Ist Befreiung von Armut eine Utopie? – Grundbedürfnisse, Grundrechte und Interessen der Armen von heute

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Ist Befreiung von Armut eine Utopie?

Grundbedürfnisse, Grundrechte und Interessen  der Armen von heute

 

 

Verehrte Anwesende

Ich werde über die Armut nicht als Sozialwissenschafterin sprechen, sondern als Philosophin und Therapeutin. Ich werde die Perspektive der in Armut lebenden Menschen selbst zu Wort kommen lässt, insbesondere die Perspektive der in Armut lebenden Frauen in  Ländern, in denen Wohlstand die Regel ist. Die UNO hat das Jahr 1996 zum Internationalen Jahr der Armut  erklärt. Was soll dadurch bewirkt werden? Eine Verringerung der Armut? Eventuell gar eine Überwindung der Armut? Kann dies erhofft werden? Ist dies nicht eine Utopie, ein Traum, für den es keinen Ort (u-topos) der Verwirklichung gibt? Meine These ist, dass Armut eine – buchstäblich unerträgliche – Menschenrechtsverletzung ist, da sie die Freiheit der in Armut lebenden Menschen, resp. die Optionen des Handelns, insbesondere die Möglichkeiten der politischen und kulturellen Partizipation auf diskriminierende Weise einschränkt.

Dass Armut nicht naturgegeben oder gottgewollt ist, mag abgedroschen klingen. Dass Armut keine unvermeidbare gesellschaftliche Notwendigkeit ist, wrkt nach wie vor als Provokation. Armut wurde und wird von der Welt geschaffen, von jedem Land und von jeder Gesellschaft. Ökonomisch gesprochen ist sie das Resultat eines bestimmten Verteilungs- und Investitionsschlüssels des gesellschaftlichen Mehrwerts. Moralisch gesprochen ist sie die Schuld jenes Teils der Welt, der im Überfluss lebt, der diesen Überfluss vergeudet und verschwendet, ob für private oder für militärische und andere nicht-gemeinwohlfördernde öffentliche Zwecke, die Schuld jenes Teils der Welt, der eifersüchtig und schlau sein Eigentum verteidigt und die Augen verschliesst vor jenem anderen Teil der Welt, vor jenen Menschen, “die im Dunkeln leben”, wie Bertold Brecht schrieb, welche die Chancen der Freiheit nur in der Theorie haben, tatsächlich aber weder die Möglichkeit zu lernen und sich Wissen anzueignen noch so zu arbeiten, dass sie sich und die Ihren ohne Not ernähren können, die keinen Ort haben, wo sie sich wirklich erholen können, keinen Ort, wo es schön ist, die auch keine Aussicht auf echte Erleichterung und nachhaltige Veränderung ihrer Situation oder jener ihrer Kinder haben. Sie sehen, ich werde nicht von jener Armut sprechen, die als Erfahrung eines geringeren Einkommens und einer Verknappung der Mittel über kürzere oder längere Zeit, aber als befristete Erfahrung viele Menschen kennen. Ich werde von jener Armut sprechen, die in Frankreich als “grande pauvreté”, als “grosse Armut” bezeichnet wird und von den Menschen selbst wie eine ungerechte lebenslängliche Verurteilung empfunden wird.

Gleich zu Beginn will ich Ihnen sagen: Ich hoffe, dass eine Veränderung – eine nachhaltige Veränderung – tatsächlich erfolgt, dass in diesem Jahr eine breite Bewegung entsteht, welche das unzumutbare Unglück, die Unerträglichkeit der Armut aufdeckt und zu deren Bekämpfung aufruft – eine Bewegung, wie in den siebziger Jahren Black Power in den USA zur Bekämpfung der Rassendiskriminierung, oder wie Greenpeace zur Bekämpfung der Zerstörung der Weltressourcen. Armut bedeutet die Zerstörung der Hoffnungsressourcen einer ganzen Menschheit. Ich erhoffe daher

(1) ein verstärktes Bewusstsein bei immer mehr Menschen, ja eine wachsende Beunruhigung, dass Armut weltweit der am meisten verdrängte und zugleich der grösste und ständig sich noch vergrössernde  Menschenrechtsskandal ist, eine Verletzung der körperlichen und seelischen Integrität von insgesamt Milliarden von Menschen. Und ich erhoffe

(2) eine Aktivierung des gemeinsamen Kampfs der Armen sowie der Nicht-Armen und Weniger-Armen für eine Beseitigung der Ursachen und der Folgen der Armut.

Hoffnungen, im Gegensatz zu Träumen, sind Zielsetzungen. Diese Zielsetzungen will ich nun begründen. Ich werde in einem ersten Teil erklären, warum ich von der Unerträglichkeit der Armut spreche, warum Armut, analog der Folter, eine Verletzung fundamentaler Menschenrechte ist. In einem zweiten Teil werde ich Möglichkeiten des Kampfs gegen Armut aufzeigen. In einem dritten Teil werde ich im besonderen auf die Situation der in Armut lebenden Frauen eingehen.

 

(1) Armut – ein Menschenrechtsskandal

Ich will mit ein paar eigenen Beobachtungen und Erfahrungen beginnen: Als ich selber noch Kind war, waren Menschen in Not das tägliche Umfeld. Es waren einerseits Flüchtlinge

Als ich siebzehn Jahre alt, damals in der sechsten Klasse des Gymnasiums, meldete ich mich während der Sommerferien für einen Pro Juventute-Einsatz. Ich wurde in den Solothurner Jura in ein kleines Dorf geschickt, in eine Familie mit neun Kindern und einem blinden, pflegebedürftigen Grossvater, deren Armut ich während fünf Wochen teilte, wobei ich versuchte, die übermüdete, überanstrengte Hausfrau zu entlasten. Ich bewunderte sie: Sie klagte nie, sie hatte ihre Kinder und ihren Mann lieb, sie versuchte, trotz der Enge und Morschheit des Häuschens, wo sie lebten, trotz der ständigen Geldnot, trotz der Winterhilfe-Kleider, die verbraucht waren, bevor die Kinder sie trugen, trotz der kargen und stets gleichen Ernährung, trotz aller Mängel eine herzliche Stimmung zu schaffen. Immer versuchte sie, ihren Stolz zu wahren und etwas davon ihren Kindern mitzugeben.

Als ich erwachsen war, lernte ich die Armut in den Aussenbezirken und in den Schächten der Untergrundbahnen der grossen Städte kennen, in Barcelona zum Beispiel die Armut der arbeitslosen Landarbeiter, die mit ihren Familien aus Andalusien zugezogen waren, als Illegale am Rand der Stadt lebten und gar keine Chance hatten, irgend eine Arbeit zu finden, da sie weder lesen noch schreiben konnten. Oder in den nördlichen Banlieues von Paris die Armut der illegalen Immigranten und Immigrantinnen aus Ländern des Maghreb und des Ostens Europas. Aber auch in der Schweiz konnte ich ihr nicht ausweichen. Ende der achtziger Jahre begann das Schweizerische ArbeiterInnenhilfswerk SAH, Lese- und Schreibkurse für Erwachsenen zu organisieren Überall wurden sie angeboten, in den Städte und auf dem Land. In kurzer Zeit waren alle Kurse ausgebucht, die Nachfrage war enorm.  Ich war damals als Journalistin verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit beim SAH  und machte zahlreiche Interviews mit Frauen und Männern, die sich für diese Kurse angemeldet hatten, funktionale Analphabetinnen und Analphabeten, die von Kindheit an nur auf der Schattenseite der Gesellschaft gestanden hatten, Frauen und Männer meiner Generation, aus diesem Land, deren Biographien nicht anders lauteten als jene, die wir aus Fürsorgechroniken aus dem letzten Jahrhundert kennen, auch kaum anders als jene von Taglöhnerinnen und Taglöhnern aus Brasilien oder aus einem der vielen Armutsländer der Welt.

Ich will kurz schildern, was ich aus diesen Lebensgeschichten erfuhr: Da waren zumeist schon sehr beengte bis trostlose elterliche Verhältnisse, Überarbeitung von Vater oder Mutter oder Arbeitslosigkeit, Krankheit, manchmal Alkoholismus, Hilfsarbeit schon im Kindesalter von den frühen Morgenstunden bis in die Nacht hinein, Botengänge, Mitarbeit im Stall oder auf dem Hof, frühe Verantwortung für Geschwister oder fremde Kinder, eine enge Küche, in der die Schularbeiten beim besten Willen nicht gut gemacht werden konnten, Unpünktlichkeit und Unregelmässigkeit des Schulbesuchs, Rückstände, Rügen und Schläge durch den Lehrer, Gespött der übrigen Kinder, Kleider von der Winterhilfe, die zu gross oder zu klein waren, nie neue gute Schuhe, eine ständige Erfahrung der Minderwertigkeit, Abkapselung, Scham, hilflose Wut, häufig Fremdplazierungen, selten zum Guten des Kindes, manchmal schlimmste Ausnützung, selbst sexuelle Ausnützung. Eine Frau, zum Beispiel, lernte ich kennen, die  als Verdingkind mit zwölf – dreizehn Jahren  täglich während des Kirchenbesuchs der Bäuerin durch den Bauern missbraucht wurde, und da war keine Möglichkeit, über Gewalt und Not zu reden, da der Bauer es eingerichtet hatte, dass sein eigener Bruder zum Vormund des Mädchens ernannt wurde, da gab es keine Möglichkeit, Freundschaften zu pflegen, einen Beruf zu erlernen, dagegen wurde sie, wie viele, weitergereicht von einer Hilfsarbeit zur anderen, wurde in fremden Haushalten plaziert, wie viele, die als Mägde bei Bauern, als Hilfsarbeiterinnen in kleinen Fabrikationsbetrieben, als Hilfskräfte im Gastgewerbe, in Wäschereien für einen kleinen Lohn arbeiteten, so wie die Männer als Handlanger auf dem Bau und als Knechte in der Landwirtschaft, dann kam es zumeist zur frühen Heirat im gleichen Milieu, zu frühen und zahlreichem Schwangerschaften, und unversehens ging die bedrängte Jugend über in eine Ehe, die sich kaum von jener der Eltern unterschied, und das Unglück nagte an ihnen, den eigenen Kindern, die sie nun in die Welt stellten, nicht ein besseres Leben bieten zu können, als sie es selbst erfahren hatten. Krankheiten stellten sich ein, Betreibungen und Pfändungen, immer wieder erfolglose Stellensuche, Fürsorgeabhängigkeit, Wut, Kraftlosigkeit, Demütigung um Demütigung. Kein bisschen Schönheit, keine Freude. Dann plötzlich, von irgend jemandem aufgeschnappt, bot sich diese Möglichkeit, noch lesen und schreiben zu lernen, und plötzlich keimte die Hoffnung auf, vielleicht doch noch aus dem immer gleichen Kreis heraustreten zu können, vielleicht doch noch eine Chance zu haben, eine Stelle, eine bessere Stelle finden zu können, sich wehren zu können, geachtet zu sein.

Das hat mich bei all diesen Menschen, die in Armut leben und deren Leben ich kennenlernte, am meisten berührt: der Mangel an Achtung, der Mangel an Anerkennung, der Mangel an Glück, vor allem aber das Leiden über diesen Mangel. Für viele empfand ich grosse Bewunderung. Sie verloren ihre Würde nicht, im Gegenteil, sie schufen sich eine eigene Würde, so wie jene Familie im Solothurner Jura, die ich als Schülerin kennenelernt hatte. Andere aber erschienen mir als gebrochen. Woher sollten sie die Kraft nehmen, ihrem Leben eine positive Wende zu geben? Ihre Auflehnung mündete häufig in Wut, wodurch sie nicht selten in Situationen gerieten, in denen sie straffällig wurden – ein Ausdruck ihrer Hilflosigkeit und eigenen Verletztheit.

Wenn ich sage, Armut sei ein Menschenrechtsskandal, so begründe ich dies mit der Nichterfüllung der Grundbedürfnisse. Menschenrechte, Grundrechte haben ihre Allgemeingültigkeit in der Tatsache der gleichen existentiellen Bedürftigkeit aller Menschen. Diese Bedürftigkeit ist dergestalt, dass sie nur durch die Aufmerksamkeit der anderen Menschen und durch ihre Bereitschaft, sie zu stillen, das heisst durch ihr Handeln, ertragen werden kann, ob es sich um den physischen Hunger handle oder um den geistigen, um das Bedürfnis nach Erhaltung und Förderung des körperlichen Leben oder um das Bedürfnis nach Erkenntnis, nach Bildung, nach Liebe, nach Respekt, nach Partizipation an den Entscheiden, deren Folgen viele betreffen, ein ganzes Dorf oder eine ganze Stadt, nach Partizipation an der politischen und sozialen Verantwortung, ob es sich um das Bedürfnis nach Schönheit, nach Erholung und nach sinnhafter Arbeit handle. Niemand kann diese Bedürfnisse allein stillen, jedes Kind, jede Frau und jeder Mann ist dafür auf andere Menschen angewiesen. Nun ist es so, dass, indem ich die Grundbedürfnisse der anderen anerkenne und zu deren Stillung beitrage, ich mir das Recht erwerbe, dass meine eigenen Bedürfnisse anerkannt und gestillt werden. Da dies für alle Menschen so gilt, da bei allen die gegenseitige und wechselseitige Anerkennung der je gleichen Bedürftigkeit vorausgesetzt ist, wird der Anspruch auf Erfüllung der Gundbedürfnisse zum Menschenrecht. Von “universellen” Menschenrechten kann nur die Rede sein, wenn tatsächlich niemand davon ausgeschlossen ist: wenn der Gesellschaftsvertrag, den jede staatliche Verfassung darstellt, die Erfüllung der Grundbedürfnisse garantiert. Nun ist es jedoch so, dass dieser Anspruch noch in keiner Verfassung garantiert ist, sodass die universelle Menschenrechtserklärung Rethorik bleibt. Und der praktische Anspruch scheint nur für Menschen zu gelten, die “im Licht” stehen, die über Mittel, über Geld und Publizität verfügen, damit sie ihre Rechte geltend machen können. Der gleiche Anspruch geht bei den Armen ins Leere. Sie verfügen weder über Publizität noch über andere Druckmittel. Es ist, als seien ihre Stimmen tonlos, obwohl sie einen riesigen Chor darstellen. Sie erfahren Verachtung statt Achtung, abgewendete Blicke statt Aufmerksamkeit, höchstens Fürsorge statt Partizipation. Selbst die Fürsorgeleistungen werden unter neoliberalen Bedingungen zunehmend reduziert.

Gewiss, an einigen Orten setzt sich trotz reduzierter Etats allmählich ein Umdenken durch. In Zürich und andernorts, zum Beispiel, wurden und werden durch das Fürsorgeamt seit einigen Jahren für Frauen und Männer, die in Armut leben, zunehmend Befähigungsprogramme geschaffen, Umlern- und Weiterlernangebote, die aus den Engpässen von Arbeitslosigkeit, Fürsorgeabhängigkeit und Selbstwertverlust herausführen sollen, die Kenntnisse und Selbstvertrauen vermitteln sollen. Arme sollen nicht weiter Almosenempfängerinnen und Almosenempfänger sein, sondern, indem ihnen Hilfe und Anleitung zur Selbsthilfe geboten wird, sollen sie sich selbst die  Möglichkeit schaffen, die einseitige Abhängigkeit zu verändern. Doch es braucht dazu nicht nur diese Programme, es braucht bei den Armen Mut, vor allem aber braucht es Ermutigung durch die Gesellschaft. Diese aber fehlt zumeist. So ist es häufig der Mut der Verzweiflung, der hinter dem Entschluss steht, sich für Kurse und Weiterbildungsprogramme zu melden, da die heutige Arbeitsmarktsituation Menschen, die keine Erfolgszeugnisse vorzeigen können, deren Curriculum nicht Effizienz verspricht, sondern von Misserfolgen gezeichnet ist, schon kaum mehr eine Einstiegschance gewährt. Ist es da verwunderlich, dass viele, die sich ein Herz genommen haben, ihre Situation zu verändern, nach kurzer Zeit resignieren? Ich kenne zum Beispiel eine knapp vierzigjährige Frau, die in armen ländlichen Verhältnissen aufgewachsen war, als Sechzehnjähre in einem Gasthaus zu arbeiten begann, schwanger wurde und eine Tochter zur Welt brachte. Diese wurde schon bald nach der Geburt in einem Kinderheim untergebracht, wo sie aufwuchs, während die Mutter zunehmend alkoholabhängig wurde, häufig die Stelle wechselte und immer weniger belastbar war. Vor drei Jahen hat sie sich entschlossen, einen Maschinenschreibkurs zu absolvieren, “vor allem wegen der Tochter”, sagte sie mir, die nun achtzehn Jahre alt wird. Doch der Kurs verhalf ihr nicht zur erhofften Lebensveränderung, da heute auch für einfache Büroarbeiten nicht Maschinenschreiben, sondern Computerkenntnisse erfordert sind. Sie fand schliesslich eine Wohnmöglichkeit und eine Arbeit in einem Heim für Männer, die zwischen die Maschen der Gesellschaft gefallen sind. Sie hat dort einen “Unterschlupf” gefunden, wie sie mir sagte, aber ihren Entschluss, in diesem Heim zu arbeiten, hat sie aus Resignation getroffen. Sie hat den Weg “in der Welt”, in der Stadt, nicht geschafft.

Armut – ein Menschenrechtsskandal. Es sind weltweit Millionen von Menschen, es ist zumindest die Hälfte der Menschheit, die Opfer der Kälte, der Härte und Indifferenz der anderen Hälfte sind, allein in der Schweiz, nach offiziellen Statistiken, an die 500’000, die unter dem sogenannten “Existenzminimum” leben, die ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllen können. Die Zahlen wachsen schnell an: 1994 waren es gesamtschweizerisch insgesamt 245’000 Menschen, die Sozialhilfe brauchten, doppelt so viele wie 1990. Innerhalb von zwei Jahren, von 1994 bis heute, hat sich die Zahl wieder verdoppelt. Um zu wissen, was diese Zahlen bedeuten, müssen wir unsere Vorstellungskraft anstrengen, müssen wir uns 500’000mal je ein einzelnes Leben vorstellen, ein Leben der ständigen Erniedrigung, des ständigen Leidens. Es ist tatsächlich der Folter vergleichbar. Die aufwühlendste Tatsache ist, dass, wer arm ist, keine Freiheit wahrnehmen kann. Wer arm ist, lebt allein unter dem Gesetz zwingender Notwendigkeiten, zwingender “Notdurft”, wie die Philosophin Hannah Arendt die blosse Subsistenzerhaltung nennt. Ein Leben ohne Freiheit ist ein Leben der Unterdrückung. Was aber sind die Folgen eines Lebens in Unterdrückung, in Unfreiheit und in ständigem Leiden? Es sind Hoffnungslosigkeit und Bitterkeit, es sind tiefe Depressionen, das heisst ein allmähliches Absterben der Lebenskräfte – oder es ist Auflehnung, eventuell sogar aggressive Auflehnung, Auflehnung, die in Gewalt übergeht, wie sie immer wieder in grossen Städten, in New York, in Paris, Marseille, London und anderswo aufflammt, wie sie jedoch immer durch die viel mächtigere Gegengewalt des Staates, durch Polizeigewalt, durch Waffengewalt erstickt wird, ohne dass deren Ursachen verändert würden. Darum aber muss es in diesem Jahr gehen: um die Veränderung der Ursachen der Armut. Die Folgen der Armut werden sich dann von selbst verändern. Wenn, wenn… Solange mit “wenn” argumentiert wird, geschieht nichts. Daher haben überall in der Welt die Armen begonnen, sich zu wehren, statt länger stumm zu dulden. Sie haben begonnen, für die Erfüllung ihrer Grundbedürfisse und ihrer Rechte zu kämpfen.statt auf eine Veränderung zu warten, die doch nie erfolgt,

 

(2) Die vierte Welt sagt der ersten den Kampf an

Der Impuls ist nicht neu. Schon vor rund 160 Jahren schrieb der französische Frühsozialist Auguste Blanqui: “Sehen Sie, das ist der Krieg der Armen gegen die Reichen. Allen Besitzenden muss daran liegen, den Ansturm abzuwehren. Dies ist der Krieg zwischen den Reichen und den Armen. Die Reichen haben es so gewollt, denn sie sind die Angreifer. Schlecht finden sie nur, dass sich die Armen zur Wehr setzen.” Der Aufstand, von dem ich Ihnen spreche, ist allerdings kein Krieg, es ist eine Bewegung mit demokratischem Charakter, eine starke Bewegung des Widerstandes gegen Unrecht: eine Menschenrechtsbewegung. Aus dieser Bewegung heraus haben sich Organisationen gebildet, von denen ich zwei kurz vorstellen will: “ATD Vierte Welt” und “Kairos Europa”.

Vor gut dreissig Jahren, 1965, wurde der schweizerische Verein ATD Vierte Welt gegründet, im Anschluss an die Vereinigung der Obdachosen in einer Banlieue von Paris, in Noisy-le-Grand, die 1956 erfolgt war. Den Anstoss zur Gründung hatte ein katholischer Geistlicher gegeben, der selbst in Frankreich in grosser Armut aufgewachsen war, Josèphe Wresinski (1917 – 1988), der Sohn eines polnischen Immigranten mit deutschem Pass (aus dem ehemals deutschen Poznan), der im damaligen Frankreich als “Deutscher” suspekt war und, obwohl er ein Diplom als Maschineningenieur hatte,  keine Arbeit finden konnte, und einer spanischen Lehrerin, die in Frankreich nur als Putzfrau Arbeit fand. Josèphe Wresinski hatte erstmals “grosse Armut” als Menschenrechtsverletzung deklariert und zu einer weltweiten Bewegung der Armen zur Überwindung der Armut aufgerufen – zu einer Basisbewegung, die mich mit Trauer an die frühsozialistischen Bewegungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts erinnert, die doch dasselbe Ziel anstrebten. Haben zwei Jahrhunderte nichts vermocht? muss ich mich fragen.  Sind die Ideale von 1789 – Freiheit, Gerechtgkeit (resp. Geichheit), Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit – nach wie vor Privilegien einzelner Klassen statt allgemeine Rechte?

Die Armen aus Noisy-le-Grand hatten ihrem Zusammenschluss erstmals den Namen gegeben, der in der Folge in verschiedenen anderen Ländern überall in der Welt aufgegriffen wurde: “Aide à toute détresse – Quatrième monde”.  Ich stiess darauf erstmals 1985, als ein Buch von Hélène Beyeler-von Burg erschien “Schweizer ohne Namen. Die Heimatlosen von heute” (Verlag Science et Service, Pierrelaye, France), ein aufwühlendes Buch, das aus der Arbeit von ATD heraus entstanden war.  Mit dem Namen, den die Armen ihrer Organisation gaben, verbanden und verbinden sie ein ganzes Programm: Sie waren gewillt, die Hierarchie der Welten deutlich zu machen, indem sie sich nach der Ersten, Zweiten und Dritten Welt als Vierte Welt konstituierten, als “unterste” Welt, gewissermassen als eigenen Kontinent, der zugleich Teil aller anderen Kontinente und Welten ist. Mit der Unterstützung von Freiwilligen (Volontairen und Volontairinnen) aus anderen gesellschaftlichen Schichten versuchten sie nach und nach, die eigenen Lebensverhältnisse zu verändern. Doch zugleich gaben sie sich eine öffentlich hörbare Stimme. Am 17. Oktober 1987 enthüllten sie auf dem Trocadéro in Paris, auf diesem zentralen Platz, eine Mahntafel, die den Armutsopfern gewidmet ist und auf der die Überwindung der Armut als Menschenrechtsverletzung  gefordert wird. Fortan wurde der 17. Oktober zum Tag der Überwindung der Armut. Ende der achtziger Jahre versammelten sich dann Delegationen von ATD aus allen Ländern in Strasbourg, beim Europarat,  berieten, wie sie ihren Anspruch auf Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse und ihrer Rechte formulieren und beim Europarat vorbringen wollten. Es ist ATD sogar gelungen, beim Sitz der UNO in Genf und New York einen Beobachterstatus zu erlangen, bei verschiedenen UNO-Organisationen, so beim UNICEF oder beim UNHCR Einfluss zu nehmen und zu erreichen, dass das Jahr 1996 zum Jahr der Armut erklärt wurde: zum Jahr der Verringerung, ja der Überwindung der Armut. In der Schweiz hat ATD Vierte Welt ein Zentrum in Treyvaux im Kanton Fribourg. Vieles, was sonst utopisch erscheint, realisiert sich dort: Familienferien für Menschen, die in grosser Armut leben, dieAusbildung von Freiwilligen, Weiterbildung im Rahmen einer “4.Welt-Universität” und mehr.

Die zweite Bewegung, die ich vorstellen möchte, nennt sich “Kairos Europa” resp. “Kairos Europa-Schweiz”. “Kairos” bedeutet “Zeitpunkt” oder “der richtige Moment”. Die Bewegung wurde 1989 im Anschluss an die Ökumenische Versammung in Basel gegründet, und zu den Initianten und Initiantinnen gehörten Frauen und Männer, die es ernst meinten mit der Gerechtigkeit, u.a. von der Theologischen Bewegung für Solidarität und Befreiung, vom Friedensdorf Flüeli-Ranft, vom Ökumenischen Friedensnetz Basel, vom Romero-Haus in Luzern und weitere mehr. Die schweizerische Kairos-Europa Gruppe gehört zu einem lockeren Netz von heute rund 500 Gruppen, die seit dem September 1993 in Bruxelles ein europäisches Sekretariat haben. 1992 war ein Kristallisationsjahr gewesen, einerseits weil es das 500. Erinnerungsjahr an die “Entdeckung” resp. die Kolonisierung der sog. Neuen Welt war, die in Folge dieser Geschichte zur Dritten Welt wurde. Andererseits nahm 1992 in Westeuropa der EG (resp. EU)-Binnenmarkt seinen Anfang. “Kairos Europa” machte es sich zur Aufgabe, den Blickpunkt der Benachteiligten dieser Markt- und Machtkonzentration zu übernehmen und zu formulieren, gemeinsam mit diesen selbst. Die Sozialcharta der Europäischen Union, zum Beispiel, wird mit den Augen und Interessen der Arbeitslosen und sozial Ausgegrenzten, mit den Augen der auf diesem Markt diskriminierten Frauen untersucht, das Schengener Abkommen mit den Augen von Asylsuchenden und Flüchtlingen, die Abkommen zur europäischen Agrarpolitik mit den Augen der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern usw. An Pfingsten 1992 wurde daher in Strasbourg ein “Parlament von unten” gebildet, an dem rund 800 Frauen und Männer aus 52 Ländern teilnahmen, Langzeitarbeitslose, Obdachlose, Migrantinnen und Migranten, Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeiter, Asylsuchende, Kleinbauern und -bäuerinnen und weitere in grosser Armut lebende Menschen. Sie bildeten fünf Arbeitsgruppen, die je ein – nicht gestilltes – Grundbedürfnis ausleuchteten: Nahrung, Wohnung, Arbeit, freie Wahl des Wohnortes und kulturelle Identität. Die Arbeit dieser Arbeitsgruppen war, wie die Theologin und Journalistin Christine Voss, die am Treffen teilgenommen hatte, einmal festhielt, die “Aufarbeitung von Leidensgeschichten”. Unmittelbar nachher, ebenfalls im Juni 1992, trafen sich in Luzern wiederum die rund 300 Mitglieder von Kairos-Europa Schweiz, um eine Standortbestimmung vorzunehmen und Aktionen gegen die soziale Ausgrenzung zu erörtern. Diese sollten vor allem an der Basis organisiert werden, in den religiösen Gemeinden und Pfarreien. Wichtige Bewusstseinsarbeit sollte damit verbunden werden, etwa hinsichtlich der Vorurteile, die armen Menschen entgegengebracht werden, hinsichtlich der Zusammenhänge von Ausgrenzung, hinsichtlich des Verhaltens der Nicht-Armen den Armen gegenüber und mehr.  Skeptisch bin ich allerdings dem von Kairos-Europa-Schweiz in den Vordergrund gerückten “Versöhnungs”-Programm. Damit kann ich mich nicht befreunden, erscheint es mir doch als kaum wahrscheinlich, dass die in Armut Lebenden in erster Linie an “Versöhnung” denken.  In erster Linie, denke ich, verlangen sie nach Gleichberechtigung und Partizipation in jeder Hinsicht, in sozialer und wirtschaftlicher ebenso wie in kultureller.

Die beiden Bewegungen haben zwar religiöse Gründungsimpulse gehabt, sind jedoch in ihrer Ausrichtung sekuläre Bewegungen. Es ist den Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften gewiss nicht abzusprechen, dass sie sich für eine Veränderung der Gründe und Folgen der Armut einsetzen, im Gegenteil. Es gibt an vielen Orten diesbezüglich ein erfreuliches, längst nötiges Umdenken, hatten doch gerade die Kirchen während allzu langer Zeit den Armen die falschen Tugenden gepredigt (etwa Demut in der Annahme von “Gottes Willen”). Ungerechtgkeit, Demütigung, wirtschaftliche und kulturelle Not können nicht “Gottes Wille” sein. Auch dienten die “mitleidvollen Gaben”, wie sie zum Habitus der Kirchen und der Gläubigen gehörten, ja kaum dazu, die Armut zu verändern, sondern eher, die Armen in ihrer Armut, in ihrem “Stand” zu fixieren, resp. die ständische Hierarchie, zu der eben auch die Armut gehörte, aufrechtzuerhalten, gleichzeitig dienten sie der Gewissensberuhigung der mitleidvoll Gebenden. Aber die Armen wollen kein Mitleid, sondern ein Ende der Ausgrenzung. Ich sage es nochmals: Sie wollen Gerechtigkeit und volle gesellschaftlliche und politische Partizipation.

Es genügt jedoch nicht, dass die Bekämpfung der Armut Sache der Religionen ist. Es genügt schon lange nicht, es genügt heute, wo Erfindergeist und Technologie es ermöglichen, die meisten Probleme zu lösen, erst recht nicht mehr. Die Verringerung und Überwindung der Armut muss ein vorrängiges politisches Ziel sein, nicht nur einer linken Politik, sondern der Politik überhaupt. Eine Gesellschaft ist nur so stark wie ihre schwächsten Glieder es sind. Die Erfahrung und politischen Folgen der grossen allgemeinen Armut und Verelendung in den drreissiger Jahren infolge der enormen Inflation und Arbeitslosigkeit müsste genügen, damit nicht länger gezögert wird. Es braucht

(a) dringend neue Arbeitszeitmodelle, damit Arbeit nicht zum seltenen  Privileg von wenigen wird, damit nicht länger eine zunehmende Zahl von Menschen ihre Existenz als wertlos erleben,

(b) neue Partizipationsmodelle dank einer Verstärkung der Bildungs- und Weiterbildungsangebote,

(c) neue Verteilungsmodelle des kollektiven Mehrwerts und

(d) eine Verfassungsgarantie für die Erfüllung der Grundbedürfnisse.

Wir haben genug Fachleute, die in der Lage sind, praktische Umsetzungsmöglichkeiten dieser Modelle zu erarbeiten. Was wir jedoch vorgängig schaffen resp. stärken müssen, ist die Einsicht in die politische Dringlichkeit dieser Aufgabe, sodann den politischen Willen, aus der Einsicht die politischen und sozialen Konsequenzen zu ziehen. Das bedeutet im Klartext, dass diejenigen, die nicht in Armut leben, bereit sein müssen, den Gürtel enger zu schnallen, damit diejenigen, die in Armut leben, weniger eingeengt leben können. Alle diese politischen Forderungen haben jedoch nur eine Chance, verwirklicht zu werden, wenn das Menschenbild enthierarchisiert wird, d.h. wenn die Verschiedenheit der Menschen nicht länger als Wertverschiedenheit gilt, sondern als Varietät des gleichen Menschseins, der gleichen “Menschheit” in jedem einzelnen Menschen, wie Immanuel Kant in der “Kritik der praktischen Vernunft” schreibt.

 

(3) Die Armut der Frauen

Ich musste – wollte – zuerst die Unerträglichkeit der Armut überhaupt schildern, bevor ich abschliessend auf die besondere Armut von Frauen eingehe. Sie ist auf anschauliche Weise eine Folge des hierarchisierten Menschenbilds, das dem konventionellen Geschlechterverhältnis in allen Schichten der Gesellschaft zugrundeliegt, dem entsprechend den Frauen ein noch geringerer Wert, ein noch geringeres Recht auf Freiheit zugesprochen wurde – und zum Teil noch immer wird – als selbst den sozial am wenigsten geachteten Männern. “Jeder Proletarier hat noch eine Frau, die ärmer ist als er und die er unterdrücken kann”, schrieb Flora Tristan, die 1844 in Bordeaux gestorbene Frühsozialistin und Frühfeministin.

Eine besondere Armut? Es sind gemäss allen Statistiken und Armutsstudien tatsächlich mehr Frauen als Männer, die unter dem Existenzminimum leben, zugleich aber verwendet der Grossteil der in Armut lebenden Frauen ihre Energie vor allem darauf, die Armut zu verbergen. Im Strassenbild in den grösseren Städten der Schweiz treten sie kaum in Erscheinung, in den Obdachlosenunterkünften sind sie seltener als die Männer, und falls sie dort unterkommen, wirken sie häufig eher wie Pensionärinnen. Auch mit den spärlichsten Mitteln gelingt es vielen,  die sichtbare Verelendung, ja Verwahrlosung aufzuhalten, nicht nur die äussere, die mit der Erscheinung zu tun hat, sondern auch die innere, die mit der sozialen Kompetenz korreliert ist. Da bei Dreivierteln der Scheidungen die Kinder bei der Mutter bleiben, jedoch bei einem ebenso grossen Prozentsatz Frauen und Kinder nach der Scheidung ärmer sind als vor der Scheidung und ärmer als die Männer nach der Scheidung, bedeutet für viele Frauen Scheidung zugleich Armut. Bis zur jüngsten Revision der AHV hatte eine Scheidung vor allem katastrophale Folgen im Alter, vor allem für Frauen ohne eigenes Einkommen. Seit kurzem werden nun Haus- und Erziehungsarbeit als rentenberechtigt gewertet – ein grosser Fortschritt, der nicht gefährdet werden darf. Doch nicht erst im Alter, zumeist schon im aktiven Leben beeutet Scheidung für viele Frauen, dass sie von diesem Augenblick an auf Sozialhilfe angewiesen sind, auf staatliche Alimentenbevorschussung, auf stundenweise, schlecht bezahlte Arbeit, falls sie überhaupt Arbeit finden. Noch immer ist es in der Schweiz so, dass die Arbeit von Frauen bis zu einem Drittel schlechter bezahlt wird als die Arbeit von Männern – gleichwertige Arbeit -, um welche Arbeit es sich auch handle, um sogenannt “unqualfizierte” oder um “qualifizierte” Arbeit, um Fabrikarbeit oder um intellektuelle Arbeit. Aber Arbeitszeit ist Lebenszeit, d.h. die Geringerwertung der Arbeitszeit von Frauen bedeutet zugleich die Geringerwertung der Lebenszeit von Frauen. Es ist ein offener Skandal, der jedoch von einem Teil der Arbeitgeberseite kaltblütig fortgesetzt wird. Und da die Löhne der Frauen tiefer sind, da sie infolge von Familienrücksichten und aus anderen Gründen häufiger die Stelle wechseln müssen, sind sie auch bei den Arbeitslosenentschädigungen  benachteiligt, da diese ja nach Lohnprozenten und Dauer der Anstellung ausgerechnet werden. Dazu kommt, dasss in der Schweiz wichtige soziale Absicherungen, wie die Mutterschaftsversicherung, noch immer ausstehen und von bürgerlicher Seite auch weiterhin torpediert werden. Laut der Auskunft von Gerda Haber, der Leiterin der Fachstelle für Schuldenfragen im Kanton Zürich, führt auch die Tatsache der häufgien Konsumkredite zu einer weiteren Zunahme der Armut von Frauen, nicht weil diese sich häufiger verschulden würden als Männer, im Gegenteil, sondern weil sie nach Trennungen und Scheidungen auf den Kredit- und Abzahlungsverträgen sitzenbleiben, die sie mitunterschrieben haben, manchmal noch jahrelang, nachdem die Männer sich aus dem Staub gemacht haben.

Gestützt auf die Erfahrungen der Armutsbekämpfung in der Dritten Welt, bei der spürbare Erfolge an der Basis über Frauenbildungs- und Unterstützungsprojekte erzielt werden, sollten auch bei uns die Mittel zur Veränderung der Lebensbedingungen analog eingesetzt werden. Frauenprojekte in Nicaragua, in San Salvador oder in Burkina Faso, von denen ich Kenntnis habe, konnten erreichen, dass Frauen ihre Vereinzelung durchbrechen und sich, zum Beispiel, in Produktions-, Verkaufs- oder Weiterbildungskollektiven zusammenschliessen. Es ist nötig, dass Frauen sich in stärkerem Mass miteinander und untereinander solidarisieren, aus welcher sozialen Schicht, aus welchem Land sie auch kommen, Einheimische und Ausländerinnen.

Jede echte Solidarisierung kann schon nach kurzer Zeit positive Folgen haben, sowohl für die tatsächlichen Lebensbedingungen von Frauen im Zusammenhang mit konkreten Projekten wie auch in politischer Hinsicht, wenn Frauen ihre Abstimmungs- und Wahlzettel in Übereinstimmung mit ihrem Bedürfnis nach gerechten Lebensbedinungen für alle aufüllen, wenn sie sich auch zumuten, selbst für politische Mandate zu kandidieren.. Die Veränderung der Armuts- und Unrechtsbedingungen auf demokratischem Weg ist keine Utopie. Die Frauen sind mehr als die Hälfte der Bevölkerung, und da in der anderen Hälfte auch ein Teil der Männer die grossen sozialen und kulturellen Diskriminierungen als unerträglich empfindet, könnten neue Arbeitszeitmodelle, fortschrittliche Sozialversicherungen, Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten, könnten in sozialer und kultureller Hinsicht ganze Strukturveränderungen auf politischem Weg erreicht werden. Nicht nur die Armut, auch die Bekämpfung der Armut ist eine Frage der Verteilung  – der Umverteilung – des kollektiven Mehrwerts. Dass zusätzliche Quellen für die Erfüllung der wachsenden Aufgaben gefunden werden müssen – sei dies zum Beispiel über die Besteuerung der Spekulationsgewinne oder des Verbrauchs der nicht-erneuerbaren Energien – muss ernsthaft mitberücksichtigt werden. Meine Vorstellung und Forderung ist, dass in allen Kantonen und auf Bundesebene zu diesem Zweck aus allen Schichten der Bevölkerung, mithin unter Einbezug von Vertreterinnen und Vertretern der aktiven Anti-Armutsbewegungen, innovative “brain pools” geschaffen werden, welche die verschiedenen kurz- und längerfristigen Massnahmen zur Armutsbekämpfung untersuchen und ausformulieren, nicht zuletzt die Errichtung einer konjunkturunabhängigen Existenzsicherung, d.h. eines gesicherten Grundeinkommens für alle Menschen, die in unserem Land leben. Zusätzlich müssen, parallel zur Globalisierung des Marktes, Massnahmen zur Globalisierung von Kriterien der Lebensqualität durchgesetzt werden, auf nationaler wie auf transnationaler Ebene, damit auch die Phänomene der Migration – zumeist Folgen von unerträglicher Armut – berücksichtigt werden. Die Umsetzung dieser Massnahmen erscheint mir dringend, soll das 21. Jahrhundert nicht zum Katastrophenkommentar der Unterlassungen dieses Jahrzehnts werden.

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