Über Macht und Machtlosigkeit der Bilder und: Über die Ohnmacht des Schauens

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Über Macht und Machtlosigkeit der Bilder und: Über die Ohnmacht des Schauens

 

In der Abfolge der Nachrichten aus der ganzen Welt erscheinen zu den Hauptsendezeiten Bilder aus dem Kriegsgebiet: brennende Dörfer, zerschossene Häuser, Menschen, die in Busse gedrängt werden, vor allem Alte, Frauen und Kinder, eng zusammengedrängt in Auffang- lagern, auf Verpflegung wartend, verzweifelte Gesichter, anklagende Augen, zwischen ihnenBündel mit Habseligkeiten. Ebenso viel Sendezeit nehmen Interviews mit den feisten, zynisch lügnenden War-Lords ein oder mit den hilflosen Vertretern und Vertreterinnen der UNO oder der Grossmächte, die sich zum “Konflikt” im ehemaligen Jugoslawien äussern, als handle es sich bei dem seit fünf Jahren dauernden Völkermord um etwas Ähnliches wie einen Arbeitskampf oder einen Nachbarschaftsstreit. So geht es seit fünf Jahren. Viele von uns mögen die Bilder nicht mehr sehen, sind der Wiederholung des Schreckens überdrüssig – und schämen sich zugleich der eigenen Überdruss- und Ohnmachtsgefühle. Das nämlich bringen die Bilder zustande, auch wenn sie nur winzige Ausschnitte aus dem hundertausendfachen, masslosen Schmerz sind, den Menschen anderen Menschen zufügen: sie vergegenwärtigen ihn, sie geben dem Namen “Krieg” das Gesicht einer Frau, eines Kindes, eines Mannes, eines zerstörten Dorfes, das vielleicht dem eigenen, sorglos bewohnten, nicht unähnlich ist. Sie machen uns zu Zeuginnen. Dadurch machen sie uns mitverantwortlich. Das Gefühl der Scham, das in uns wächst, weil wir die Bilder nicht länger ertragen, hat damit zu tun. Darin besteht die Macht der Bilder: dass sie zum moralischen Stachel werden, zum Grund der Unruhe, wenn wir “Bosnien” hören.

Zugleich besteht hierin ihre Machtlosigkeit. Nichts können sie auslösen, wenn wir uns ihnen entziehen, wenn wir Überforderung ankündigen und die Tatsache des Kriegs verdrängen, wenn wir uns in Ausreden flüchten und erklären, wir hätten selbst genug Probleme, die dort unten sollten selbst schauen, wie sie die ihren lösen. Bilder können nichts bewirken, wenn wir nicht bereit sind, die behauptete Ohnmacht des Schauens aufzugeben. Wenn wir nicht bereit sind, auch mit dem “dritten Auge” zu schauen, mit dem inneren Auge, das die Verbindung zwischen Herz, Verstand und Willen bildet, das, mit anderen Worten, uns zum Urteilen, zur Anteilnahme, zum Gefühl der Verpflichtung und zum Handeln befähigt.  Das genau bezweckten die antiken Tragödiendichter, die im Theater die Schrecken des Kriegs zur Darstellung brachten, um dadurch Mitgefühl und Umkehr zu bewirken. Denn “Mitgefühl” heisst, dem Wortsinn gemäss, im Griechischen “sym-pathein”, das heisst “mitleiden”. Nur, was bedeutet dies, wozu verpflichtet uns das “Mit-Leiden”? Was können wir tun, was sollen wir tun, angesichts des unsäglichen Leidens und Unrechts, angesicht des unsäglichen menschlichen und politischen Tragödien? Ist es nicht zulässig, dem Gefühl der Ohnmacht nachzugeben?

Ich denke, dass eben dies nicht zulässig ist. Die Bilder verpflichten, auch wenn wir die Gefühle, die sie auslösen, zu verdrängen versuchen. Sie verpflichten, weil – ich wiederhole – wir durch sie zu Zeuginnen werden. Wo immer wir in der Schweiz leben, ob in einer Stadt oder in einem Dorf, überall gibt es in der Nähe Menschen, die als Flüchtlinge in unser Land gekommen sind. Dazu kommen all jene Männer und Frauen, die wir als Fremdarbeiterinnen und  -arbeiter hierher holten, zum Teil schon vor Jahren, und die nun wegen des Kriegs nicht in ihr Land zurückkehren können. Da wir über die menschlichen und politischen Zerstörungen – buchstäblich  – im Bild sind,die durch die – sogenannt- “ethnischen” Kriterien zu “Säuberungen”, Vertreibungen und Völkermord führen, müssen wir alles unterlassen, was hier in der Schweiz diese Kriterien fortsetzt oder kopiert. Welches auch der Herkunftsort der Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien sei, welche Religion sie vertreten oder welche Sprache sie sprechen, sie brauchen unsere “Sym-pathie” – eben nicht “Mitleid” im herkömmlich passiven, vielleicht sogar sentimentalen Sinn, sondern unsere tätige Freundschaft. Es darf nicht sein, dass Kinder allein aus dem Grund, weil deren Eltern Bosnier oder Serben oder Kroaten sind, auf dem Schulhausplatz von anderen Kindern geplagt werden, es darf nicht sein, dass Frauen und Männer allein aus dem Grund, weil sie aus einem der Teilgebiete des ehemaligen Jugoslawien stammen, mit Vorurteilen rechnen müssen, keine Arbeit und keine Gespräche in der Nachbarschaft finden. Der Krieg darf nicht in den Köpfen der Opfer weitergehen, weil wir in unseren Köpfen unbewusst oder unachtsam die verbrecherischen “ethnischen” Kriterien der War-Lords übernehmen und wiederholen. Das ist eine Verpflichtung, die aus der Tatsache erwächst, dass wir über die wahren Zusammenhänge des Kriegs “ins Bild gesetzt” wurden, dass wir uns dem Wissen und damit der Mitverantwortung nicht entziehen können.

Eine andere Form der Verpflichtung besteht darin, mit unserem Namen, mit unserer Stimme oder mit unserer Präsenz jeden öffentlichen Appell an den Bundesrat oder jede Anti-Kriegsdemonstration zu unterstützen und zu verstärken. Jede Stimme macht den Chor der Stimmen stärker, die sich gegen den Krieg und gegen die Verbrechen des Kriegs zusammenschliessen. Wir sind nicht ohnmächtig, wenn wir viele sind. Wenn wir uns vereinen, um unentwegt den Frieden und die politische Selbstbesimmung der Opfer zu fordern, sind auch wir eine Macht. Erinnern wir uns, dass der Vietnamkrieg nicht zuletzt beendet wurde, weil weltweit die Menschen wöchentlich, manchmal täglich zu Hundertausenden auf die Strasse gingen, um gegen die Krieg und für den Frieden zu demonstrieren. Der Krieg ist unerträglich, sowohl in seiner zynischen Unmenschlichkeit wie in der politisch folgenschweren Tatsache, dass durch dessen – stillschweigend akzeptierten Resultate – die Grenzen von Ländern nach ethnischen Kriterien definiert und festgelegt werden. Das dahinterliegende Prinzip, falls es weiter- hin stillschweigend geduldet wird, kann zu unabsehbaren weiteren Kriegen mit “ethnischen Säuberungen”  führen – eine verhängnisvolle Fortsetzung des ursprünglich nationalsozialistisch geprägten Programms der “Rassereinheit”. Es ist ein schreckliches Erbe, das in unserer Zeit weitergedeiht, obwohl es todbringend ist.

Die Bilder, die über den Bildschirm in unsere Wohnzimmer dringen, kamen oft unter Lebensgefahr zustande. Mehrere der Kriegsberichterstatter und -erstatterinnen, der Kameraleute, der Photographen und Photographinnen, wurden im Krieg verletzt oder getötet. Nicht zuletzt sind die Bilder auch eine Verpflichtung durch die Opfer derjenigen, die für sie ihr Leben wagen oder wagten.

 

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