Sucht und Gesellschaft

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Sucht und Gesellschaft

 

 

Meine Damen und Herren

Ich begrüsse Sie herzlich und dannke der Stiftung contact für die Einladung, hier an Ihrer Fachtagung zu sprechen. Meine Überlegungen haben mit den gesellschaftlichen Hintergründen von Suchterscheinungen zu tun. Zwar hat das Entstehen individueller Suchterkrankungen mit der persönlichen Geschichte der einzelnen Menschen zu tun und lässt sich nur aus dieser heraus verstehen und heilen; jede Geschichte aber muss eingerückt werden in die allgemeinen Lebensbedingungen der Gesellschaft und der Zeit, in der wir alle leben. Die Tatsache, dass in der Schweiz die Anzahl suchtkranker Menschen im europäischen Vergleich überdurchschnittlich hoch ist – über 1 Million Alkohol- und Nikotinabhängiger, an die 30’000 Drogenabhängiger und eine unbekannte Zahl weiterer Suchtkranker – lässt die Frage nach den gesellschaftlichen Erkrankungsursachen als dringlich erscheinen.

Ich werde in einem ersten Teil versuchen, unsere postmoderne, postindustrielle Zeit auf ihre charakteristischen Merkmale hin zu untersuchen; in einem zweiten Teil werde ich auf die Frage eingehen, ob die zeitunabhängigen Grundbedürfnisse junger – und älterer – Menschen unter den Bedingungen unserer Zeit erfüllt oder nicht erfüllt werden können und ob diese Frage mit dem Entstehen von Suchtkrankheiten zu tun hat, und in einem dritten Teil versuchen, Perspektiven aufzuzeigen.

 

Die postmoderne Gesellschaft

“Von drei Seiten droht das Leiden”, schreibt Sigmund Freud in “Das Unbehagen in der Kultur”, “vom eigenen Körper her, der zu Verfall und Auflösung bestimmt, sogar Schmerz und Angst als Warnsignale nicht entbehren kann, von der Aussenwelt, die mit übermächtigen, unerbittlichen, zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann, und endlich aus den Beziehungen zu anderen Menschen. Das Leiden, das aus dieser Quelle stammt, empfinden wir vielleicht schmerzlicher als jedes andere; wir sind geneigt, es als eine gewissermassen überflüssige Zutat anzusehen, obwohl es nicht weniger schicksalsmässig unabwendbar sein dürfte als das Leiden anderer Herkunft.” Neben Krankheiten und Sterblichkeit, neben der Unbill der Natur, verursachen “die Beziehungen zu anderen Menschen” das grösste Ausmass an Leiden. Mit den “Beziehungen” meint Freud jedoch nicht allein die privaten Herkunftsgeschichten und die späteren Verhältnisse, aus denen – neben erfreulichen Erfahrungen – auch zahlreiche Verletzungen, Enttäuschungen und Ängste resultieren, sondern er meint ebenso sehr die Strukturen des Zusammenlebens, die Verteilung von Macht, die Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse der Gesellschaft. Auf diese Verhältnisse möchte ich im folgenden eingehen.

Ein besonderes Ausmass an Leiden scheint unsere Zeit, unsere Gegenwart zu kennzeichnen. Sie wird gemeinhin als die Epoche der Postmoderne bezeichnet. Vom Begriff her hat sie an der Moderne teil, lässt diese jedoch hinter sich zurück. Sie ist deren Überschreitung. Die grösste Leistung der Moderne war die im 18. Jahrhundert sich durchsetzende “Aufklärung“, welche die vorher festen, unanzweifelbaren Rechtfertigungsinstanzen für das Urteilen und Handeln verabschiedete – die Religionen mit ihren strikten Glaubens- und Handlungsmaximen, die ständische Ordnung mit den fest definierten Kategorien von Befehlenden und Gehorchenden, die Akademien mit ihren rigiden Massäben für die Anerkennung von Kunst und Wissenschaft. Alles Handeln, das private und das öffentliche, Glaube und Wissen, wissenschaftliche und künstlerische Tätigkeit stützten sich fortan nur noch auf die autonome Vernunft ab, an der jeder einzelne Mensch teilhat, selber das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Indem die Vernunft zur Richterin über das richtige Urteilen und Handeln erklärt wurde, wurde ihr zusätzlich die Aufgabe der Selbstkritik überbunden. Damit kam es zur unablösbaren Koppelung von Vernunft und Freiheit.

Die Moderne bedeutete einen kultur- und gesellschaftspolitischen Quantensprung. Erst von diesem Moment an konnte Geschichte nicht als Fügung, sondern als “gemacht” und „machbar“ erkannt werden, als menschlich gelenkte Entwicklung, für welche die Verantwortung zu übernehmen ist. Die freiheitlichen Revolutionen und damit die verfassungsrechtliche, demokratische Entwicklung der politischen und sozialen Geschichte seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zu den Aufständen um 1968 herum (die zugleich von der studentischen Jugend, den Arbeitern, den Frauen, den Schwarzen in Amerika, den pazifistischen Bewegungen gegen den Krieg in Algerien, in Vietnam und gegen atomare Aufrüstung getragen waren) – all dies waren kollektive Manifestationen der Freiheit, die vom Freiheits- und Gerechtigkeitswillen ungezählter einzelner Menschen getragen waren.

Diesem machtvollen Streben nach einer Verbesserung der Gesellschaft in Hinblick auf mehr Menschlichkeit, mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit, wurde jedoch immer wieder durch staatliche und partikuläre, durch politische und innergesellschaftliche, auch wirtschaftliche Interessen entgegengewirkt, durch Kräfte, die ebenfalls Massen mobilisierten und die sich in antifreiheitlichen Bewegungen und totalitären Herrschaftskonstellationen zuspitzten. Diese antihumanitären Entwicklungen fanden ihre entsetzlichste Steigerung im Terror, in den Verbrechen, in der Menschenverachtung der totalitären Regimes dieses Jahrhunderts. Die Postmoderne ist die Zeit nach den Menschenschlächtereien der beiden Weltkriege, die Zeit nach Auschwitz, eine Zeit, die den Makel und die Trauer der Barbarei, der menschengeschaffenen Katastrophen nicht mehr ablegen kann und die das Verhängnis des bösen Handelns seither in Hunderten von Kriegen und in weiteren millionenfachen menschlichen Tragödien fortsetzt.

Die Postmoderne wird gemeinhin als Epoche der grundsätzlichen „Beliebigkeit“ bezeichnet. Das heisst, dass der Rekurs auf die eine Vernunft durch unbeschränkt viele Begründungs- und Erklärungsmöglichkeiten abgelöst wurde. Das kann das eigene Empfinden n, oder das Streben nach materiellem oder immateriellem Gewinn, eventuell der hedonistische Eigennutzen, vielleicht auch der allgemeine Nutzen, oder dessen radikale Leugnung, resp. das Bestehen auf der Eitelkeit und Vergeblichkeit allen Strebens und guten Handelns, auf der Absurdität. In der Postmoderne wird zwar vor allem die individuelle Freiheit verteidigt, gleichzeitig aber zeigen sich klar die Grenzen der Freiheit, damit wiederum zugleich das Diesseits und Jenseits der Grenzen wie die – häufig ängstigenden – Grenzüberschreitungen: neben dem Wirklichen das Virtuelle, neben dem Sagbaren das Unsagbare, neben dem Gestalten die Dekonstruktion, die Auflösung und Zerstörung.

Als positive Errungenschaften der Postmoderne erscheint mir das Wissen um die Brüchigkeit und Unzulänglichkeit allen Wissens, das Misstrauen gegenüber allumfassenden Rezepten und Heilslehren[1], überhaupt die Absage an das „Totale“ oder „Ganze“, was – zum Beispiel im Bereich des Politischen – eine Kontrolle und Zurückbindung totalitärer Bewegungen ermöglicht, oder was in der Frage der Persönlichkeitsentwicklung zur Abwehr fest definierter Identitäten führt. Dies hat bewirkt, dass bezüglich der Geschlechterrollen wie bezüglich der religiösen oder politischen Überzeugungen jeder Lernprozess, jede Wandlung und Neudefinition als legitim gilt. Ich denke, dass es dieser Entwicklung bedurfte, damit zum Beispiel eine breite kollektive Ablehnung von Rassismus, Sexismus und Antisemitismus erreicht werden konnte, die, trotz starker Gegenkräfte, in der Schweiz im Jahre 1994 zur Annahme der UNO-Konvention gegen Rassismus und des damit verbundenen Strafgesetzartikels geführt hat.In der Konsequenz dieser Entwicklung kann auch eine Revision des Betäubungsmittelgesetzes erfolgen.

Die Postmoderne hat somit – einerseits – einen Fortschritt an Freiheit erreicht, indem sie den einzelnen Menschen für befähigt erklärt, selbst die Normen des Handelns zu setzen und zu rechtfertigen, andererseits hat sie durch den Verzicht auf allgemein verpflichtende Normen und Werte grosse – individuelle und kollektive – Verunsicherungen, Überforderungen und Ängste verursacht, und damit eine Beeinträchtigung der Freiheit. Die Folgen sind vielfältig. Sie zeigen sich u.a. in der Kehrseite der oben geschilderten Entwicklung, etwa in der Verhärtung politischer Forderungen nach mehr Ordnung, nach schärferen und restriktiveren Gesetzen, nicht zuletzt im Bereich der repressiven Drogenprohibition (ohne Ursachenbekämpfung) oder des Ausländer- und Asylrechts (wie sich dies vor drei Jahren im Gesetz über Zwangsmassnahmen äusserte oder in der Ablehnung der erleichterten Einbürgerung junger Ausländerinnen und Ausländer), sie zeigen sich im Bedürfnis nach nationaler Abschottung statt nach Öffnung (erkennbar in den negativen Resultaten der EWR-Abstimmung, ja in der ganzen Europa- und UNO-Diskussion), sie zeigen sich in den Beschränkungen im Sozialbereich und in der Kultur (kam u.a. in der Ablehnung des Kulturförderungsartikels zum Ausdruck, oder zeigt sich in der vom Zürcher Regierungsrat geplanten Zuteilung des gesamten Jugend- und Sozialbereichs zum sog. “Sicherheitsdepartement”).

 

Die postindustrielle Gesellschaft

Zu diesen normativen Verunsicherungen gesellen sich grosse materielle Überlebensängste infolge der technologischen, wirtschaftlichen und ökologischen Entwicklungen. Die Postmoderne ist zugleich die postindustrielle Gesellschaft, in welcher sich der neoliberale Kapitalismus ungehemmt ausdehnt und zu einer massiven Veränderung der Produktionsbedingungen, -standorte und -arbeitsmöglichkeiten führt. Schon heute zeigt sich, dass nur noch ein Bruchteil der Bevölkerung daran teilhat, nur derjenige Teil, der durch spezifische Kompetenz und Effizienz Schritt halten kann. Der andere Teil fühlt sich infolge der Rationalisierungen, Fusionierungen und rapiden Innovationen zunehmend an den Rand gedrängt und für überflüssig erklärt, auf spürbare Weise, die Leiden verursacht: durch Entlassung, durch Erwerbslosigkeit, durch materielle Not, durch Sinnverlust oder durch andere Gründe. In den letzten fünf Jahren gingen allein in der Schweiz über 350’000 Arbeitsplätze verloren. Freiheit kann jedoch unter Bedingungen der psychischen und physischen Subsistenznot kaum oder nicht wahrgenommen werden. Da gibt es keine Optionen des Handelns, da gibt es nur Notwendigkeiten, vor allem die Notwendigkeit des Überlebens. Gemessen an dieser Tatsache erscheinen die postmodernen und neoliberalen Freiheitsbehauptungen wie ein Hohn – und dies zeigt sich als grosse Gefahr. Politische und religiöse Angebote, welche Sinngebung und Sicherheit versprechen, und sei es durch die Konstruktion von Feindbildern, werden wiederum in breitem Ausmass gesucht und angenommen. Die Zustimmung der Massen Arbeitsloser in den dreissiger Jahren zum Nationalsozialismus sowie zu den Zielen der antisemitischen und generell rassistischen Vernichtung von Menschen muss in Erinnerung bleiben. Vergleichbare Propagandaresultate gezielter Aufhetzung sind auch unter den heutigen Bedingungen denkbar. Der noch kaum zu Ende gegangene Krieg im ehemaligen Jugoslawien mit den unsäglichen “ethnischen Säuberungen” ist ein Beweis dafür. Auf jeden Fall ist festzustellen, dass die postindustrielle Gesellschaft Experimente mit Menschen – etwa im Bereich der Bio-Technologie und Bio-Industrie oder in der Wirtschaft – unter dem Titel des notwendigen Fortschritts für zulässig erklärt, und dass die Aufteilung unserer Gesellschaft in Effiziente und „Unbrauchbare“, in „marktkonforme“ Menschen und „nicht-konforme“ oder „überzählige“ Menschen, auf exponentielle Weise zunimmt. Zur zweiten Gruppe gehören auch viele junge Menschen aller Bevölkerungsschichten.

 

Grundbedürfnisse sind nicht beliebig

Überzählig zu sein entspricht keinem Grundbedürfnis. Dagegen ist das Bedürfnis nach personalem Wert, nach einer Aufgabe und einem Platz in der Gesellschaft prioritär. Die Grundbedürfnisse sind diejenigen Bedürfnisse, die allen Menschen eigen sind, unabhängig von Herkunft und Stand. Sie betreffen das körperliche, das psychische und das soziale Leben. Die Tatsache, dass für die Befriedigung der Grundbedürfnisse alle Menschen auf andere Menschen angewiesen sind, alle von einander abhängig sind – auch die stärksten und reichsten – schafft eine wechselseitige, gegenseitige Abhängigkeit, die in der Regel verdrängt wird, deren Anerkennung aber eigentlich genügen müsste, um gerechte Verhältnisse des Zusammenlebens zu schaffen. Denn der Anspruch auf Erfüllung der Grundrechte stützt sich letztlich auf die Tatsache der gegenseitigen Anerkennung und Stillung der Grundbedürfnisse der Menschen ab. Dabei zeigt sich das Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit und Integration, nach Schönheit und nach Anerkennung als ebenso unverzichtbar wie dasjenige nach körperlicher Ernährung und nach einem Dach über dem Kopf, und dieses wiederum als ebenso unverzichtbar wie jenes nach Freiheit und nach einer zustimmungsfähigen Ordnung.

Die Nichterfüllung sowohl der materiellen wie der immateriellen Grundbedürfnisse führt immer zu Hungererscheinungen, zu “Hungerkrankheiten“, zu Krankheiten der Seele, die grosses Leiden verursachen. Wenn das Leiden unerträglich erscheint, bieten sich jene „Ersatzbefriedigungen“ an, auf welche Freud in „Das Unbehagen in der Kultur“ aufmerksam macht. „Solcher Mittel gibt es dreierlei: mächtige Ablenkungen, die uns unser Elend geringschätzen lassen. Ersatzbefriedigungen, die es verringern, Rauschstoffe, die uns für dasselbe unempfindlich machen. Irgend etwas dieser Art”, fügt er bei, “ist unerlässlich”. Diese “Ersatzbefriedigungen” zeigen sich u.a. in psychischen oder physischen „Unersättlichkeiten“, die zu zwingenden und quälenden, beinah eigengesetzlichen Gewohnheiten werden – zu “Süchten”. Drogensucht ist eine davon, Alkohol-, Nikotin- oder Medikamentensucht je andere. Als “Hungerkrankheiten” müssen viele weitere Erscheinungen der Unersättlichkeit verstanden werden, etwa Anorexie, Bulimie, Workaholismus, Spielsucht, Konsum-, Kauf- und Sammelsucht, auch jene des ungezügelten, masslosen Machthungers u.a.m..

 

Die umfassende Entfremdung

Wie kommt es zu all diesen Mangelerscheinungen in einem Land, das trotz aller Rezession noch immer zu den reichsten der Welt gehört? Genügen zur Erklärung die Postmoderne? – oder die Globalisierung? Oder ist es so, dass durch die Vedrängung – oder Verweigerung – der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen für die Erfüllung der Grundbedürfnisse Ersatzabhängigkeiten gesucht werden? Was steht hinter diesen Verweigerungen? Kommen wir so auf die Erklärung der so weit verbreiteten Mangelerscheinungen? Meine zentrale These ist, dass die Entfremdung der Menschen so allumfassend und allbeherrrschend geworden ist, dass das Leiden übermächtig wird. Wenn ich die Süchte als Phaenomene der Unersättlichkeit bezeichne, ob diese sich in der Einverleibung oder Anverleibung von Stoffen zeige, oder in der Unterwerfung und Konditionierung der eigenen Psyche, des eigenen Körpers oder jener anderer Menschen, so heisst dies zugleich, dass auf unersättliche Weise nach Aufhebung der Entfremdung, resp. nach Befreiung und Linderung von Entfremdung gesucht wird. Süchte sind jedoch – je individuell – untaugliche Versuche, nicht nur, weil sie selbst-aggressiv, ev. selbst-zerstörerisch sind, sondern weil unsere ganze Gesellschaft in all ihren Bereichen Entfremdung vorweg generiert.

Was verstehe ich unter “Entfremdung”? Der Begriff stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert, ursprünglich von Hegel, der in seinen “Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte” festhielt, dass die menschliche Geschichte zugleich die Geschichte der Entfremdung des Menschen sei. Der Mensch sei nie, was er sein sollte, und er sollte sein, was er sein könnte. Mit dieser knappen Formel fasst Hegel seine Kritik an der – dem Wesen nie gerecht werdenden – Existenz zusammen. Für den jungen, damals 26jährigen Karl Marx, 1844 als Emigrant, als Flüchtling in Paris, wurde der Entfremdungsbegriff zum Instrument seiner Gesellschaftskritik, der es ihm erlaubte, die Folgen einer durch ausschliessliches Profitstreben und zunehmende Arbeitsteilung geprägte Entwicklung herauszuarbeiten. “Entfremdung, bei Marx in seinen sog. “Pariser Manuskripten” (den “Ökonomisch-philosophischen Schriften”), heisst Abkoppelung des Menschen vom Produkt seiner Arbeit, damit Entzweiung des Menschen mit sich selbst, Zerstörung seiner Individualität, Versklavung, ja Verdinglichung des Menschen. Marx zielte mit seiner Kritik nicht einfach auf höhere Löhne ab oder auf gleiche Löhne für alle, wie er immer wieder  falsch interpretiert wurde, sondern auf die Wiederherstellung sinnhafter Existenz.

Doch ich will nicht länger bei Marx verweilen, sondern nach den Entfremdungserscheinungen fragen, die wir heute feststellen. Es geht in unserer Gesellschaft tatsächlich um mehr als um Begleiterscheinungen der Postmoderne. Es geht um die Entfremdung des Menschen von sich selbst, vom eigenen Bild, von den eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten infolge gesellschaftlich normierter Erfolgs- und Glücks- und Schönheitsbilder, aber auch infolge einer überall tatsächlich oder latent spürbaren Gewalt, Entfremdung daher von der eigenen Emotionalität, von der eigenen Körperlichkeit und von der eigenen Sexualität, von den eigenen Schwächen und Kräften; Entfremdung von der eigenen Geschichte, von den eigenen Lebensetappen mit ihren Hoffnungen und ihrem Versagen, auch mit dem Bestehen von Schwierigkeiten und Prüfungen durch eine von Angeboten überbordenden “Kultur” der Zerstreuung und des Vergessens; Entfremdung auch vom eigenen Zeitrhythmus durch das externe Zeitdiktat einer vorweg gesteigerten Beschleunigung aller Tätigkeiten und Leistungen, mit ständiger Gehetzheit und Gestresstheit der Menschen als Folge; Entfremdung vom Wissen um Raumverhältnisse resp. um Distanz und um Nähe durch die extreme Beschleunigung der Transporte, vor allem aber der Kommunikation (diese erfolgt schon mit Lichtgeschwindigkeit), so dass Ereignisse und Erkenntnisse veralten und “wertlos” werden, bevor sie erzählt oder sonst irgendwie vermittelt werden können, Entfremdung daher vom Wert des gelebten Lebens und der eigenen existentiellen und kognitiven Erfahrung; Entfremdung vom Wissen um die Unterscheidung von Grundbedürfnissen und Sekundär- und Tertiärbedürfnissen, da das eminente Bedürfnis nach Geld alle anderen Bedürfnisse überdeckt, ein Entfremdungsgrund, den schon Marx aufgedeckt hat, der heute mit der Käuflichkeit aller Güter in einer von Werbung und Angeboten beherrschten Welt durch die Unterschiedslosigkeit, mit welcher die Notwendigkeit all dieser Güter angepriesen wird, exponentiell angewachsen ist; Entfremdung insbesondere hinsichtlich des Bedürfnisses nach Sicherheit und Unverletztheit der eigenen personalen Integrität und jener der Menschen, die man liebt und für die man sich verantwortlich fühlt, vor allem jener der Kinder, durch das Gefühl einer aktuellen oder einer untergründigen ständigen vitalen Bedrohung; Entfremdung von der Sprache, vom Sinn und von der Bedeutung der Worte durch deren Denaturierung durch Werbung und Propaganda; Entfremdung von den anderen Menschen und von sinnschaffenden Beziehungen, da Beziehungen immer weniger als gemeinsames verpflichtendes Projekt, sondern als Teil der konjunkturbedingten, austauschbaren Güterwelt verstanden werden und da sie in unendlich vielen Fällen von Gewalt infiziert sind; Entfremdung von der Natur durch die überhandnehmende Künstlichkeit der Welt, in welcher perfektionierte Machbarkeit, “virtuel reality” die eigentliche Natur verdrängt, die ohnehin durch rücksichtslose Ausbeutung und Verschmutzung allmählich völlig verarmt und erstickt; Entfremdung vom Produkt der Arbeit – der zentrale Kritikansatz von Marx – durch die Folgen der extremen Arbeitsteiligkeit und Rationalisierung, damit Entfremdung von der Arbeit selbst, da diese allein nach Profitmaximierungskriterien erfolgenden Standortkriterien angeboten oder entzogen wird, nach Kriterien der zu steigernden share-holder-values und nicht nach den Bedürfnissen der arbeitenden Menschen, mit dem Resultat, dass Menschen von einem Tag auf den anderen für überflüssig erklärt werden; Entfremdung von der Gesellschaft, da diese sich nicht mehr nach solidarischen, sondern ausschliesslich nach ökonomischen Kriterien, nach Rentabilitätskriterien definiert, so dass die Gesellschaft selbst zum “Unternehmen” wird, wo die Rede von “zu vielen” Menschen, von Übervölkerung, von Überalterung, von Überfremdung, von “Massen“arbeitslosigkeit, von “Überlastung” des Sozialstaates zwar scheinbar bedenkenlos in aller Mund ist, potentiell aber jeden einzelnen Menschen existentiell bedroht, da jeder und jede einmal Kind ist und eventuell alt, krank oder invalid werden kann, und in jedem Ausland Ausländer oder Ausländerin ist, da heute aber Kranke und Invalide, alte Menschen, Kinder und nicht-zahlungskräftige Ausländer und Ausländerinnen, insbesondere Flüchtlinge “zu teuer” sind resp. nicht rentieren und daher, gemäss der Logik der neo-liberalen Ökonomie, eigentlich “wegrationalisiert” werden müssten  – kurz, Entfremdung in allen Bereichen der individuellen Existenz und der Gesellschaft, damit, tatsächlich, überhandnehmende Sinnentleerung, das Gefühl des Ungenügens in allen Bereichen, der fragmentierten, für wertlos, für austauschbar und für überflüssig erklärten Existenz, der umfassenden Fremddefinition durch häufig benennbare, häufig aber durch nicht mehr benennbare Mächte, das Gefühl des Ausgeliefertseins, der Isolation, der Bedrohung.

Nicht alle Menschen sind sich des Ausmasses an Entfremdung gleich bewusst, viele leiden scheinbar nicht unter der Tatsache, dass Gewalt und Geld, Hektik und Stress, Propaganda und Werbung alles bestimmen. Viele verdrängen und/oder kompensieren die eigene Instrumentalisierung erfolgreich. “Instrumentalisierung” bedeutet, dass Menschen zu einem ihnen selbst fremden Zweck gebraucht, behandelt, ev. missbraucht werden, sowohl Menschen, über welche in Untergebenen- und Abhängigkeitsverhältnissen verfügt wird (so in besonderem Mass Kinder, gerade auch in wohlhabenden Verhältnissen, deren Existenz häufig in erster Linie der Prestigesteigerung der Eltern dient), aber auch Menschen, die scheinbar Macht besitzen, die aber auf Grund ihrer Fähigkeiten innerhalb eines Systems zu einem ihnen fremden Zweck eingesetzt, resp. instrumentalisiert werden. Kant, der grosse Aufklärer, hat in seiner “Kritik der praktischen Vernunft” das Instrumentalisierungsverbot als “praktischen Imperativ” erklärt und diesem die Bedeutung einer wichtigsten ethischen Maxime verliehen. Heute jedoch ist deren Nichtbeachtung und Verletzung die Regel. Allein die Befolgung des Instrumentalisierungsverbots würde dagegen bedeuten, dass die Würde der Menschen intakt bliebe. Dazu aber bedürfte es einer anderen, einer solidarischen, nicht nach Profitmaximierungskriterien gelenkten Gesellschaft, in welcher der gleiche Wert jedes Menschen auf Grund der gleichen Menschheit in jedem Menschen respektiert würde. Sachen dürfen instrumentalisiert werden. Indem Menschen instrumentalisiert werden, werden sie daher den Sachen gleichgemacht, werden verdinglicht, für austauschbar und, je nachdem, für wertlos erklärt. Entfremdung und Instrumentalisierung haben die gleichen Folgen, resp. die Instrumentalisierung der Menschen ist die schwerwiegendste Entfremdungsursache.

Wenn ich eben sagte, dass viele Menschen diese Tatsachen erfolgreich verdrängen und/oder kompensieren, heisst das nicht, dass sie unentfremdet leben. Es gibt kein unentfremdetes Leben und keine unentfremdeten Menschen. Marx entwickelte seine Theorie als Theorie der Befreiung von Entfremdung. Er glaubte an die Realisierung dieser Theorie in einem echten Sozialismus, der den Menschen erlauben würde, alle ihre Grundbedürfnisse selbsttätig und in paritätischer Gegenseitigkeit zu befriedigen. Dieser Sozialismus wurde nie Wirklichkeit, wird es wohl kaum je werden. Nach Marx wäre Aufhebung der Entfremdung Glück. Doch “Glück”, lehrt Freud, ist zwar das Hauptstreben aller Menschen, “ist jedoch im Plan der Schöpfung nicht vorgesehen”.

 

Eine Kultur der Solidarität

Was bleibt zu tun? Bleibt nur die Resignation? Bevor ich zum Schluss komme, verweise ich nochmals auf Sigmund Freud. Er hat bekanntlich zwischen dem Lebenstrieb und dem Todestrieb unterschieden, zwischen jenen inneren Kräften, die das eigene Leben und das Zusammenleben mit anderen Menschen kraftvoll unterstützen, und jenen, die es gefährden. Die destruktiven Kräfte bauen sich zum Teil auf komplizierte, innerpsychische Weise durch früh empfundene Gefühle des Ungenügens, der – häufig kaum benennbaren – persönlichen “Schuld” auf. Bleiben wichtige Grundbedürfnisse ungestillt und kommt zusätzlich ein Gefühl des persönlichen Ungenügens, ja der “Schuld” hinzu, so wachsen die selbstzerstörerischen und gemeinschaftszerstörerischen Tendenzen auf bedrohliche Weise an. Freud bezeichnet es daher als die „Schicksalsfrage der Menschenart, (…), ob und in welchem Masse es ihrer Kulturentwicklung gelingen werde, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.

Ich denke, dass dies tatsächlich entscheidend ist. Ob und in welchem Mass es den einzelnen Menschen gelingt, das Leiden an der Entfremdung und ihren Hunger nach einem erfüllten Leben nicht gegen sich zu wenden, sondern das damit verbundene Bedürfnis nach Glück – kraft ihrer Freiheit – in den Dienst des besseren Zusammenlebens mit den anderen Menschen zu setzen, in den Dienst einer Kultur der Solidarität, d.h. einer Anerkennung der gegenseitigen Abhängigkeit, die wiederum sie selber tragen wird – ,dies hängt von vielem ab. Es hängt von nachhaltigen Ermutigungen ab, die von den vielen Einzelnen, die zusammenleben, ausgehen, vom Willen dieser vielen Einzelnen, für einander nicht blind und taub, nicht indifferent zu sein, sondern auf einander zu achten, einander gegenseitig Sorge zu tragen, zusammenzurücken und zugleich einander Raum zu lassen, damit niemand an den Rand gedrängt wird. Zugleich hängt es von politischen Entscheiden und Strukturen ab. Der Macht- und Markttendenz, welche ungezählte Menschen zu „Überzähligen“ stempelt, können nur die Menschen selber entgegenwirken, indem sie unbedingt „dazu zählen“, „dazu gehören“, “miteinander leben” und dadurch an der Gesellschaft und ihrer Veränderung teilhaben wollen. Dies setzt voraus, dass auch Pflichten angenommen und erfüllt werden, im Rahmen der je persönlichen Möglichkeiten. Das allein auf Rechte gegründete Anspruchsverhalten führt in die Passivität und letztlich in die Isolation. Da es ein unleugbares Grundbedürfnis ist, “dazu zu gehören”, muss zu dessen Erfüllung die Bereitschaft vorhanden sein oder geschaffen werden, einen Beitrag zum Zusammenleben zu leisten, und sei dieser minim, vielleicht ein Lächeln, ein freundlicher Gruss, die Bereitschaft, Zeit zu haben und zuzuhören. Muskelkraft oder effizent umsetzbares Wissen oder finanzielle Mittel stehen den meisten Menschen eh nur in einer kurzen Zeitspanne zur Verfügung – wenn überhaupt. Nicht die Art des Beitrags zählt, sondern das Bewusstsein, teilzuhaben an etwas Grösserem als er / sie selbst ist, und dabei in aller Differenz und Besonderheit einen unverwechselbaren Platzauszufüllen.

Die Frage stellt sich, ob der Preis des Fortschritts tatsächlich Leiden sein muss. Die Antwort, scheint mir, ergibt sich aus dem im Suchtverhalten angestrebten Zweck. Dieser kann nur durch die Veränderung der Bedingungen des Zusammenlebens erreicht werden. Therapien genügen für die Erfüllung der materiellen, der pychischen und der sozialen Grundbedürfnisse nicht. Es bedarf einer anderen Kultur: einer Kultur der Solidarität. Dazu gehört ein Schul- und Bildungswesen, das mit Sorgfalt der Diversität und Differenz der Kinder und Jugendlichen gerecht wird und das nicht auf Grund normierter Leistungskriterien verhängnisvolle Wettbewerbsmodelle mit der Zweiteilung von Starken und Schwachen, von Gefälligen und Schwierigen, von Reichen und Armen etc. vorwegnimmt, das nicht Differenz mit Ausschluss bestraft, sondern das dem vielfältigen Hunger nach Realitätserfahrung und nach Gruppenzugehörigkeit gerecht wird. Die Tendenz, welche die Diskriminierung der Kinder aus ärmerer Herkunft anzeigt, muss unbedingt gebremst werden. Befähigung und Stärkung der Kinder und Jugendlichen als Persönlichkeiten, als Menschen mit eigener Würde und mit eigenen Rechten, sind ein wichtiger Beitrag zur Verminderung von Frustrationen und Gewalt im Erwachsenenalter.

Damit eine Kultur der Solidarität entsteht, bedarf es der Rückbesinnung auf den Wert der menschlichen Beziehungen. Es ist verhängnisvoll, dass Beziehungen heute Warencharakter haben, dass Menschen nach einigem Verbrauch ersetzt werden wie Strümpfe. Beziehungen eingehen, pflegen und erhalten, bedarf jedoch der Zeit, resp. einer grösseren Langsamkeit im Alltagstempo. Diese grössere Langsamkeit kann erreicht werden, wenn die Vollarbeitszeit auf die Hälfte der heutigen Arbeitszeit reduziert wird, eine längst fällige Reduktion, datiert der Achtstundentag als soziale Errungenschaft doch aus den dreissiger Jahren. Die Halbierung der Vollarbeitszeit hätte nicht nur den Vorteil, die den Menschen und den Beziehungen zwischen den Menschen dringend benötigte Musse zu schaffen, sondern auch die Probleme der Arbeits- und Erwerbslosigkeit, damit der Marginalisierung, der “Entwertung” und Entmündigung durch Fürsorgeabhängigkeit von Hundertausenden von Menschen zu lösen. Bei der Verteilung und Reinvestition des gesellschaftlichen Mehrwerts müssten in massgeblicher Weise die jungen Menschen und die Frauen mitbestimmen können. Das heisst, dass die politische Mitbestimmung demokratisch, jedoch auf andere Weise als nach dem herkömmlichen Parteienverhältnis geschehen müsste, dass demokratische Entscheidungsmacht, deren Veränderung und Korrektur nicht nach Massgabe der geldstärksten Propagandafabrikation und der partikulären Machtinteressen zustandekommen dürfte, sondern gemäss dem Zusammenschluss der vielen, deren Vorstellung von Lebensqualität die gleiche Lebensqualität für die Schwächsten in der Gesellschaft miteinschliesst, der Kinder, der alten Menschen, der Fremden, der Flüchtlinge, der Invaliden und Kranken oder ganz einfach jener, die nicht fähig sind, sich für die Erfüllung ihrer Bedürfnisse zu wehren.

Vielleicht könnte so jene Kultur der Solidarität oder, mit den Worten Freuds, jene “Technik der Lebenskunst” einzeln und gemeinsam eingeübt und für gut befunden werden, auf die Freud in seinem – mehrmals zitierten – Essay hinweist, nachdem er alle Methoden der Leidverminderung als ungenügend nachgewiesen hat? Keine Utopie, meine ich, sondern ein Projekt, welches das Suchtverhalten abbauen hülfe, indem es eine Linderung der Entfremdung anstrebt, so dass diese ertragbar würde, nicht auf kompensatorische Weise, sondern im Zugeständnis der Unvollkommenheit des Zusammenlebens, aber auch im Wissen um die wohltuende, heilende Wirkung von Sorgfalt und gegenseitigem Wohlwollen im Zusammenleben.

 

 

[1] s. z.B. Michel Foucault. Von der Subversion des Wissens. Hrg und aus dem Französischen und Italienischen übersetzt von Walter Seitter, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1987.

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