“Was Wert bedeutet weiss nur wer den Mangel kennt”
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“Was Wert bedeutet weiss nur wer den Mangel kennt” [1]
“Donner, Blitze, Regenstürme “Imbres et venti, tonitrus et fulmina
stürzen Türme turres flatibus evertunt;
doch das, was klein, stare sed
lassen sie sein.”[2] ima sinunt”.
Die Frage nach der Bedeutung des Wertebegriffs ist eine Frage der Ethik, welche je nach kultureller oder religiöser Herkunftsgeschichte und Zugehörigkeit, je nach politischen und sozialen Theorien anders beantwortet wurde resp. beantwortet wird, seit der Antike bis heute. Bevor ich zu einer philosophischen Klärung dieser Frage beitrage, möchte ich einen kleinen Teil persönlicher Erfahrungen vorausschicken.
Was mir in der Kindheit von meiner elsässischen Grossmutter vermittelt wurde, die von ärmster Herkunft war und von deren Familie nur die wenigsten den Ersten Weltkrieg überlebt hatten, verband sich mit Werten, deren Bedeutung mit dem vielfältigen Mangel einherging, den sie selber hatte ausstehen müssen. “Was Wert bedeutet, weiss nur, wer den Mangel kennt”, sagte sie lächelnd, als ein Kirschbaum trotz der Kälte während der Blütezeit voller Früchte war, oder als sie für das köstlich duftende Brot, das sie frühmorgens am Freitag für die ganze Woche buk, nachdem sie am Donnerstagabend den Teig vorbereitet hatte, eine öffentliche Auszeichnung bekam. Nach dem Ersten Weltkrieg, den auch mein Vater als Kind erlebt hatte, nachdem “Donner und Blitze” nicht durch Natur-, sondern durch Menschengewalt Angehörige und Fremde, Dörfer, Städte und weite Teile des Landes vernichtet und ausgelöscht hatten, als Hunger zum Alltag gehörte und Sicherheit nichts als ein leeres Wort war, blieb tatsächlich nur “was klein ist”: ein Paar Schuhe, ein warmes Tuch, eine Suppe oder ein Stück Brot, eine gute andere Hand, welche die eigene Hand hielt. In den Jahren nach dem Krieg wurden die zerstörten Felder wieder entmint und bearbeitet, aus den Trümmern wurden wieder Häuser gebaut und die Trauer um die Toten wurde Teil der Nacht. Doch als in den Dreissigerjahren spürbar wurde, wie Feindaufhetzungen und Kriegsvorbereitungen erneut überhandnahmen, wurde die Suche nach dem, was “Wert” bedeutet, durch grosse Ängste wieder verstärkt.
Wie kam es, dass mitten im Zweiten Weltkrieg, als die Zerstörung aller “Werte” – des Wertes menschlichen Lebens, überhaupt von Leben, von Sicherheit, Wohlstand und Freiheit – masslos wurde, meine Grossmutter mir lächelnd auch sagte, dass “was klein ist”, grössten Wert hat? Wollte sie mir, die ich ein Kind – ein kleines Mädchen – war, Mut machen? Doch niemand kann ein Kind bleiben; was also ist die Bedeutung von “klein”? Und was ist jene von “Wert”? Als ich viel später in meinem Leben auf das alte Sprichwort stiess, das auf verschlüsselte Weise die gleiche Weisheit vermittelt, stellten sich die Fragen von neuem.
Erfüllung der Grundbedürfnisse – Massstab für Werte
Simone Weil war 34 Jahre alt, als sie 1943, kurz bevor sie an Lungentuberkulose und Hungerkrankheit starb, im Auftrag der französischen Exilregierung in London unter dem Titel “Enracinement” (Einwurzelung) ihr letztes Werk schrieb, erschöpft von sich selbst als jüdische Französin und als Kämpferin für soziale Gerechtigkeit, erschöpft von den Zeitgeschehnissen der Gewalt, von pausenloser menschlicher Entrechtung und Ohnmacht, von Flucht und Krieg. Sie entwarf einen Katalog der Werte, die für den einzelnen Menschen wie für das gute Zusammenleben der Menschen von zentraler Bedeutung sind. Das Werk wurde 1949 von Albert Camus, dem algerisch-französischen Schriftsteller, veröffentlicht. Er hielt dabei fest, Europa könne nur einen neuen Lebensanfang finden – “une renaissance” -, wenn die von Simone Weil vermittelten Erkenntnisse und Forderungen ernstgenommen würden.
Simone Weil geht von den Bedürfnissen aus, die a l l e Menschen durch das Menschsein prägen: “les besoins de l’âme” – die Grundbedürfnisse der Seele. Es sind die Grundbedürfnisse, deren Beachtung und Erfüllung Voraussetzung ist für jede Forderung nach Rechten im Zusammenleben der Menschen, auch die Grundbedürfnisse der Sprachlosen und Rechtlosen – insbesondere der Kinder, der kranken und arbeitsunfähigen, auch der alten Menschen, der heimatlosen und entrechteten Flüchtlinge. Die Forderung geht an diejenigen, welche über die Sprache und über Wahlmöglichkeiten des Handelns – über Macht – verfügen. Sie ist deren erste Verpflichtung. Letztlich ist sie Voraussetzung dafür, dass im Notfall – wenn durch Krankheit, durch materiellen Verlust, durch psychisches Leiden das eigene Leben in Not gerät – auch die eigenen Grundbedürfnisse beachtet werden.
Die Grundbedürfnisse stimmen überein mit den zentralen Werten, die das Menschensein prägen: es geht um den Respekt vor der unaustauschbaren Besonderheit des Lebens. Diese steht nicht zur Wahl; Elterngeschichte und Zeitgeschehnisse werden mit der Geburt gegeben resp. auferlegt. Dies betrifft sowohl die genetischen und geschlechterspezifischen körperlichen Besonderheiten wie die intellektuellen Fähigkeiten. Die Art des Respekts, die diesen und den damit verbundenen Bedürfnissen entgegengebracht wird, beeinflusst zutiefst die Entwicklung der psychischen Besonderheit: das Ausmass an Ängsten oder an innerer Sicherheit und Lebensfreude.
Der Mangel lässt bewusst werden, was von zentralem Wert ist. Jeder Mangel weckt ein Gefühl des Hungers, vergleichbar dem nach Nahrung, ein Hunger nach Beachtung und Respekt, nach Unterstützung und Liebe, nach Wärme und nach Sicherheit, nach Förderung des Wissensdurstes, nach Antworten auf Fragen, nach Wahlmöglichkeiten und Freiheit im Erkunden der eigenen Fähigkeiten, im Entscheiden und Handeln, nach verlässlichen Beziehungen, immer wieder nach Respekt vor der eigenen Besonderheit. All dies mag als etwas “Kleines” erscheinen: es ist tatsächlich nicht ein “Turm” von wolkennaher Bedeutung, sondern vergleichbar dem geheimen Wert dessen, was tatsächlich als gut erlebt wird. Ein Beispiel mag sein, was mit einem Unfall und dem Verlust zu stehen und zu gehen einhergeht, so dass dem Wert der eigenen Füsse, deren Tragkraft und Bewegungsmöglichkeit die höchste Beachtung zukommt. Damit einher geht die Abhängigkeit von materiellen Werten, letztlich von genügend Geld für gute medizinische Behandlung und für eine genügend lange Heilungszeit.
Das mag deutlich machen, dass Gretchens Klage in Goethes “Faust”, dass “nach Gelde drängt, am Gelde hängt doch alles, ach wir Armen” tatsächlich von Bedeutung ist, wenn es um die Grundbedürfnisse des Menschen geht. Manchmal mag die einzelne Münze diesen Wert darstellen, wie es für diejenigen der Fall ist, die auf der Strasse die Hand danach ausstrecken und die kaum Respekt erleben. Simone Weil hält fest: …”es ist der Respekt. Die Verpflichtung wird nur erfüllt, wenn der Respekt tatsächlich verwirklicht wird, auf eine Art und Weise, die der Realität entspricht und die nicht fiktiv ist; dies kann nur mittels der irdischen menschlichen Bedürfnisse geschehen”[3].
Die gerechte Verteilung der materiellen Güter dieser Erde auf die Menschen, die auf ihr leben, sollte dem Entwurf Simone Weils entsprechend realisiert werden, wie Albert Camus dies nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs forderte. Die Grundbedürfnisse aller Menschen müssen erfüllt werden können. Es darf im grossen Werte-Wettstreit, welchen die Mächtigen im Herrschafts-Wettstreit führen, nicht auf fiktive Weise unter marktwirtschaftlichen oder religiösen Bedingungen, die erfüllt werden müssen, in Aussicht gestellt werden. Wenn das verzweifelte Aufbegehren der Armen, deren Grundbedürfnisse seit Generationen nicht erfüllt wurden und nicht erfüllt werden, als Terror und als Rechtfertigung von Kriegen erklärt wird, erstarrt jede offizielle Erklärung dessen, was “das Gute” und was “das Böse” ist, zur Wiederholung entsetzlichen Betrugs.*
[1] Beitrag zur “Spielgruppen”-Zeitschrift (17. 10. 2003)
[2] Mittelalterliches Sprichwort, aus dem Lat. übersetzt von H. G. Hirschberg. In: Der Rhythmus des Regens. Pro Lyrica. Schaffhausen 1999, S. 39
[3] …”c’est le respect. L’obligation n’est accomplie que si le respect est effectivement exprimé, d’une manière réelle et non fictive; il ne peut l`être que par l’intermédiaire des besoins terrestres de l’homme”. Enracinement. Gallimard, paris 1949. S. 13