistationen und Gefängnissen überall in der Welt, der Gefangenenlager im noch kaum zu Ende gegangenen Krieg im ehemaligen Jugosalwien, wissen wir auch von den Überlebenden schwerer, häufig fortgesetzter sexueller und anderer Gewalttaten und den dadurch entstandenen Traumatisierungen in unserer Gesellschaft. Freud folgerte, dass es “kein Wunder sei, wenn unter dem Druck dieser Leidensmöglichkeiten die Menschen ihren Glückanspruch zu ermässigen pflegen, wie ja auch das Lustprinzip selbst sich unter dem Einfluss der Aussenwelt zum bescheidenen Realitätsprinzip umbildet, wenn man sich bereits glücklich preist, dem Unglück entgangen zu sein, das Leiden überstanden zu haben, wenn ganz allgemein die Aufgabe der Leidvermeidung die der Lustgewinnung in den Hintergrund drängt.”
Ist also “Leidvermeidung” das oberste Ziel? Freud untersucht die verschiedenen Möglichkeiten der Leidvermeidung und bezeichnet als eine der ersten die “Intoxikation”, als die “roheste, aber auch wirksamte Methode”, mit der durch Zuführung von körperfremden Stoffen bewirkt werde, dass Lustempfindungen geschaffen würden, oder dass die Menschen zur Aufnahme von Unlustregungen untauglich würden. Betrachten wir unsere Gesellschaft, so steht diese “roheste” Methode tatsächlich an erster Stelle, von Alkohl und Nikotin über alle möglichen legalen und illegalen Drogen, auch die heute modischen sog. Designer-Drogen, etwa Prozac und Ecstasy, zu den in den Apotheken käuflichen Psychopharmaka, den von Hausäzten/-ärztinnen verschriebenen Amphetaminen, Antidepressiva, Schlafmitteln und anderen Mitteln bis zu den vor allem in der Psychiatrie eingesetzen Neuroleptica usw. Die Frage stellt sich, ob die Methode der Intoxikation für die Leidverminderung tatsächlich wirksam sei. Die Erfahrung aller, die sich über Intoxikation Glück oder wenigstens Leidvermeidung verschaffen wollen, ist, dass dies nach relativ kurzer Zeit nicht einmal mehr als episodische Erfahrung möglich ist, dass sich im Gegenteil das Leiden ins Unerträgliche steigert.
Intoxikation ist eine kompensatorische Methode des scheinbaren Glücksgewinns, die nicht allein über die Einnahme “körperfremder” Stoffe zu realisieren angestrebt wird, sondern auf unterschiedlichste Weise, bei den “Workaholics” etwa durch suchthaft selbstzugefügte Arbeitsüberlastung, bei anderen Menschen durch Raserei auf den Strassen, oder durch übertriebenes Training im Sport, durch suchthaftes Hungern oder suchthaftes Essen, durch ständige Zerstreuung usw. Die Frage stellt sich, ob es nicht wirksame, weniger rohe, nicht-kompensatorische Methoden gibt. (Übrigens rechnen Marx und Freud auch die Religion resp. die Religionen zu den Kompensationen; Marx bezeichnet sie als “Opium”, Freud als Wahn). Aber gibt es Methoden der Rückgewinnung einer sinnhaften Existenz, ohne dass diese kompensatorisch seien und ohne dass sie in Bezug auf die entfremdete Geellschaft systemerhaltend wären? Wo steht zum Beispiel die Psychotherapie als Suchttherapie? Fällt sie eventuell auch in die Religionsfalle? Tröstet sie eventuell auch über die unerträgliche Existenz mit Heilsversprechungen hinweg? Ist sie auch Teil eines grossen Kompensationsangebots? Oder kann sie, im Gegenteil, den entfremdeten, instrumentalisierten, leidenden Menschen helfen, die ihnen gerechten, nicht-kompensatorischen Methoden der Leidverminderung oder gar des Glücks selber zu finden? – Methoden, die das Leiden der Seele wirklich heilen? Ist das überhaupt möglich? Stehen Therapeuten und und Therapeutinnen nicht unter dem gleichen Erfolgsdruck, der heute auf allen Tätigkeiten lastet? Welches sind Zweck und Ziel ihrer Tätigkeit? Therapieren sie die Leidenden, damit diese nachher in der entfremdeten Gesellschaft sich wieder besser einpassen können und wieder störungsfrei funktionieren? Stehen auch die Therapeuten und Therapeutinnen unter eine Normdiktat? Arbeiten sie mit an der Herstellung einer gesellschaftlich definierten “Normalität” der Menschen? Werden sie mithin selber durch das System instrumentalisiert? Was verstehen Psyhotherapeuten und -therapeutinnen unter “normalen” oder “gesunden” Menschen? (Wir wissen, wie gefährlich diese Kategorie für ungezählte Menschen unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurde). Können sie dazu beitragen, dass der einzelne Mensch zu seiner/ihrer eigenen Norm findet, zur Selbstdefinition seiner/ihrer Bedürfnisse, zu einem gelingenden Leben mit den eigenen Schwächen, Möglichkeiten und Talenten?
Suchttherapien kosten Geld, schaffen daher Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten. Suchttherapien sind in der heutigen Zeit mit den Folgelasten des in Leiden verkehrten Fortschritts zur – mehr oder weniger – lukrativen Erwerbsmöglichkeit und damit zu einem Teil des Systems geworden. Sie bedürfen geradezu der Leidenden, d.h. jener Leidenden, die eine Therapie auch bezahlen oder die über Programme der öffentlichen Hand daran teilhaben können. Was geschieht mit den anderen? Werden sie vor allem in die psychiatrischen Ambulatorien und Kliniken verwiesen, da dort die Behandlung auf jeden Fall durch die Krankenkassen bezahlt wird? Und was geschieht mit den Suchttherapieprogrammen bei einer Verknappung der öffentlichen Mittel oder bei einer Liberalisierung der Drogen? Wird angenommen, dass die verschiedenen Süchte dann erträglicher sind? resp. wurden die Therapien nur infolge günstiger konjunktureller Voraussetzungen als notwendig erachtet oder nur als die bessere Option im Vergleich zur Repression, eine Option, die scheinbar wegfallen kann, wenn es keine Repression mehr gibt?
Oder aber wird eine weitere Option ins Auge gefasst? Könnte diese beinhalten, dass Menschen zum Widerstand gegen die scheinbar unausweichlichen Zwänge der Gesellschaft befähigt werden? Vielleicht gar zur Subversion? Dass die unter bestimmten Strukturen und Situationen Leidenden befähigt würden, aus diesen Strukturen auszusteigen, diese Situationen aktiv zu verändern? Könnte Psychotherapie als Suchttherapie tatsächlich ein Gegenmodell zur entfremdenden Gesellschaft sein und das bewirken, was im idealen Fall der vertrauensvolle Austausch unter Freunden oder Freundinnen bewirkt, nämlich Hilfe und Unterstützung zu einem gelingenden Leben? Könnte Therapie zu einem anderen Wort für Kultur werden, im Sinne Freuds?
Marx hatte die Folgen des Fortschritts, die allen Menschen im Sinn einer Entlastung von schwerer Arbeit zugute kämen, als Befreiung begrüsst. Und Kant, gute fünfzig Jahre früher, hatte die Aufklärung als Programm des Mündigwerdens der Menschen definiert, resp. der Befreiung aus Zwängen und Fremdefinitionen, einer Befreiung zum Selberdenken und zum eigenen Urteilen und Handeln. Auch Freud erwog als anderen, besseren Weg als jenen der Intoxikation oder anderer Methoden der Leidverminderung, dass der Mensch als Mitglied der menschlichen Gemeinschaft “mit allen am Glück aller arbeite“, mithin zum Zustandekommen einer solidarischen Gesellschaft, zu einer solidarischen Kultur beitrage und dadurch selber von dieser getragen werde.
Waren Kant, Marx und Freud einfach naive Träumer? Die Frage stellt sich, ob der Preis des Fortschritts tatsächlich Leiden sein muss. Ob wir nicht alles daran setzen müssen, in allen Schichten und in allen Entscheidungsgremien, dass endlich die emanzipatorische, befreiende, friedenschaffende Seite des Fortschritts einlösbar wird – auch unserer Kinder und deren Kinder wegen, denen nicht noch mehr Leiden zugemutet werden kann? Zwar können Enttäuschungen, seelische Verletzungen, Mangelerfahrungen und Konflikte in keiner Form und in keiner Weise des menschlichen Zusammenlebens ausgeschlossen werden, aber lässt sich denn nicht lehren und lernen, von Kindheit an, dass diese Unglückserfahrungen lediglich ein Teil der Existenz sind, nicht die ganze Existenz, dass sie integriert werden können in andere Erfahrungen einer gelingenden Existenz? Wie können dies jedoch Menschen lernen, deren ganze Existenz seit der frühesten Sozialisation von Gewalt und von der Nicht-Erfüllung der Grundbedürfnisse geprägt ist? Lässt sich ein Lernprozess für die ganze Gesellschaft postulieren, da die einsichtslose Weiterentwicklung der Negativfolgen des Fortschritts sowie einer weiteren einseitigen Steigerung von Gewinnmaximierung die Gesellschaft zerstört? Kann das Mündigkeitstraining der Menschen als wichtigstes Ziel angestrebt werden, ein Training des beziehungsfähigen Lebens, nach Kriterien der je subjektiven Möglichkeiten und Bedürfnisse der Menschen und nicht der gesellschaftlichen Normierung, mithin auch ein Training des selbständigen Verzichts auf kompensatorische Glücksangebote? Genügen die heutigen Suchttherapien den Anforderungen, die mit einem emanzipatorischen Konzept von Therapie, resp. von Heilung verbunden sind?
Ich komme zum Schluss und zu einer knappen Zusammenfassung. Die Umwege, die ich eingeschlagen habe, um eine Antwort auf die Frage zu finden, was mit den unterschiedlichen Suchtverhalten bezweckt wird, mögen deutlich gemacht haben, dass die Bedingungen der Entfremdung, unter denen Menschen in der heutigen Gesellschaft leben, zu unerträglichen psychischen und sozialen Mangelerfahrungen und zu einem daraus wachsenden Leidensdruck führen, welcher der Entlastung bedarf. Entlastung aber durch Intoxikation oder durch andere Methoden der kompensatorischen Leidverminderung oder eventuell des Lust- und Glückgewinns führen in jene Zirkel der Unersättlichkeit, die wir als Sucht bezeichnen und die gerade das Gegenteil des angestrebten Zwecks bewirken, nämlich keine – auch nur annähernde – Befreiung aus den Bedingungen und Folgen der Entfremdung, sondern zusätzliche Verstrickung in deren Folgen und dadurch Verstärkung der Unfreiheit und des Leidens. Wir haben auf einem zweiten Weg versucht zu klären, ob die Sucht- und Rehabilitationstherapien eine bessere, eine nicht-kompensatorische Methode der Befreiung anbieten können, ein Mündigkeitstraining, dank dessen süchtige Menschen befähigt werden, einerseits Widerstand gegen kompensatorische Angebote zu leisten und andererseits auf selbsttätige Weise Situationen zu verändern, unter denen sie leiden und in denen sie zu kurz kommen, – oder aber ob diese Therapien ein systemerhaltendes Instrument der entfremdenden Gesellschaft sind. All diese Umwege müssen wieder zur Hauptfrage zurückführen. Das, was mit den verschiedenen Suchtphaenomenen angestrebt wird, nämlich eine Entlastung vom Leidensdruck der Entfremdung, bleibt immer kompensatorisch und führt in immer leidvollere Zirkelerfahrungen, da die Gesellschaft, welche die Süchte zu heilen vorgibt, immer neue Entfremdung generiert und kumuliert.
Was bleibt also zu tun? Die Antwort, scheint mir, ergibt sich aus dem im Suchtverhalten angestrebten Zweck. Dieser kann nur durch die Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen, durch Veränderung der Gesellschaft selbst erreicht werden. Eine Erfüllung nicht nur der matriellen, sondern auch der pychischen und sozialen Grundbedürfnisse kann nicht durch Therapien, sondern nur durch Rückbesinnung auf die Grundbedingungen sinnhafter Existenz in der Pluralität der Menschen geschehen: durch eine andere Kultur. Dazu gehört ein Bildungswesen, das mit Sorgfalt der Diversität und Differenz der Kinder und Jugendlichen gerecht wird und das nicht auf Grund normierter Leistungskriterien verhängnisvolle Wettbewerbsmodelle mit der Dichotomisierung von Starken und Schwachen, Gefälligen und Schwierigen, Reichen und Armen etc. vorwegnimmt, das nicht Differenz mit Ausschluss bestraft, sondern das dem vielfältigen Hunger nach Realitätserfahrung und nach Gruppenzugehörigkeit gerecht wird. Dazu gehört eine Rückbesinnung auf den Wert der menschlichen Beziehungen. Es ist verhängnisvoll, dass Beziehungen heute Warencharakter haben, dass Menschen nach einigem Verbrauch ersetzt werden wie Strümpfe. Beziehungen eingehen, pflegen und erhalten, sowohl mit den Liebes- oder Lebenspartnern und -partnerinnen, mit Kindern und jungen Menschen, mit alten Menschen, im Freundes-/Freundinnen- und Bekanntenkreis, nachbarschaftliche Beziehungen unterhalten, sich mitverantwortlich fühlen für die Qualität des Zusammenlebens im Quartier, im Dorf, in der Stadt, all dies kann Entfremdung vermindern, bedarf jedoch der Zeit, resp. einer grösseren Langsamkeit im Alltagstempo sowie im Ablauf der geforderten Arbeitsleistungen. Diese grössere Langsamkeit kann erreicht werden, wenn die Vollarbeitszeit auf die Hälfte der heutigen Arbeitszeit reduziert wird, eine längst fällige Reduktion, datiert der Achtstundentag als soziale Errungenschaft doch aus den dreissiger Jahren. Die Halbierung der Vollarbeitszeit hätte nicht nur den Vorteil, die den Menschen und den Beziehungen zwischen den Menschen dringend benötigte Musse zu schaffen, sondern auch die Probleme der Arbeits- und Erwerbslosigkeit, damit der Marginalisierung, der “Entwertung” und Entmündigung durch Fürsorgeabhängigkeit von Hundertausenden von Menschen zu lösen. Bei der Verteilung und Reinvestition des gesellschaftlichen Mehrwerts müssten in massgeblicher Weise die jungen Menschen und die Frauen mitbestimmen können. Das heisst, dass die politische Mitbestimmung demokratisch auf andere Weise als nach dem herkömmlich strukturierten patriarchalen Parteienverhältnis geschehen müsste, dass demokratische Entscheidungsmacht, deren Veränderung und Korrektur nicht nach Massgabe der geldstärksten Propagandafabrikation, hinter der die Partikulärinteressen weniger stehen, zustandekommen dürfte, sondern gemäss dem Zusammenschluss der vielen, deren Vorstellung von Lebensqualität die gleiche Lebensqualität für die Schwächsten in der Gesellschaft miteinschliesst, der Kinder, der alten Menschen, der Fremden, insbesondere der Flüchtlinge, der Invaliden und Kranken oder ganz einfach jener, die nicht fähig sind, sich für die Erfüllung ihrer Bedürfnisse zu wehren.
Vielleicht könnte so jene “Technik der Lebenskunst” einzeln und gemeinsam geübt werden, auf die Freud in seinem oben zitierten Essay hinweist, nachdem er alle Methoden der Leidverminderung als ungenügend nachgewiesen hat? Keine Utopie, meine ich, sondern ein Projekt, welches eine Schritt für Schritt zu realisierende Linderung der Entfremdung zum Ziel hat, so dass diese ertragbar würde, nicht auf kompensatorische Weise, sondern im Zugeständnis der nicht aufhebbaren Unvollkommenheit aller Formen und Gestalten des Zusammenlebens, jedoch im Wissen um die notwendige Sorgfalt im Vermeiden jeder Art von Instrumentalisierung von Menschen.