Vogel Herz – Psychoanalytische Traumatherapien
Vogel Herz
Psychoanalytische Traumatherapien
Das Öffnen des Fächers
Von der therapeutischen Wirkung der lebenszustimmenden Teile der Psyche auf die verletzten und leidenden Teile
Vogel Herz
Kürzlich erst
entdeckte ich
den Vogel Herz
hoch auf dem Baum
von bunten Blättern
ganz verdeckt
und langsam fragend
scheu kam er herab
in seinem leichten
Federkleid die letzten Blätter
fortgeschüttelt und verstand
die Sprache die ich sprach
nicht ganz doch ich
bin jetzt bereit
die seine zu erlernen.[1]
Bevor ich mit Fallbeispielen auf therapeutische Erfahrungen eingehe, möchte ich kurz mein Verständnis des Traumabegriffs erläutern sowie einige für mich wichtige Aspekte der therapeutischen Methode vorstellen. Diese beziehen sich auf drei Bilder: die Brücke, den Fächer, die Zeit. Damit verbunden ist das Bild des angstbesetzten Vogels Herz, der allmählich wieder wagt, die Flügel zu heben, dank der Erfahrung, in seiner Wehrlosigkeit verstanden worden zu sein und sich gestärkt zu fühlen, auch dank der geheimnisvollen eigenen Kraft des Atems.
Verwundung mit Leidensfolgen
Was verstehe ich unter „Trauma“ – diesem Begriff, der auf vielfältige Weise ausgelegt wird? Für mich war massgeblich, dass er in seiner Bedeutungsvielfalt schon in der griechischen Antike verwendet wurde. Ich stiess darauf in der frühen Phase meines Philosophiestudiums, und er beschäftigte mich im Erarbeiten und Verstehen der philosophischen Werke und Theorien, mit denen ich mich befasste; ich verstand, dass Existenzgeschichte und Zeitgeschichte des Denkers oder der Denkerin als Hintergrund in die Klärung jeder philosophischen Theorie miteinbezogen werden muss, resp. dass das, was über die Sprache vermittelt wird, Ausdruck sowohl der Psyche wie des Intellekts ist, dass letztlich die analytische Methode des „Lesens“ eine Kommunikation mit dem Text ermöglicht, welche das Verstehen verfeinert oder erweitert. Von „trauma“ war zum Beispiel in Homers „Odysse“ – im Zusammenhang einer körperlichen „Wunde“ oder einer „Verletzung“ – die Rede, zusätzlich auch in materieller Hinsicht, um einen „Schaden“ oder ein „Leck“ an Schiffen zu bezeichnen, ferner im übertragenen Sinn, um „Verlust“, „Wertverlust“, „Niederlage“. „Einbusse“ bildhaft verständlich zu machen. Das Substantiv stand in Verbindung mit zwei Verben, mit „titroskein“, d.h. „durchbohren“ oder „verwunden“, sowie mit „teirein“, d.h. „reiben“, auch „aufreiben“. In der erstaunlichen, ursprünglichen Begriffsweite widerspiegeln sich somit die vielfachen Versuche, die aufgerissene, beschädigte, ja verwundete Seele und das damit verbundene psychische Leiden zu benennen, das durch tiefgreifende existentielle, auch körperliche Gefährdung und Verletzung oder durch psychische Erschütterung geschaffen wurde, infolge eines schädigenden oder leidvollen, erschöpfenden Teils des Lebens: durch erschreckende, demütigende, herabsetzende, verwundende, sicherheits- und lebensbedrohliche Gewalt, auch geschaffen durch Beziehungsverluste, durch schwere Unfälle oder Erkrankungen wie durch aufwühlende Lebensveränderungen – von der frühesten, noch ungeborenen Kindheit in der pränatalen Zeit an durch alle Lebensphasen bis ins hohe Alter.
Ein psychisches Trauma ist tatsächlich eine schwerwiegende, nachhaltige Verletzung der seelischen Integrität, d.h. des persönlichen Lebenswertes und der existentiellen Sicherheit. Jede Art von existenziellem Mangel und von Existenzgefährdung, d.h. von Mangel in der Erfüllung wichtiger Grundbedürfnisse kann eine Traumatisierung bewirken, häufig z.B. Beziehungsproblematik in der frühen Kindheit, Unfälle, Natur- und Verkehrskatastrophen, tätliche Angriffe durch sexuellen Missbrauch, Waffen- und Körpergewalt, der Verlust von wichtigen körperlichen Funktionen (Erblindung, Gehörverlust, Immobilität etc.), schwere organische Erkrankungen und chirurgische Eingriffe, der Tod von nahen Bezugspersonen sowie weitere schwere Erlebnisse – etwa Hunger, Obdachlosigkeit, Verfolgung und Vertreibung, auch das erzwungene Mitansehenmüssen von Quälerei oder gar Tötung anderer Menschen, insbesondere naher Angehöriger, langanhaltende Todesangst durch politische Bedrohung, durch ethnizistischen oder religiösen Fanatismus und durch Krieg. Schwerwiegende Traumatisierungen lösen vielfältiges seelisches Leiden aus – sog. psychischen Störungen -, die häufig mit somatischen Krankheitsfolgen verbunden sind. Häufig werden durch Gewalt- und Verlusterfahrungen frühere Traumatisierungen reaktiviert, die oft lange zurückliegen und scheinbar vernarbt waren.
All dies bewirkt eine kaum mehr tragbare existentielle Entwertung und damit verbunden eine sich fortsetzende Lebensgefährdung. Das Leiden wird gemäss der internationalen Klassifikation für psychische Störungen durch den WHO (ICD) als Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bezeichnet. Zu den Folgen gehören als retraumatisierende Begleitumstände häufig auch existentielle Probleme rechtlicher Art (Suchtproblematik, Arbeitslosigkeit, problematische Abhängigkeit von Sozialhilfe, nicht mehr kontrollierbare Aggressivität, ungenügender rechtlicher Aufenthaltsstatus und Ausschaffungsgefährdung bei Asylsuchenden u.a.m.- bis zur Suizidalität).
Psychoanalytische Traumatherapie bietet Möglichkeiten der sorgsamen Aufarbeitung und Integration der traumatisierenden Erlebnisse an, die – häufig in Verbindung mit guter rechtsanwaltschaftlicher Hilfe – zur Rückgewinnung einer der Persönlichkeit entsprechenden seelischen Sicherheit und Lebensqualität führen können.
Zwei Beispiele mögen dies deutlich machen:
Ein heute 38jähriger Mann aus einer Schweizer Kleinstadt war in der frühen Kindheit bis zum Schulalter den ständigen Schlägereien und Wutausbrüchen seiner Eltern ausgesetzt, schiesslich deren Scheidung. Er wurde in ein Kinderheim versetzt und nach kurzer Zeit in drei weitere. Ein älterer Bruder missbrauchte ihn sexuell ab dem elften Altersjahr. Er wünschte einen Beruf zu erlernen und eine gute Familie aufzubauen, doch es gelang ihm nicht. Neben Arbeitslosigkeit und Schulden belasteten ihn über Jahre schwere Depressivität, Unwertgefühle und Wut, die er durch Alkohol- und Drogenkonsum zu ertragen versuchte. Mehrmals war er in Strafverfahren verwickelt. Manchmal floh er für einige Monate ins Ausland und versuchte, irgendwie als Künstler zu überleben. Eine Zeitlang dachte er auch, über die Zugehörigkeit zu religiösen Sekten einen Halt zu gewinnen, doch er erkannte dank seiner intellektuellen Wachheit, dass die Sicherheit eine Täuschung war, dass er zu deren Machtzwecken missbraucht wurde. Die Verzweiflung über sein verlorenes Leben wurde immer unerträglicher. Wieder verfiel er der Flucht in Drogenkonsum, geriet wieder in finanzielle Probleme und in Strafverfahren. Eine Freundin konnte ihn bewegen, eine Traumatherapeutin aufzusuchen. Sein Bedürfnis Fragen zu stellen, zu verstehen und zu lernen, was in der Kindheit und Jugend unerfüllt geblieben war, konnte dank einer ihn stärkenden Psychotherapie geweckt und allmählich erfüllt werden. Es bedurfte einer lange dauernden, von ihm unterbrochenen und wieder aufgenommenen „Übung“ im Verstehen seiner selbst, doch zunehmend wurde für ihn möglich, sowohl die schweren Traumatisierungen, die er in der Kindheit erlebt hatte, gut aufzuarbeiten und seine kreativen, lebenszustimmenden Fähigkeiten zu wecken. Auch bedurfte er in verschiedenen Zusammenhängen einer guten rechtsanwaltschaftlichen Hilfe. Schliesslich gelang es ihm, dank einer technischen Ausbildung, die er abschliessen konnte, eine Anstellung zu finden und seinem Bedürfnis, auf nützliche Weise tätig zu sein, gerecht zu werden.
Eine heute knapp fünfzigjährige Frau, die in einer mittelgrossen Stadt im ehemaligen Jugoslawien als Sport- und Mittelschullehrerin eine angesehene, emanzipatorische Intellektuelle war, die gewagt hatte, sich von ihrem gewalttätigen Ehemann scheiden zu lassen und allein für ihre zwei Kinder aufzukommen, hatte während drei Jahren den Krieg in einem Keller zu überleben versucht. Ihr Sohn hatte schon 1991, als die Zwangseinberufung in den Militärdienst an ihn erfolgte, nach Kanada fliehen können; die Tochter hatte sich 1990 verheiratet und gleichzeitig an der Universität einer nahe gelegenen, grösseren Stadt ein Studium begonnen. Im Frühjahr 1995 drangen eines Morgens in der Dämmerung drei bewaffnete Männer in ihr Haus ein, verhöhnten sie und vergewaltigten sie. Wie sie es schaffte, aus der weitgehend zerstörten, von serbischen Flüchtlingen besetzten Stadt zu fliehen und wie sie in die Schweiz gelangte, daran kann sie sich kaum erinnern. Sie ist von ständiger Angst besetzt, gleichzeitig von vielfachen körperlichen Schmerzen. Auch in der Schweiz hielt sie sich nach Möglichkeit wie während des Kriegs versteckt. In extremer Verzweiflung gelangte sie an eine Psychotherapeutin, als sie einen Rückschaffungstermin erhielt. Da war es ihr erstmals möglich, ihr Leiden jemandem anzuvertrauen und um Hilfe zu bitten. Sie konnte schildern, wie sie sich und ihre frühere Persönlichkeit als zerbrochen empfand, dass sie sich seit der extremen Gewalterfahrung nicht mehr akzeptieren konnte, dass vom ursprünglichen Optimismus, der sie geprägt hatte, nichts erhalten blieb, dass es keinen Lebenssinn und keinen Wert gab, den sie mit sich selbst verband. Alle Gedanken kreisten um den Krieg, um das Haus, die Schreie der Menschen, ihre Panik, die Gewalt. Nachts bleibe sie schlaflos, und wenn sie einschlafe, erwache sie schweissgebadet aus Alpträumen. Immer wieder nähmen Gefühle der Todesangst und der totalen Verlorenheit überhand, nun, wo ein Rückschaffungstermin an sie gelangt sei, ohne Möglichkeit der Erholung. Sie habe vor einigen Monaten gewünscht, Deutsch zu lernen und sie habe sich darum bemüht, aber sie könne sich nicht auf die Wörter und nicht auf die Konstruktion von Sätzen konzentrieren. Auch leide sie unter ständigen Rücken- und Nackenschmerzen, unter Kopfschmerzen, Verdauungsproblemen und einer lähmenden Müdigkeit. Ihr sei bewusst, dass der Körper einen Teil der allzu schweren psychischen Last übernehmen müsse.
Die extreme Angst vor der erzwungenen Rückschaffung bewirkte den Weg in die Psychotherapie. Eine erfahrene Rechtsanwältin liess sich finden, mit deren Hilfe das Aufenthaltsrecht in der Schweiz gesichert werden konnte. Allmählich gelang es der Patientin, den ursprünglichen Lebensmut wieder zu finden. Schwer war es während langer Zeit, die demütigende Abhängigkeit von Sozialhilfe zu ertragen, die enorme Einschränkung von Arbeits- und Erwerbsmöglichkeit, die nicht selber wählbare Wohnmöglichkeit, die extreme Kontrolle jeglicher Alltagsgestaltung. Erst infolge eines zweiten juristischen Verfahrens konnte ein Flüchtlingsstatus erreicht werden, der weniger erniedrigend und weniger retraumatisierend ist.
Wege der traumatherapeutischen Methode
„Weine aus die entfesselte Schwere der Angst
Zwei Schmetterlinge halten das Gewicht der Welten für dich
Und ich lege deine Träne in dieses Wort:
Deine Angst ist ins Leuchten geraten.“[2]
Wessen schwer traumatisierte Menschen aufs dringlichste bedürfen, ist eine Erfahrung der persönlichen Unbedrohtheit und des Vertrauens, die sich oft erst nach langer Zeit in einer verlässlichen psychotherapeutischen Begleitung und dank juristischer Hilfe einstellen kann. Mittellosigkeit darf diese Erfahrung nicht verhindern. Je mehr Zeit zwischen der Traumatisierung und einer einsetzenden Therapie erfolgt, umso schwerwiegender entwickelt sich das posttraumatische Leidenssyndrom. Kaum mehr möglich sind ein ruhiger Atem oder ein erholender Schlaf. In Alpträumen, in körperlichen Erkrankungen wie in alltäglichen Bewegungs- und Begegnungsängsten wiederholen sich die traumatisierenden Erlebnisse. Sie werden zum tiefen Abgrund. Das innere Zeitgefühl ist blockiert durch die Vergangenheit, resp. durch das, was an Erfahrungen und an Empfindungen die Grenze des lebendigen Lebens schuf. Weder Gegenwart noch Zukunft werden mehr als gestaltbare Lebenszeit empfunden. Jeder Teil der vielfältigen kreativen Vernunft, die für den Ich-Wert des Menschen von zentraler Bedeutung ist, wird unter dem inneren Gewicht der traumatisierenden Erfahrung wie erstickt – sowohl die emotional schöpferische Beziehungsfähigkeit der vielen Teile des Ich zu einander wie zu anderen Menschen und deren psychischen Vielfalt, wie die mit der Freiheit des Denkens verbundene Gestaltungsmöglichkeiten des Handelns, wie auch die kreativ-schützenden Abwehrkapazitäten.
Die Frage, wie die psychischen Traumatisierungsfolgen durch sorgfältige Therapie geheilt werden können, bedarf der Beachtung unterschiedlicher Teile einer umfassenden Methode. Die zwei Beispiele mögen dies angetönt haben. Teilweise ist Traumatherapie je nach den kulturellen und individuellen Zusammenhängen mit unterschiedlichen Komplikationen verknüpft, dadurch mit einer Vielzahl von therapeutischen Wegen innerhalb der Methode der Rehabilitation des Ichwertes, mit dem Beizug vom Wörterbüchern, mit der Bildersprache (Zeichnen und Malen, Einbezug von Bildern, eventuell von Musik, von Symbolen etc.). Von zentraler Bedeutung ist es,
- auf die somatischen Folgen der post-traumatischen Leiden einzugehen und über Atemtherapie eine spürbare Verbesserung der Verbindung von Psyche und Körper zu bewirken. Die Atemtherapie verbindet sich mit der Zielsetzung der Traumatherapie, die nur erreicht werden kann, wenn traumatisierte, leidende Menschen mit Hilfe der Therapeutin einen Heilungsweg in sich selber wecken können, einen Weg, der ihren individuellen Heilungsmöglichkeiten entspricht, wenn zugleich die Therapeutin/der Therapeut bereit ist, auf die individuellen Heilungswege von PatientInnen mit grosser Sorgfalt einzugehen, als kundige Begleiterinnen der Reparatur einer tief zerbrochenen, sich Teil für Teil öffnenden Architektur der Seele. Das bewusste, langsame und tiefe Einatmen sowie das befreiende Ausatmen, die dadurch verstärkte Durchblutung des gesamten Körpers wie die spürbare Verbesserung des Blutdrucks ermöglichen die Rückgewinnung des Subjektseins, das durch den beengenden Druck der Angst und der inneren Last unverarbeiteter Leiden wie durch das lähmende Empfinden von Wertlosigkeit und Leere in der Tatsache ständiger Objekterfahrung wie verloren ging. Der tiefe Atem bewirkt einen Rückgewinn jener ersten Lebenserfahrung, die dem neugeborenen Kind auferlegt ist, um das eigenen Leben leben zu können.
- Häufig ist ein sofortiges Eingehen auf die traumatisierenden Erlebnisse unaufschiebbar. Aber wenn immer möglich, ist es therapeutisch hilfreich, zuerst im analytischen Sinn die dem Leiden vorangegangenen Lebenserfahrungen und Beziehungsorte zu beleuchten und sorgfältig zu durchgehen, ob es sich um Kinder handle oder um Jugendliche und Erwachsene, d.h. die Kellerräume, die Gartenplätze, ja, möglichst viele frühere Teile des Lebensgrundstockes, Erinnerungen an die früheste Kindheit zu erfragen, Erinnerungen an die Beziehung zur Mutter und zum Vater, zur Herkunftsgeschichte beider und zu Hintergrundgeschichten, welche eventuell die Art der Zustimmung der schwangeren Mutter zum noch ungeborenen Kind verständlich machen. Auch frühe Kindheits- und Jugenderlebnisse, Erinnerungen und Bilder können die Kraft der Lebenszustimmung und Lebensgestaltung erklären, oder frühe Eingrenzungen und psychische Fluchtversuche.
Auch wenn für das Eingehen auf die frühe Kindheit und Jugend wenig Zeit verfügbar ist, kann dadurch die Fülle der psychischen, der empfindungs- wie beziehungsmässigen, der denkerischen wie der körperlichen Eigenschaften deutlich werden, so wie sie sich in den späteren Lebensentwicklungen und –zusammenhängen auswirken: ich meine damit jenen Teil des Ufers, der, wie ein Patient mir sagte, den „Imperfekt des Lebensbodens“ bedeutet, und der durch den Abgrund der Traumatisierung vom Boden der Gegenwart und der Zukunft getrennt ist. Wenn es möglich ist, den frühesten Lebensboden erkennbar oder gar erspürbar zu machen, lässt sich dadurch die besondere, zumeist verborgene Fülle der eigenen kreativen Fähigkeiten wecken. Wenn der persönliche Platz des Patienten/der Patientin in der Herkunftsgeschichte zurückgewonnen wird, über die Familiengeschichte der Eltern, der Grosseltern und eventuell weiter zurück, in Verbindung mit den Zeitgeschichten, wenn mit Erinnerungen das Beziehungsnetz mit Mutter und Vater, mit Geschwistern – falls es solche gab -, mit Verwandten und mit weiteren Bezugspersonen aus der frühen Kindheit, aus der Schulzeit, der Nachbarschaft etc. wieder zusammengestrickt werden kann, lassen sich tatsächlich oft lebensstärkende Momente und Erfahrungen des Glücks oder eine besondere Kraft des Überlebens, der Selbstverteidigung und damit des verborgenen persönlichen Lebenswertes wecken. Dies ermöglicht, die zumeist am stärksten belastende jüngste traumatisierende Erfahrung als Teil eines grossen Lernprozesses in die Lebensgeschichte einzuordnen, so dass diese nicht mehr die Seele wie im angstbeherrschten Dunkeln besetzt und gefangen hält.
Der Geschichte des Leidens zustimmen zu können, so dass sie nicht mehr Tag und Nacht beherrscht, sondern Vergangenheit wird, ermöglicht das allmähliche Auflösen der Gefühle der Scham und das Erwachen einer kaum gekannten Freiheit. Deren stärkendste Entfaltung mag in der Fähigkeit spürbar werden, nicht mehr der Angst zu bedürfen, auch nicht mehr Hass und Rache gegenüber den Tätern zu empfinden, sondern diesen eine eigene Verarbeitung der – schuldbesetzten – Geschichte zu wünschen. Es kommt vor, dass sogar Verzeihen möglich wird, diese seltenste, irgendwie weiteste und kostbarste Erfahrung von Freiheit.
- Die ganze therapeutische Methode beruht auf der Achtsamkeit des Therapeuten/der Therapeutin gegenüber den Lebensbedingungen, in welcher sich der Patient/die Patientin in der Gegenwart befindet. Ist diese in wesentlichen Aspekten retraumatisierend – auf Grund grosser Armut, Rechtsprobleme, zu enger oder ängstigender Wohnverhältnisse, ungenügender Ausbildung etc. -, so ist die Aktivierung existenzverbessernder Unterstützung prioritär. Lassen sich Grundbedürfnisse des Patienten/der Patientin erfüllen, deren aktueller Mangel für den Ich-Wert erniedrigend oder überbelastend ist, so ist auch der Heilungsprozess vorangegangener Traumatisierungen in starkem Mass spürbarer. Oft bedarf es allerdings des Beizugs von Stiftungen[3], um die Finanzierung wichtiger rehabilitierender Massnahmen zu ermöglichen.
Brücke in die Zukunft
„Ausgeweidet die Zeit
auf deines Angesichts Bernstein
Das Nachtgewitter zieht flammend heran
Aber der Regenbogen
Spannt seine Farben ein
In den hintergründigen Streifen aus Trost.“[4]
Durch das Wachwerden der häufig durch die Traumatisierung zugedeckten, im Unbewussten versteckten psychischen Kräfte beginnt die langsame eigene Heilung der Psyche. Das emotionale Erkennen und Verstehen der Vielfalt der guten psychischen „Kräfte“ führt immer wieder zu erstaunlichen Genesungen, die dem Bild einer „Brücke“ gleichen, die, Stein für Stein, von einem Ufer zum anderen über den Abgrund zusammenwächst. Der durch die Traumatisierung aufgerissene Abgrund bleibt ein Teil des Lebens, aber besetzt nicht mehr die ganze Existenz, wenn das eine Ufer – die der Traumatisierung vorangegangene Lebensgeschichte – und das andere Ufer – die aktuelle Zeit und die Zukunft – miteinander verbunden werden können. Jede Therapiestunde dient dazu, einen Stein aus dem Abgrund hochzutragen und in die langsam entstehende Brücke einzubauen, Stein für Stein. Die Patientin/der Patient – auch der/die begleitende TherapeutIn – sind häufig nach einer Stunde des vorsichtigen Aufarbeitens der Schmerzen zufügenden schweren Last, die hochgetragen werden muss, buchstäblich erschöpft, fühlen sich aber zugleich der Heilungsmöglichkeit, d.h. der langsam erneut wachsenden Lebensfreude sicherer, als sähen sie auf dem Gegenwartsufer einen hellen Weg aufleuchten.
Mit dem Bauen der „Brücke“ geht gewissermassen das Aufscheinen des „Regenbogens“ einher – ein weiteres Bild -, somit das Verarbeiten der spezifischen Zeitgefühle des traumatisierten, leidenden Menschen, resp. der tief empfundenen Differenz zwischen innerer Zeit und äusserer Zeit. Die äussere Zeit entspricht sowohl dem berechneten Lebensalter wie der offiziellen Zeitordnung. Die innere Zeit dagegen bedeutet zumeist ein ständiges Festgehaltensein an einer von unbewussten oder bewussten Teilen der Psyche gelenkten Innenwelt, einerseits wegen der aufwühlend- und erschreckend-blockierenden, lähmenden Beherrschung durch erlebte/überlebte Traumatisierungen, andererseits weil die mit dieser inneren Zeit verbundenen Entwicklungs- und Erfahrungsbedürfnisse – Spielbedürfnis, Erlebnis- und Lernwunsch, Bedürfnis nach liebevoller Begleitung und Beziehung, auch in sexueller Hinsicht, nach eigener Entfaltung etc. – nicht erfüllt werden konnten und als spürbarer Hunger gespeichert blieben. Die aktuelle äussere Zeit wird daher zum belastenden, kaum erträglichen Druck. Häufig ist es die sich daraus entwickelnde Fremdheit der eigenen Existenz innerhalb des alltäglichen äusseren Realitätszusammenhangs, welch zu psychotischen Verlassenheits- und Angstzuständen führt, eventuell sogar mit suizidalen Folgen, wenn es nicht gelingt, den Ich-Wert so zu wecken und sich entfalten zu lassen, dass die Zukunft als ertragbare Zeit betrachtet werden kann.
Neben dem Bild der Steine, die sorgfältig aus dem Abgrund der Traumatisierung geholt werden, und die zwischen dem guten, stärkenden Teil der Vergangenheit und der sich aus der Gegenwart öffnenden Zukunft die Brücke entstehen lassen, dient als weiteres Symbol für die Fülle der psychischen Teile der Fächer. Angenommen, dass die einen Teile der Psyche schwer verletzt sind, bedeuten die anderen Teile die kreative eigene Heilungsbefähigung. Die Psyche findet im Bild des Fächers, resp. in der zusammengefügten und unter einander verbundenen Gesamtheit aller Teile des Fächers, der in der haltenden Hand ruht, ein erstaunlich vielfaches Symbol. Die Hand widerspiegelt die Stärke der körperlichen Lebendigkeit mit der schützenden Haut und dem unter der Haut alles belebenden, wärmenden Blutkreislauf, in Verbindung mit den Atemfunktionen und dem Organ der Nahrungsverarbeitung, mit den sinnlichen Wahrnehmungs- und Vermittlungsbefähigungen und den intellektuellen Verarbeitungs– und Schöpfungsmöglickeiten. Der Fächer mit seiner Vielzahl von Teilen stellt somit bildhaft die Psyche dar, die mit ihren zahlreichen Strukturen im Verborgenen das menschliche Leben bewegt. Hand und Fächer sind ein Abbild des komplexen Potentials der subjektven wie der zwischenmenschlichen, resp. der beziehungsmässigen Verbindungen, im Guten wie im Leidvollen, Schwierigen oder traumatisierend Belastenden. Wird der Fächer geöffnet, zeigt sich, dass eventuell einzelne seiner Teile verklebt oder verletzt sind, andere offen, vom zusammengehaltenen, zentralen bis zum weit entfalteten Bereich. Die psychotherapeutische Arbeit besteht im sorgfältigen Öffnungsvorgehen der verschlossenen, besetzten, verklebten oder gar teilweise zerrissenen Teile des Fächers. Allmählich wird er auf diese Weise weiter, stärker und belebender, so wie er von seinem geschaffenen Potential her dies ursprünglich ist. Wenn es gelingt, alle Teile durch langsame Selbstfindung und Selbstzustimmung zur Selbstentfaltung zu bewegen, entwickelt sich eine „Atemfähigkeit“ in der Dichte und Weite, welche die eigene innere, stärkende Lebenspotentialität wieder spürbar werden lässt.
Meine methodischen Überlegungen beruhen auf einer grossen Anzahl traumatherapeutischer Arbeit und stimmen interessanterweise auch mit der Erfahrung persönlich erlebter Traumatisierungen überein, schwerer Verluste, Verletzungen und Erkrankungen, z.B. einer Hirnblutung mit daraus folgendem, anfänglich schwerwiegendem Sprach- und Gedächtnisverlust, mit körperlichen Bewegungsstörungen, Realitätsverwirrungen etc. Dank guter therapeutischer Erfahrung mit Patientinnen und Patienten war ich zum einen durch psychische Selbsttherapie und zum anderen durch aktive Zustimmung zu Körpertherapie, Logopädie etc. relativ schnell heilbar, in neurologischer Hinsicht auf erstaunliche Weise.
Zur Architektur der Untersuchungen:
- Teilaspekte der analytischen Untersuchungen im Zusammenhang der Traumatherapie, insbesondere Kindheit, Jugend und Altwerden sowie die Bedeutung von Zeiterfahrungen, von Übergängen und Grenzen
- Folgen traumatischer Erfahrungen und Lebensbedingungen – Einsamkeit, Scham, Selbstgefährdung durch Suchtverhalten -, verbunden mit Fallbeispielen therapeutischer Aufgaben und damit angestrebten Genesungsschritten.
- Die Erfahrung der Selbsttherapie[5]
- Kritische Überlegungen zum therapeutischen Regelsystem, verbunden mit der Darstellung einer tragfähigen Grammatik des therapeutischen Dialogs und der Bedeutung von Verlässlichkeit.
Pif-Paf-Puf
Das erschöpfte Herz im entgleitenden Kopfsprung
„Mein Herz wird welk: Vergissmein-
nicht! Der Mund steht schief.
Die letzte Letter ist mein
Ich, das rückwärts lief:
durchs Leben.
Und die, nach denen
die Sehnsucht ruft, verstehen
nicht, was wir reden –
die Sprache hält sie fern.“[6]
Schlaflosigkeit ergab sich infolge nächtlicher Schreibpflichten, Müdigkeit spürte ich seit Monaten. Ich weckte mich täglich früh und hielt mich ständig wach mit Aufmerksamkeit. Da waren die Praxisstunden, die angstbesetzten, verzweifelten Asylsuchenden, Kinder und Erwachsene, zahlreiche Sprachprobleme, Patientinnen und Patienten mit erstickenden Seelen und schmerzbesetzten Körpern; abends Sitzungen, Vorträge im Zusammenhang von Weiterbildungskursen, öffentliche Diskussionen, anschliessend die Konzentrationsprobleme am Schreibtisch, an Abenden und an den Wochenenden der liebe Enkel, der eben sieben Jahre alt geworden war.
Am Tag vor dem entgleitenden Kopfsprung hatte die Pressekonferenz über die Nicht-Zumutbarkeit einer offiziellen Ausschaffung von kosovo-albanischen Romas stattgefunden, beantwortet durch die Garantie des Bundesamtes für Flüchtlinge, dass die verängstigten Menschen länger als bis zum Jahresende in der Schweiz bleiben durften. Der darauf folgende Tag war mit zahlreichen Stunden in der Praxis belegt, am Abend mit einer Vortragsverpflichtung in Bern. Mittags beschloss ich, eine Pause zu nutzen, auf der Couch auszuruhen und anschliessend den Vortrag zu überarbeiten. Ich sank sofort weg, erinnere mich aber, den Kopf nochmals gehoben und goldwarmes Licht vor mir gesehen und gespürt zu haben. Weitere Erinnerungen fehlen. In diesem Moment muss die linke Hirnseite auf Grund zu hohen Blutdrucks zu bluten begonnen haben. Wann ich mich von der Couch erhob, weiss ich nicht, vermutlich hatte ich Durst und wünschte, mir Wasser zu beschaffen. Auch weiss ich nicht, wie ich die Treppe hinunterstürzte und dadurch zusätzliche Kopfblutungen verursachte, auch Verletzungen im Gesicht, Knochenbrüche in der Hüfte und im Rücken.
Irgendwann spürte ich die Hand und die Stimme einer alten Patientin, die inzwischen in die Praxis eingetreten war und mich auf dem Boden des Eingangkorridors aufgefunden hatte. Sie berichtete mir später darüber. Ich erinnere mich, dass ich sie irgendwie bat, meinen jüngeren Sohn anzurufen, der in der Nähe eine Praxis als Rechtsanwalt hatte. Fast sofort stand er vor mir. Er und ein anderer junger Mann stützten mich oder trugen mich durch die Kälte am Café vorbei und legten mich in ein kaltes Notfallauto. An die Hilfe und an die Kälte erinnere ich mich, sonst an nichts, Nichts weiss ich von den darauf folgenden Tagen und Nächten, nichts von den Untersuchungen im Universitätsspital, nichts vom Helikoptertransport ineinen anderen Spital, wo ich in der Intensivstation während zwei Wochen im Koma lag, wie mir später berichtet wurde.
Woran ich mich erinnere, muss kurz vor dem Aufwachen vor mir oder in mir geschehen sein, ein Bild und lähmende Angst, Todesnähe. Angebunden fühlte ich mich auf einen hohen, harten Schragen, vor mir eine mich quälende, übergrosse männliche Gestalt, deren Kopf durch eine Beugung des Rückens zwischen den Beinen vorn hochgezogen war, mit weit geöffnetem Mund und glühend auf mich gerichteten Augen. Weshalb wurde ich gequält? Strafe? Wofür? Beim Beinah-Erwachen war vor mir das Bild eines ruhigen, guten Gesichts, eines jungen Krankenpflegers. Er brachte mir eine Tasse mit Suppe, die ich nicht essen konnte. Schliesslich erinnere ich mich, meine linke Hand gespürt zu haben, in welcher der Daumen nach Innen gepresst und die vier Finger aufgestellt waren. Ein Bild für meine vier Kinder, die mich ins Leben zurückbegleiteten, die ich in meiner Nähe spürte? Die linke Kopfseite war verletzt worden, doch ein Glücksgefühl ging mit der linken Hand einher.
Nach dem Erwachen erkannte die Gesichter meiner Töchter und meiner Söhne, auch des ältesten, der damals in China lebte, meiner Schwester aus Paris, auch einiger mir nahestehender anderer Menschen, spürte ihre Blicke wie Wärme um mich, zugleich hörte ich sie sprechen wie in weiter Entfernung und in Sprachen, die ich nicht verstand, Wort um Wort rutschte weg. Durch ein Fenster erblickte ich schneebedeckte Dächer einer Stadt, auch weisse Bäume und Hügel. Ich fühlte mich “gerettet“, wusste aber nicht, dass die Reise in die unbekannte, schwarze Zwischenwelt mehr als zwei Wochen gedauert hatte, wusste nichts über meinen Kopf und nichts über meinen Körper. Am Abend setzte sich eine Krankenschwester neben mein Bett und zeigte mir eine Art Prospekt mit dem Bild einer Klinik. Irgendwie machte sie verständlich, dass ich dorthin am nächsten Morgen weggefahren würde, und irgendwie bat ich sie verzweifelt, in diesem Bett bleiben zu dürfen, versuchte nein zu sagen. Ich spürte Angst, so sehr, dass ich dachte, es dürfe keinen Schlaf mehr geben, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Doch sicher glitt ich immer wieder weg.
Was folgte, blieb zum Teil in meiner Erinnerung. Am frühen, noch dunkeln Morgen wurde ich vom Bett auf einen schmalen Schragen gelegt und festgebunden, wahrscheinlich, weil ich Widerstand zeigte. Auch weiss ich, dass ein Mann und eine Frau mich mit diesem Schragen zu einem Fahrzeug fuhren und mich dort plazierten. Die Frau setzte sich neben mich, ohne zu sprechen. Sie war jung, hatte einen dunkelblonden Zopf, ein festes Gesicht mit vorstehenden Zähnen und eine grosse Brust; der Mann wirkte wie ihr Bruder und setzte sich ans Steuer. So wurde ich weggefahren. Über mir zog der graue Himmel vorbei, manchmal dichte Baumwipfel. Ich versuchte aufzupassen, zu beobachten, aber vermutlich glitt ich auf der Fahrt immer wieder weg. Unendlich lang, schien mir, seien wir gefahren, als seien es mehrere Tage oder Wochen gewesen, als ich auf dem Schragen herausgehoben wurde, auf einen Wagen gelegt und auf einem unterirdischen, tunnelartigen Weg gefahren wurde, schnell, manchmal an bewegungslosen, stummen Menschen vorbei, einige von ihnen auf Sesseln mit Rädern, dann in einen Lift gestossen, durch einen langen Korridor und schliesslich in ein Zimmer hinein, dessen Fenster, wie ich sofort sah, durch eine feines Drahtgewebe hinter dem Glas versperrt waren, zu einem Bett, in welches ich gehoben wurde.
Ein weiss gekleideter kräftiger Mann trat in den Raum, der mich auf diesem Bett festbinden und am Bettrand eine Wand aufbauen wollte. Aber ich stiess ihn mit den Händen weg, voller Zorn, sagte mit dunkler, mir unbekannter Stimme „nein, nicht“. Er liess das Bett, wie es war, liess mich allein und verliess das Zimmer. Eine hochgewachsene, wie ausgehungert dünne Frau folgte auf ihn, mit sturem, krankem Blick und rot entzündeten Wangen, auch mit roten Flecken auf der Hand und am Arm, in der Hand verschiedene Medikamente und ein Glas Wasser, wollte mich zwingen, die Medikamente zu schlucken, aber auch sie stiess ich weg. Irgendwie gelang es mir, meine Agenda auf einem Tisch neben dem Bett zu erblicken, ein Telephon daneben, die Telephonnummer meiner ältesten Tochter, nach vielen Versuchen, die nicht gelangen, zu suchen und zu wählen, ich gab nicht auf, bis ich klingeln hörte, dann ihre Stimme erkannte. Ich war überzeugt, dass ich in ein Gefängnis in die UdSSR gefahren worden war, auch dass ich fliehen wollte. Auf welche Weise ich mit meinem Gestammel dies meiner Tochter mitteilte, weiss ich nicht, aber irgendwie verstand sie, wie ich die Lage empfand, und gegen Abend stand sie vor mir. Ich erinnere mich, dass sie mir sagte, es sei kein Gefängnis, ich befände mich in einer guten Klinik auf dem Land, ich solle keine Angst haben, und wenn es dann wirklich nicht gut sei für mich, würde ich wieder herausgeholt werden.
Während drei Tagen liessen alle Pfleger und Pflegerinnen mich in Ruhe. Nur Essen und Trinken trugen sie herein, wovon ich ausser Brot, Wasser und Früchten nichts erkannte und nichts ass. Am zweiten Tag trat ein Arzt ins Zimmer (er hatte ein empfindsames Gesicht, wie ein trauriger Künstler kam er mir vor). Er brachte mir ein Blatt Papier, worauf er die Namen und Behandlungsfunktionen aller Medikamente aufgeschrieben hatte, die zu schlucken ich mich weigerte. Ich weiss noch, wie ich zu lesen und zu verstehen versuchte, wie dies in keiner Weise gelang, aber seine geduldige Freundlichkeit beruhigte mich. Von jenem Abend an schluckte ich die Medikamente, die mir dreimal täglich verabreicht wurden – ausser die Schlafmittel. In meinem Kopf spürte ich gegen den Abend einen stark anwachsenden Schmerz, der am heftigsten und voller Hitze in den Nachtstunden war, wie ein brausender Vulkandruck. Auf keinen Fall wollte ich durch Schlafmittel weggleiten, ich wollte meinen Kopf unter Kontrolle halten, qualvoller Austausch mit mir selber, immer zwischen Seele und Körper, zwischen qualvollen Empfindungen von Schmerz und Verlorenheit wie von Verlässlichkeitsproben mit meinem eigenen Ich.
Neben dem grossen Raum mit den gefängnisartigen Fenstern, in welchem mein Bett, mein Tisch und ein leeres Bett standen, war ein geschlossener dunkler Raum mit Toilette, Wasserecke mit einem Vorhang und eine zusätzliche Wassereinrichtung, darüber ein Spiegel. Dort erblickte ich ein Gesicht, das mich betrachtete, ein zerfallenes, durchsichtiges Gesicht mit eingefallenen Augen voller Aufmerksamkeit und voller Starrheit, ein fremdes Gesicht. Ich empfand mein Ich irgendwie in mir mit mir vereint, konnte aber dieses Gesicht nicht als mein Gesicht erkennen. Mein ganzer Körper war mir fremd, es war eine alte, trockene Haut wie feines Papier, darunter Knochen. So fremd war mein Äusseres mir nach der Zeit nahe dem Tod geworden. Und das Innere dieses Körpers? Was ich wie einen Stein in mir loswerden musste auf der Toilette? Es war eine stundenlange rissig-schmerzliche Arbeit, wie eine Geburt ohne Geburtshilfe, nach welcher ich voller Verletzungen war, die Monate brauchten, um zu heilen.
Nach drei Tagen war ich bereit, die mir auf einer Liste vorgelegten Therapiestunden probehalber zu besuchen. Aber wie? Ich weigerte mich, mich in einen Fahrsessel zu setzen, aber gehen konnte ich nicht. Ich versuchte, mich irgendwie vorwärt zu schieben, den Wänden entlang, gestützt auf den Arm eines Pflegers oder auf einen rollenden Halt. Wenn die Stunden mir nicht behagten, gelang es mir irgendwie, Widerstand verständlich zu machen. Immer deutlicher wurde mir bewusst, dass ich zwar denken konnte, aber nicht mehr in der Lage war, das Denken auf verständliche Weise zu übersetzen. Einzelne Wörter aus verschiedenen Sprachen vermischten sich bei den Sprechversuchen, unklar und unverständlich war, was ich ausdrückte. Sprache und Körper waren in einen Abgrund gefallen.
„Wo nur finden die Worte
die Erhellte vom Erstlingsmeer
die Augen-Aufschlagenden
die nicht mit Zungen verwundeten
die von den Lichter-Weisen versteckten
für deine entzündete Himmelfahrt
die Worte
die ein zum Schweigen gesteuertes Weltall
mitzieht in deine Frühlinge –
Immer noch um die Stirn geschlagen
den strengen Horizont der Krankheit
mit dem rasenden Aufstand des Kampfes –
die Rettungsleine in den Abgrund geworfen
das Nacht-Ertrinkende zu fassen –
O-A-O-A-
ein wiegendes Meer der Vokale
Worte sind alle abgestürzt – „[7]
Auf die in mir sich entwickelnde eigene Therapie mit meinen ständigen Anstrengungen, gegen die – häufig hoffnungslose – körperliche Verlorenheit und Sprachlosigkeit irgendwie heilend einzuwirken, kann ich nicht eingehen. Sie wurde getragen und war geprägt von bildhaften Vorstellungen, über welche ich in der methodischen Einleitung sprach. Um zu verstehen, wie massgeblich es für mich war, kindheitsnah und mit Annäherungen an viele Lebensgeschichten irgendwie mäanderhaft wiederholte Verlusterfahrungen durch Erinnerung mit den vielen des Augenblicks zusammenzuführen und die immer wieder erlebte eigene Heilungskraft so in mir zu finden, sie zu wecken und irgendwie einzusetzen, bedürfte ich tage- und nächelanger Schiderungen während Wochen. All dies begleitete mich. Das Bild des Fächers wurde in mir wach, irgendwan jenes der dringend benötigten Brücke. Übrigens war es nach wenigen Tagen in jener Klinik, dass ich spürte, dass für mich in erster Linie nicht Sprechübungen, sondern Schreibübungen bildhafte Übersetzungsversuche des Denkens und der Empfindungen in Worte ermöglichten, und ich nahm den Versuch auf und ging ihm täglich stundenlang nach, übte zu schreiben, hielt nach und nach Wichtiges in Zusammenhängen fest und fuhr damit tagebuchartig fort. Das erste Mal brauchte ich für wenige Zeilen viele Stunden, beinah einen Tag, völlig erschöpft fühlte ich mich. Ich schrieb, krumm und geborsten, in eng ineinander verwickelten Worten:
„Pif-Pav-Puv. So war das Leben.
Plötzlich eine unklare Zustimmung. Alle Klarheit
Unklar. Leben? Tod?
Was wurde mir vorgegeben? Eine wunderbare
Erfahrung des Wegfallens. Kurz und ohne sichtbare
Geschichte. Leben oder nicht mehr leben, das
Musste das unklare innere Entscheiden übernehmen.
Für vier Kinder habe ich alles als zeitlose Erfahrung
Des Zukurzkommens, der Schwierigkeit, der Erfahrung
Des boshaften ins Auge gefasst und ausgehalten,
und nun ist es für sie gut. Sie boten mir die
klare Angabe des weiteren Lebens.“
Die Begrenztheit des Lebens wurde mir bewusst, abhängig vom „geheimen Kopf“, diesem cerebralen Labyrinth, gewiss, bei mir voll dunkler Blutgerinsel, wie ich später auf den MRI-Bildern meines Kopfes sah, und zugleich – das ist das Geheime – gelenkt von der konstanten Kraft der Seele.
Als ich mit mir selber wie in einer verborgenen Schule zu arbeiten begann, erst über den Versuch zu schreiben, war ich gleichzeitig bereit, Logopädie-Übungen zuzustimmen, mit einer jungen Frau – da ging es um einfachste Lese- und Übersetzungsarbeiten von Bildern – und mit zwei jungen Männern, von denen der eine während langer Zeit kaum gelingende, schwierige Wortfindungen resp. Worterklärungen auch durch das Anschauen von Bildern mit mir pflegte, der andere meinen Wunsch unterstützte, zu versuchen, ein Neurologie-Lehrbuch zu lesen (das mir Balthasar, mein ältester Sohn, gebracht hatte). Ich wollte irgendwie verstehen, was mit meinem Kopf geschehen war, ein anfänglich beinah unmöglicherVersuch, voller Verzweiflung von Wort zu Wort und von Linie zu Linie, tagelang auf mühsame Weise den gleichen Absatz auf einer Seite wiederholend, die mich wegen der Bilder von Gehirnuntersuchungen faszinierte, ohne dass ich das Geringste aus dem Text verstehen konnte. Wochenlang begann ich immer wieder von neuem. Auch Körperbehandlungen liess ich zu, Gehübungen mit einem empfindungsmässig arbeitenden, verträumten jungen Mann voller Fragen, und zum anderen Rückenmassagen, die durch einen kaum viel älteren, ebenso intuitiven Spezialisten ausgeführt wurden. Als ich das erste Mal vor ihm stand, betrachtete er mich aufmerksam und fragte mich, ob ich Tänzerin sei. „Ja“, sagte ich irgendwie, lachend und erfreut, „aber nicht ganz“.
Tag für Tag versuchte ich, meinen Fächer sorgsam weiter zu öffnen, damit die wenigen geöffneten Teile sich um die zusammengebrochenen oder verschraubten kümmerten, spürte langsam, aber zunehmend, wie viele Teile, auch welche noch verschlossen waren, fühlte mich erschöpft von der ständig erforderten Sorgfalt beim mühsamen Aufheben tief in mir versteckter und das Sprechen verdunkelnder Steine: so viele Empfindungen und sprachlose, klare Erkenntnisse, daraus Aufgaben, neue, erschöpfend schwierige Erfahrungen, manchmal beglückende, dann neue Schritte. Vorweg aufmerksamer betrachtete ich die vielen anderen sprach- und gehunfähigen Menschen, die in der gleichen Abteilung der Klinik untergebracht waren, so unterschiedlich wie Hiobgestalten aus einem merkwürdigen Weltbuch im Exil. Erstaunt und immer wieder leise beglückt war ich durch die mir schreibenden oder mir telephonierenden, immer wieder durch die mich besuchenden lieben Menschen – darunter meine zwei Grosskinder -, aufgewühlt durch meine Ungleichheit mit ihnen wie durch deren liebevolle Nähe zu den Kindern, zugleich deren Nähe völlig angstfrei zu mir, zugleich auch immer wieder belastet durch meine unfreie Abhängigkeit.
Ende Jahr bedeutete Ende des Jahrhunderts, die Genealogie erschien ausgeliefert dem unvergleichbaren Sturm, der grenzenlos tobte; die Welt, die ich von meinem Zimmer aus sah und von der ich durch Telephongespräche hörte und erstaunlich vieles verstand, wurde zum erschlagenen Spielzeug, durch welches hindurch meine Kinder zu mir kamen und sich mitten hindurch wieder zurückbewegten und überlebten. Ein teilweise heruntergeschlagener Baumwipfel wurde zum Symbol meines Kopfs.
Damit will ich für heute beenden. Nach drei Monaten verliess ich die Klinik. Kurz vorher musste ich eine Autofahrprobe in diesem mir fremden Kanton machen, einen Tag später eine MRI-Untersuchung im Kantonsspital aushalten und abends einen ersten Vorlesungsversuch wagen, über „Zeitverhältnisse“, vor dem medizinischen und therapeutischen Personal, um zu prüfen, wie weit es mir sprachlich gelingen würde, diese Versuche einer Übersetzung des Denkens und Empfindens in Sprache zu vermitteln. In den letzten Wochen, in denen ich in der Klinik weilte, hatte ich auch begonnen, mich um eine seit vielen Monaten unter Aphasie und Gehunfähigkeit leidende jüngere Frau zu kümmern, immer nur minutenlang, aber nah und intensiv, bis sie es schaffte, mich anzulächeln und erstmals mit abgrundtiefer Stimme ihren Namen zu nennen.
Die Kenntnisse und Wortbezeichnungen der praktischen Lebensgestaltung, vor allem der technologischen alltäglichen Zusammenhänge, kehrten nur teilweise zurück, aber die vielfache berufs- und beziehungsmässige Sprache in einer allmählich wunderbaren Fülle, als würde ich, in meinem inneren Zeitgefühl langsam, in der Wahrnehmung der anderen Menschen um mich herum – aus dem privaten Leben wie aus dem beruflichen oder gar aus dem öffentlichen – gleichzeitig brausend schnell in der zählbaren äusseren Zeit, mit täglichen Schritten neu geboren. Ich möchte die Schilderung beenden, mit grosser Dankbarkeit für die weite und tiefe Hilfe bei meiner Rückkehr ins vielfach mitteilbare Leben, die ich erfuhr: für das Glück der Genesung.
„Ich schreibe dich –
Zur Welt bist du wieder gekommen
mit geisternder Buchstabenkraft
die hat getastet nach deinem Wesen
Licht scheint
und deine Fingerspitzen glühen in der Nacht
Sternbild bei der Geburt
Aus Dunkelheit wie diese Zeilen-„[8]
Abenas einsame Wanderreise
Aus einem Dorf in der Nähe der Stadt Zürich rief mich vor zweieinhalb Jahren eine Sozialarbeiterin an. Sie sprach von einer jungen afrikanischen Frau, die sich in Suizidgefahr befinde und dringend einer Therapie bedürfe. Ich bot der Patientin noch am selben Tag eine Stunde an, auf welche eine kontinuierliche, intensive Aufarbeitung ihrer psychischen Not folgte, mit wöchentlich je einer oder zwei Stunden, in Phasen akuter Gefährdung mit zwei bis drei Stunden pro Woche, in der schlimmsten Zeit mit täglichen Gesprächsmöglichkeiten. Die Patientin hat keine einzige Stunde ausfallen lassen. Nach eineinhalb Jahren intensiver Behandlung ging es ihr in jeder Hinsicht so gut, dass sie zumeist nur noch einer Stunde pro Monat bedurfte. Als ich jedoch infolge eines Unfalls während vier Monaten nicht erreichbar war, spitzte sich in ihr erneut eine psychische Verängstigung zu, sodass sie unter der lebensalltäglichen Situation in den Tramways und auf den Strassen der Stadt wieder sehr litt, auch die beruflichen Probleme nicht mehr ertrug und kündigte.
Wie kam es zu Abenas Leidensgeschichte? Wie ist der umfassend gute Heilungsprozess zu erklären, wie der Rückfall und wie die spürbar schnelle Wirkung der erneut einsetzenden Therapie?
„die stadt ist der mund
raum. die zunge, textus;
stadtzunge der granit
geschmolzener und
wieder aufgeschmo
lzener text. beiseite-
gesprochen, abgedun-
kelt von der hand: die
ruinen, nicht hier, die
zähnung zählung der
stadt!, zu bergn, zu ver-
berg! die gezähltn, die
mit den weissn gebissn,
die aus den blickn ent-
fernten: die gesperrten.
Maulsprre, mundhöhle
die stadt. “[9]
Ich werde in einem ersten Teil des Vortrags die Geschichte der jungen Frau schildern, wie sie im Lauf zahlreicher Stunden, vor allem am Anfang der Therapie, von ihr vermittelt wurde, oft durch die – manchmal nur während einigen Minuten – spürbare Lebendigkeit der lebenszustimmenden, gesunden Teile der Psyche, die infolge einer Veränderung der Therapiemethode mit der lange zugedeckten Erinnerungskraft wach wurden und die zugleich die im Unbewussten gespeicherte Ursache des qualvollen Schmerzes sich öffnen liessen. Immer wieder setzte sich auch das kindliche Bedürfnis der Patientin nach einer „leichten“, vergnüglichen Stunde um. Der erste Teil der Therapie war geprägt durch abgrundtiefe Verlorenheitsgefühle, die sich erneut, wie vor dem Therapiebeginn, auf suizidale Weise zuspitzten, von der 43. Stunde an sich jedoch veränderten und zu einer sie vorweg verstärkenden psychischen Genesung, zu einer Lebenszustimmung, führten, wobei sich in einer späteren Phase ein weiterer Therapiebedarf entwickelte. Die Schilderung dieses Teils der Geschichte wird der zweite Teil meines Vortrags sein. Im dritten Teil werde ich auf den therapeutischen Genesungsweg der traumatisierten jungen Frau eingehen.
Erster Teil der Therapie
Nach der ersten Stunde hielt ich in meiner Aufzeichnung fest, dass die Patientin, die aus Ghana stammt, aus dem Umfeld einer grossen Stadt am Meer, „wie ein kindliches, angstbesetztes Mädchen“ wirkt, „klein, dünn, einwärtsgerichtet, die Schultern nach vorn zusammengefallen, schwacher Tonus, spricht gut Deutsch, aber mit sehr leiser Stimme“. Sie kam vor 23 Jahren an einem Dienstag zur Welt und heisst daher Abena.
Es war eine Grossfamilie und ein Grosshaushalt, in der Abena aufwuchs, mit Urgrossmutter, Grossmutter und Grossvater, mit deren neun Töchtern (von denen die fünftälteste 1981 oder 1982 starb, wie Abena in einer späteren Stunde berichtet) und zwei Söhnen sowie den zahlreichen Grosskindern, unter denen sie einen anderen Platz einnahm als die übrigen. Ihre nächsten Bezugspersonen waren die Urgrossmutter und die Grossmutter, mit denen sie bis zur Adoleszenz im gleichen Zimmer schlief. Tagsüber musste sie den zwei alten Frauen beim Kochen, Wasserholen und Putzen zur Hand gehen, schon als Kind wie eine geduldete Magd. Der Rest der Familie zeigte weder den Grossmüttern noch ihr gegenüber die geringste Achtung. Abena fühlte sich wertlos, mehrere Cousins und Cousinen plagten oder hänselten sie, ohne dass sie sich hätte wehren können. Sie spürte, dass sie ungleich war und daher in der Familie eine Art Sonderstellung einnahm. Warum dies so war, wusste sie nicht. Sie fühlte sich anders und einsam.
Die Jahre der frühen Kindheit erscheinen ihr verdunkelt und zugedeckt. Die frühesten Erinnerungen, die sie genau schildern kann, gehen auf das siebente Altersjahr zurück. Am frühen Morgen hatte sie schon als Kind täglich die Pflicht, Wasser holen zu gehen, barfuss die schweren zwei Kessel zu tragen. Eines Morgens verletzte sich sich die Füsse mit Flaschenscherben, die überall in der Umgebung des Wohnhauses herumlagen. Einzelne Glassplitter waren so tief unter die Haut eingedrungen, dass sie nicht entfernt werden konnten. Es ergab sich ein schwerer eitriger Infekt. Mehrmals erzählte Abena, wie der infizierte Fuss von den zwei Grossmüttern (einer Urgrossmutter und einer Grossmutter, beide von der mütterlichen Seite) mit einem glühenden Messer und heissem Palmöl behandelt wurden. Die Wunde heilte, aber die Narbe verschwand nie, im Gegenteil, sie wuchs und verhärtete sich mit dem Älterwerden.
In der selben Stunde, als sie das erste Mal von der schweren Fussverletzung erzählte, schildert sie einen Abend, den sie in der gleichen Zeit erlebte und an welchem sie aus irgend einem Grund nichts zu essen erhielt. „Nie konnte ich sagen, was ich brauchte, nie mitteilen, was ich wünschte“, hielt sie fest, doch sie wusste noch immer nicht, weshalb sie dieser Hintansetzung ausgesetzt war. Mit dem Hungergefühl sei sie draussen geblieben, bis spät. Da habe eine Nachbarin Mitleid mit ihr gehabt und ihr eine Banane geschenkt. Als endlich die Mutter – jene Frau, die sie als Siebzehnjährige in die Schweiz kommen liess – von der Arbeit im Spital nach Hause zurückkehrte, sei sie deswegen von ihr geschlagen worden.
Vom achten Altersjahr an besuchte sie nach dem Wasserholen die Schule, legte den Weg ebenfalls barfuss zurück und lernte mit grossem Interesse. Sie war eine gute Schülerin, bekam dafür in der Familie jedoch keine Anerkennung. Ihr Wunsch, nach den ersten acht Schuljahren weiter lernen zu dürfen, vielleicht gar ins Gymnasium zu gehen, wurde ihr verweigert. Mehr als acht Schuljahre wurden ihr nicht zugestanden.
Gegen Ende der Schulzeit – sie war knapp sechzehn Jahre alte – besetzte ein vier Jahre älterer Cousin (der wie sie eine hellere Haut als die übrigen Familienmitglieder hatte) ihr am frühen Morgen den Weg, als sie mit zwei Kesseln unterwegs war, um Wasser zu holen. Er wollte, dass sie mit ihm schlafe. Er bot ihr dafür Geld an. Sie wies ihn von sich, zutiefst erschreckt, beschämt und verwirrt. Als sie vom „Verführungsüberfall“ sprach, in der 18. Stunde, befand sie sich in einer tiefen Depression. Die Stimme war kaum hörbar. Mehrmals fügte sie bei, keinen Wert habe sie je gehabt und keinen Wert habe sie hier, wo sie nun lebe, eine „Schlampe“ sei sie, wie eine Stimme in ihr sie in der Nacht und am Tag herabsetze. Niemandem in der Familie habe sie davon erzählen können. Etwa um die gleiche Zeit, nach dem 16. Geburtstag, begann sie eine Lehre als Coiffeuse, die sie nach einem Jahr wegen der Reise in die Schweiz zur neu verheirateten Mutter unterbrach.
Mit den Grosseltern sprach sie Efe, mit der Mutter auch, sagt sie, überhaupt mit der Familie, mit dem Vater Acan. Von den 16 Sprachen, die in Ghana gesprochen werden, von denen neun in der Schule, die sie besuchte, unterrichtet wurden, auch Englisch, das sie von der ersten Klasse an lernte, erzählt sie in der 36. und 37. Stunde. Ihre Sprachfähigkeit ist erstaunlich. Sie zeigt sich auch im fehlerfreien Deutschsprechen.
Erinnerungen an den Vater, der Acan sprach, sind in der ersten Hälfte der Therapie nur spärlich weckbar. Häufig wiederholt Abena, dass der Vater, als sie klein war, spürbar war, dass er immer wieder nach Hause kam. Er war als landwirtschaftlicher Arbeiter beschäftigt, hat manchmal Gemüse, Obst oder Reis nach Hause gebracht, wie sie erzählt. Nie hat er sie geplagt, immer wieder erwähnt sie ihn als guten Vater, der aber bald einmal, sie weiss nicht mehr ab wann, wie verschollen war. (In der zweiten Hälfte der Therapie tauchen dank der stärkeren psychischen Sicherheit zusätzliche Erinnerungen an den Vater wieder auf. Ich werde darauf eingehen).
Von der Mutter sagt Abena, sie sei zumeist abwesend gewesen. Sie habe als Krankenschwester gearbeitet, entweder in Ghana oder im Ausland. Als Kind sei sie von ihr häufig mit einem Stock geschlagen worden, wie damals, als sie Hunger hatte und von einer Nachbarin eine Banane geschenkt bekam. Wenn die Mutter im Ausland arbeitete, habe sie ab und zu Geld geschickt, sei jedoch nicht einmal an Weihnachten regelmässig nach Hause gekommen. Aber nie hätte sie es gewagt, sie als schlechte Mutter zu empfinden, sie sei einfach die Mutter gewesen. Abena habe sie deswegen geliebt, habe sie auch nicht als besonders feindselig empfunden, bis zur Zeit im schweizerischen Wohnort und bis zu den Ereignissen, auf die ich eingehen werde. Aber selbst in der Zeit der sich erneut zuspitzenden psychischen Not und Gefährdung spricht sie von der Mutter als einer sie zwar plagenden und sie verweigernden Person, doch immer wieder betont sie, dass sie kein Recht habe, dass sich ihre Gefühle deswegen „vergiften“ zu lassen.
Warum spitzte sich die schon in Afrika erlebte Verlorenheit in der Schweiz auf bedrohliche Weise zu?
Als Abena etwa sechszehneinhalb Jahre alt war, schrieb die Mutter aus der Schweiz, sie habe sich wieder verheiratet und habe ein kleines Mädchen geboren. Abena dürfe zu ihr in die Schweiz kommen, um ihr bei der Pflege des Kindes zu helfen. Die Patientin schildert mehrmals, wie sie sich unsäglich gefreut habe, der Mutter endlich nahe zu sein. Sie habe dies als Liebesbeweis und als Auszeichnung empfunden. Bis zur Abreise habe sie auch viel Neid und Eifersucht der Cousinen und der jüngeren Tanten erdulden müssen, die alle so gern in die Schweiz gefahren wären wie sie. Gegen Ende September 1994 verliess Abena die grosse Familie und reiste per Flugzeug in die Schweiz. Am gleichen Tag traf sie in Zürich-Kloten ein. All dies kam ihr wie ein Wunder vor.
Doch die Lebensrealität bei der Mutter stimmte in nichts mit Abenas Erwartungen überein. Zwar sei ihr die neugeborene Halbschwester lieb gewesen, wiederholt sie immer wieder, sie habe am Tag und in der Nacht auf sie geschaut. Selber aber hatte sie nicht die geringsten persönlichen Rechte. Sie durfte weder einen eigenen „Platz“ besetzen, noch erhielt sie für die Arbeit, die sie leistete, einen Lohn. Erneut war sie nichts anderes als die unbezahlte Magd, musste putzen, kochen, das Kind versorgen, die Wäsche waschen und bügeln etc. Die Mutter war aus Berufsgründen abwesend, und wenn sie nach Hause kam, beschränkte sie sich darauf, Abenas Arbeit zu kontrollieren, zu kritisieren und sie herabzusetzen. Sie habe ihr zum Beispiel vorgehalten, sie sei nicht lustig genug, sie unterhalte den Ehemann zu wenig etc. Dieser habe sich in nichts eingemischt, was das Verhältnis zwischen ihr und der Mutter betraf. Abena erinnert sich, dass Träume von Schlangen sich in den unruhigen Nächten dieser Zeit wiederholten, dicke, grosse und dünne Schlangen seien es gewesen und hätten sie bedroht, einmal sei sie schreiend erwacht, weil sie eine Schlange in ihrem Bett gespürt habe. Dass zutiefst verunsichernde, notvolle Sexualitätsängste sie besetzten, sowohl angstvoll verdrängte eigene Lustbedürfnisse wie Ängste vor männlichen Übergriffen, erschien ihr während langer Zeit unverständlich. Allerdings schildert sie, dass sie tagsüber, während der ständigen Arbeit, manchmal Phantasien von schönen Kleidern und schönen Spiegelschränken gespürt habe und noch immer spüre. Diese Phantasien hätten sie auch während der Arbeit bei der Mutter so sehr besetzt, dass sie eines Tages beim Gehen gestürzt sei.
Anfang August 1997 traf die Nachricht aus Afrika ein, die Urgrossmutter sei gestorben, mit 120 Jahren. Der Tod der ihr so nahestehenden alten Frau erschütterte Abena zutiefst. Die Mutter gestattete ihr nicht, zum Begräbnis nach Hause zu fahren. Abena fühlte sich benachteiligt, buchstäblich eingesperrt und in jeder Minute kontrolliert. Sie schildert, wie sie sich immer trauriger und selbstunsicherer fühlte, weil sie weder die Trauer über die fern von ihr verstorbene Urgrossmutter mit der Familie teilen durfte noch einen Beruf erlernen konnte, noch die geringste Möglichkeit besass, anderen Jugendlichen zu begegnen. Eines Tages, als sie neben dem Haus der Mutter Wäsche aufhängte, wie gelähmt vor Traurigkeit, habe eine Nachbarin sie angesprochen und habe ihr geraten, die Sozialberatungstelle des Dorfes aufzusuchen.
In Begleitung der Nachbarin ging sie eines Tages aus dem Haushalt der Mutter weg. Einige Wochen vorher hatte sie einer in Ghana lebenden Schwester der Mutter, Tante Ruby, einen Brief geschrieben und diese gebeten, die Mutter zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Doch statt einer freundschaftlichen Hilfe durch die Tante erfuhr sie Verrat: Die Tante schickte ihren Brief an die Adresse der Mutter in die Schweiz zurück, und diese reagierte darauf mit einer furchtbaren Wut, wie Abena mit tonloser Stimme berichtet. Sie habe sie stundenlang des Betrugs beschuldigt, habe sie schreiend herabgesetzt, verurteilt und habe ihr Rache geschworen.
Abena konnte sich nicht mehr vorstellen, weiterzuleben. Sie versuchte zu sterben, indem sie sich die Adern aufschnitt. So war die Situation, als sie Anfang April 1998 als Notfall zu mir geschickt wurde.
Zweiter Teil der Therapie
Einen sicheren, geschützten Ort der Therapie zu haben, bewirkte, dass es Abena von der vierten Stunde an spürbar besser ging. Sie litt weniger unter Kopfschmerzen und Schmerzen in der Brust, allmählich sorgte sie auch selber dafür, dass sie täglich genügend ass. Vor dem Schlafengehen machte sie die Atemübungen, mit denen ich mit ihr jede Stunde begann. Nachts wurde sie seltener von ängstigenden Träumen geweckt. Noch lebte sie in einem Alters- und Pflegeheim, in welchem sie ein Praktikum absolvieren durfte, wo sie jedoch nicht bleiben mochte, vor allem wegen der Todesnähe der dort untergebrachten Menschen. Wöchentlich besuchte sie an zwei Abenden einen Deutschkurs; sie lernte viel, machte sprachlich grosse Fortschritte, empfand sich jedoch als Aussenseiterin – wie in der Kindheit. Nach einer zufälligen Begegnung mit einem viel älterern Mann bot ihr dieser eine Freundschaft an, begann aber schnell, sie körperlich zu berühren, und sie brach den Kontakt ab. Die Mutter hatte inzwischen noch ein weiteres Kind geboren, wovon Abena indirekt erfuhr, ohne dass sie das Kind je sehen noch das erstgeborene, nun vierjährige Mädchen besuchen durfte. Wie sie an einem Sonntagnachmittags zur Familie fährt, wird sie wie eine gefährliche Einbrecherin weggejagt.
Nach vielen Bemühungen, eine andere Arbeit zu finden, hat sie auf August 1998 eine Art Lehrstelle als Hilfscoiffeuse in Aussicht. Sie freut sich darauf, auch dass sie zur Schule gehen kann. Deutsch spricht sie nun auf hervorragende Weise. Dazu kommt, dass sie eine kleine Einzimmerwohnung beziehen kann. Alle diese äusseren Konstellationen stimmen sie während einigen Wochen geradezu glücklich. Anfang Juli darf sie in einem Geschäft eine Vorlehre beginnen, doch wenige Tage später fällt sie erneut in eine schwere Depression, zugleich in eine Verfolgungsparanoïa, die sie zunehmend besetzt. Sie hört böse Stimmen in sich, die sie beschimpften. Der Blick erscheint mir wie ausgelöscht. Die Sprache ist tonlos. „Ich fühle mich wie Luft“, sagt sie. Sie isst nicht mehr, sie fürchtet sich vor den Tagen und den Nächten. Sie wagt tagsüber zum Beispiel nicht, in einen Tramwagen einzusteigen und kann nachts nicht schlafen, sondern bleibt angstbesetz und alles kontrollierend wach.
Ich biete ihr häufigere Stunden an. Sie darf mich auch nachts anrufen, wenn die psychische Not sie erneut in Suizidnähe versetzt. Ich erwäge eine Hospitalisierung, schildere ihr die sichere Ruhe, die sie dort erleben würde, aber Abena sträubt sich dagegen, angstbesetzt. Die Situation lässt sich durch die wöchentlich dreimalige Therapie wieder zunehmend stabilisieren, sogar ohne Medikamente. Langsam geht es ein wenig besser, obwohl sie eine Aufarbeitung der bösen Stimmen und Blicke, die sie immer wieder spürt, nicht zuläst. Kurz vor der 17. Stunde ruft sie mich an und sagt mit leiser Stimme, sie möge/könne nicht mehr leben. Gegen Abend räume ich ihr eine zusätzliche Stunde ein. Ich spüre, dass die paranoïden Ängste sie keinen Augenblick mehr in Ruhe lassen. Erneut schlage ich ihr vor, sich unter meiner Begleitung in eine sie schützende Klinik zu begeben, dass ein paar Tage Aufenthalt sie erleichtern würden, aber sie wehrt sich heftig dagegen, „nein“, sagt sie mit leiser Stimme und blickt mich an, „ich will Ihnen versprechen, dass ich mich nicht töte“, spricht dann kein Wort mehr, aber die Augen hält sie noch lange auf mich gerichtet.
Wie kann Abena trotz ihrer angstvollen Widerstände ein Stück weitergelangen? Ich spüre, dass es einer anderen therapeutischen Methode bedarf. In der Behandlung Abenas genügen Gespräche weder in der analytischen Couche-Methode noch in der traumatherapeutischen Methode, in welcher die Patientin und die Therapeutin einander auf bequemen Sesseln gegenüber sitzen. Es bedarf einer Methode, die einerseits die analytischen Forderungen erfüllt, die darin bestehen, dass die Umklammerungstaktik des Unbewussten mit klugem Schweigen und einer knappen Technik des intuitiven Fragens gelöst wird, die andererseits jenen Forderungen gerecht wird, die den Heilungsprozess der traumatisierten Psyche stärken. Zusätzlich aber bedarf es neben der Erfüllung dieser doppelten methodischen Regeln einer weiteren Methode, welche dem afrikanischen, spielerischen Erkenntnisprozess gerecht wird. Doch worum geht es? In mir hat sich seit den ersten Therapiestunden eine Vermutung verstärkt, auf welche Abena, hoffe ich nun, mit Hilfe einer beinah kindlichen Therapiemethode selber stossen wird. Ich nehme an, dass sie im Unbewussten eine Schreckenserfahrung verborgen hält, die sie mit dem Verhalten ihrer sog. Mutter in der Schweiz verstärkt spürt und deren heilvolles Erkennen dringend erfordert ist. Die zweite Vermutung ist, dass eine heilende Aufarbeitung der sich wiederholenden schizoïden Nöte – böse Stimmen in ihr, bedrohliche Blicke vor ihr – von Abena nicht zugelassen wird, weil sie gemäss alter afrikanischer Traditionen auf nicht aussprechbare Weise annimmt, diese seien die mit dem Rachefluch der „Mutter“ verbundene Wirkung einer unausweichlichen Voodoo-Bedrohung. Ihr Blick teilt mir jedoch auch mit, dass sie mir eine Art Gegenkraft zuteilt. (Erst in der dritten Therapiephase wird es möglich sein, auf die zweite Vermutung einzugehen, nachdem sie feststellt, dass ich einen lebensbedrohlichen Unfall, den sie eventuell in diesen Zusammenhang hineinversetzt, gut überlebt habe).
Wie gehe ich vor? Zu Beginn der 18. Stunde frage ich Abena, was sie davon halte, wenn wir fortan auf dem Teppich am Boden sitzen und nach und nach die Familie aus Afrika auf einem grossen Blatt Papier aufzeichnen, resp. eine Art Bild von dieser schaffen, auf welchem es um die genaue Darstellung der Zusammengehörigkeit, der Reihenfolge und der Abhängigkeit gehe, und wenn wir gleichzeitig den Namen jedes einzelnen Menschen separat festhalten, je auf einem einzelnen kleineren Blatt. Abena zeigt sich sehr einverstanden, sie lacht sogar, ich spüre eine psychische Erleichterung, und wir beginnen noch in der gleichen Stunde. Von der 19. Stunde an sitzen wir im Therapieraum am Boden auf dem Teppich, und sie beginnt, Namen zu nennen und die spezifische Eigenheit jedes und jeder Einzelnen zu schildern. Sie fängt erneut bei den Urgrosseltern an, fährt mit den Grosseltern fort, dann mit deren zahlreichen Töchtern und Söhnen, von denen die meisten zusammenleben. Ihr Vater stammte aus einem weit entfernten Dorf, dessen Vater war eine Art Prinz gewesen, sagt sie, auch dessen Mutter war wichtig und freundlich. Abena erinnert sich, dass sie als Kind mit ihrem Vater an einem Fest teilnehmen durfte. Jeden Namen schreibe ich neben ihr auf den grossen Bogen gemäss der Familienordnung nieder, sie wünscht, dass ich dies tue, und es entsteht nach und nach eine Art Fächer, der sich vom Grosselternpaar aus öffnet, unter welchem die Namen deren Eltern, d.h. der Urgrosseltern, stehen, und über welchem jede Tochter und jeder Sohn mit den Ehemännern oder den Ehefrauen und deren Kindern, zu denen auch Abena und deren vier Jahre jüngerer Bruder gehören, aufgeführt werden. Jeden Namen halten wir zusätzlich auf einem kleinen Blatt einzeln fest. Wenn Abena von einem Familienmitglied spricht, wählt sie das entsprechende Blatt und hält es in der Hand. Wir kommen von einer Stunde zur anderen ein Stück weiter im Aufarbeiten der Herkunftsgeschichte, obwohl häufig die aktuellen Tageserlebnisse im Vordergrund stehen, zum Beispiel die Schwierigkeiten mit dem Sohn des Coiffeurs, bei welchem sie arbeitet, den sie schlecht erträgt, weil er ihr aufdringlich erscheint und die Erinnerung an den Cousin wieder weckt. Wie wir die 24. Stunde beginnen, spüre ich erneut eine schwere Depression. Wieder spricht sie mit leiser Stimme. „Immer diese Blicke, kein innerer Halt. Irgend etwas ist an mir nicht in Ordnung, immer spüre ich dies“. Gegen Ende der Stunde frage ich sie, was sie tun würde, wenn sie einem mutterlosen Kind begegnen würde. Sie sagt, sie würde aufs Kind aufpassen und es gern haben.
Von der 26. Stunde an möchte sie wieder im Sessel sitzen. Sie berichtet nach längerem Schweigen, sie sei von der Bezirksanwaltschaft einvernommen worden, ihre Mutter streite nämlich die Mutterschaft ab. „Das gehört zur Rache, die sie nach meinem Hilfegesuch an Tante Ruby geschworen hat“, sagt sie leise. Plötzlich bemerkt sie mit einem merkwürdig lächelnden Mund und einem Ton der Verzweiflung: „Ich möchte doch wirklich wissen, wer meine Mutter ist, nachdem meine Mutter behauptet, nicht meine Mutter zu sein.“
Die darauf folgenden Stunden sind extrem unterschiedlich. Sie schildert die Befragungen, denen sie bei der Bezirksanwaltschaft ausgesetzt ist, als gingen ihr diese nicht nahe. In der 28. Stunde erscheint sie wie ein Kind in einem kurzen Kleid, auch hat sie ihr Haar rötlich gefärbt, und was sie stundenlang schildert, hat mit den Schulstunden zu tun, die sie mit vielen Jungen und zwei weiteren Mädchen aus verschiedenen Ländern teilt, Rechnen und ein wenig Buchhaltung, Aufsätze schreiben, ein wenig Schweizerkenntnis. In der 29. Stunde geht Abena auf einen Traum ein. Sie träumte, dass sie hier in der Schweiz in ein Haus ging, um alles zu holen, was ihr gehört. „Geh weg“, habe eine Stimme geschrien. Abena fährt sehr aufgeregt fort, dass sie noch immer eine andere Stimme höre, die in ihr drin leise, aber deutlich sagte: „Die böse Frau kommt und schlägt dich, wenn du nicht sofort weggehst“. Die böse Frau sei auf sie zugekommen, unerkennbar, eine wilde Art Perücke auf dem Kopf und habe versucht, sie am linken Arm zu schlagen. Es sei ihr gelungen zu fliehen. Ihre Tasche habe sie mit sich getragen und sei zur Nachbarin gelangt. Diese habe ihr gesagt: „Dort gibt es eine böse Frau“. Daraufhin sei sie erwacht und habe festgestellt, dass sie kein Brot mehr habe. In jeder Hinsicht schmerzte sie der Hunger. – Ich frage sie, ob in der linken Hand das Herz sich spürbar mache, und sie nickt. Dann, langsam, ob die böse Frau, die im Traum als hier in der Schweiz erscheine, die Frau sei, von der sie als Mutter gesprochen hat? Abena verschliesst sich. Sie steht auf, ist unruhig.
Von der 30. bis zur 34. Stunde spricht sie erneut, immer wieder, von den „Stimmen“, die sie hört, von den schlechten „Blicken“, die sie ansehen und sie fixieren, von den „Beleidigungen“, die ihr bei der Arbeit und sogar von den Mitschülern und –schülerinnen angetan werden. Die Ängste wirken sich jedoch weniger bedrohlich aus. Sie kann sie schildern und fühlt sich nachher leichter. Wenn wir uns im Gespräch in die Nähe der sie verfolgenden Blicke und Stimmen bewegen, verschliesst sie sich weiterhin, als sei die Klärungsarbeit nach wie vor bedrohlicher als die Stimme und die Blicke, weil diese verboten sei. Sie bringt drei von ihr gezeichnete und zum Teil bemalte Bilder in Kartengrösse mit, in denen sie auf abstrakte Weise die doppelte Empfindung ihrer Herkunft wiedergibt: die eine zeigt nach unten, die andere nach oben.
Kurz vor der 33. Stunde ruft mich der Arbeitgeber an, bei dem sie für die Therapie jeweils um eine freie Stunde bittet. Er äussert sich spöttisch über ihre „schwerwiegenden Bildungsmängel“. So behaupte sie, jeder Tag werde zur Nacht, weil die Sonne im Meer versinke. Sie verstehe auch nicht, mit Messer und Gabel zu essen. Sie sei kindisch geblieben. Ich nehme an, dass Abena sich täglich wie in der Kindheit missachtet fühlt, auch rechtloser als alle anderen Menschen um sie herum. In der bald darauf stattfindenden Stunde sagt sie: „Etwas in mir ist verlorengegangen. Ich muss es wiederfinden. Dann werde ich befreit sein“. Ist es die innere, die Seele wärmende Sonne? Nach einer Weile der Stille nehme ich das grosse Blatt mit der fächerartigen Darstellung der ganzen Familie in die Hand, lege es zwischen sie und mich auf den Boden, sodass sie es klar vor sich sieht. Ich weise auf ihren Namen und jenen ihres vier Jahre jüngeren Bruder hin, die unter dem Frauennamen stehen, die sie als „Mutter“ bezeichnet, ich mache mit einem Bleistift einen Bogen um die zwei Kindernamen und füge langsam einen feinen Pfeil bei, der auf die Tochter der Grosseltern hinweist, Dora, die im gleichen Jahr starb, in welchem Abenas Bruder zur Welt kam. Ich spüre, dass Abena aufgewühlt auf der Familienordnung verweilt. Sie ist still, wie weggerückt und zugleich unruhig.
Von der 37. Stunde an spricht sie erneut immer wieder vom Vater, wie er gut war, Reis und anderes Essen in die Familie brachte. Sie möchte nach Ghana reisen und ihn suchen gehen. Vom Gefühl her ist sie sicher, dass er noch lebt. Ihre Situation in der Schweiz wird schwieriger. Der Arbeitgeber hat von der Fremdenpolizei eine Meldung erhalten, dass sie in drei Monaten die Schweiz verlassen müsse. Abena sagt mit bitterer Stimme: „Nun hat die Mutter gegen mich gewonnen. Es ist mein Schicksal, dass immer die anderen gewinnen. Wie kann ich nach Afrika zurückkehren, als Verliererin?“ Ich schlage ihr eine Anwältin vor, die sich in juristischer Hinsicht um ihre Rechte einsetzen kann.
In der darauffolgenden Stunde, der 40., bringt sie eine Kopie der fremdenpolizeilichen Verfügung mit und sagt, indem sie mich anschaut, sie wolle sich „vom Negativen der Mutter nicht vergiften lassen. Sie hat mir das Leben gegeben und dazu die Milch, aber nicht die Luft. Diese habe ich von Gott. Solange sie mir die Luft nicht nimmt, kann ich leben“. Geht die Genesung voran? Erneut erzählt sie von Schlangenträumen, die sie schon hatte, als sie ein Kind war, und dass sie unter Kopfschmerzen litt, als sie noch bei der Mutter hier in der Schweiz eingeschlossen war. Aber nun sei sie all dies los. Sie sagt, die Anwältin wirke stark. Ich erwähne deren Anfrage an mich, für den Rekurs als Therapeutin einen Begleittext zu verfassen, wegen des Zeitdrucks innerhalb weniger Tage. Abena ist sehr einverstanden und ich schlage ihr vor, dass wir diesen in der 43.Stunde miteinander durchprüfen.
Wieder sitzen wir auf dem Teppich am Boden. Meinem für den Rekurs geschriebenen Text stimmt sie auf spürbare Weise zu, korrigiert bloss zwei Daten. Während dieser Arbeit liegt zwischen ihr und mir das Blatt Papier mit den aufgezeichneten Familienmitgliedern. Plötzlich schaut sie mich an und sagt mit zögernder Stimme: „War vielleicht Dora, die 1981 oder 1982 starb, meine richtige Mutter? Meine Mutter?“ Sie blickt mich an, spürt in sich vermutlich eine wachsende Sicherheit durch den Ausdruck meines Gesichts und fährt mit langsamen Worten fort: „So weiss ich, wer meine Mutter war. Ich hatte ich eine gute Mutter“. Nachdenklich und still ist sie.
Plötzlich versteht Abena, dass sie als Kind den Tod der Mutter weder akzeptieren noch verarbeiten konnte. Dass sie ihn verdrängte. Dass sie daher die Tante, welche die stellvertretende Mutterpflicht übernahm, wie dies in Afrika üblich ist, psychisch nicht als Stiefmutter-Tante, sondern als lebendige Mutter einordnete. Dass diese Tante die Folgen der Traumatisierung, die der Tod der Mutter bewirkt hatte, missbrauchte, sie zur rechtlosen Magd machte und sie durch die Unwertbehandlung zutiefst traumatisierte. Obwohl sie dadurch ihre tief verwurzelte psychische Freiheit beinahe verlor, gelang es ihr, die Mutter-Tante zu verlassen und ein eigenes Leben zu wagen, mit Hilfe der Traumatherapie auch ein geschütztes Leben, worauf sie von der Mutter-Tante des Verrats angeklagt wurde und erneut eine weitere Traumatisierung erlebte.
Was bewirkt das Erkennen der dreifachen Traumatisierung? Erneut ein Abgleiten? Langsam geht die Besserung voran. In den nächsten Stunden gelingt es Abena immer wieder, in die Zeit zurückzugelangen, als der Bruder zur Welt kam und Dora, die Mutter, im Krankenhaus lag. Ein Erlebnis tritt in der 44. Stunde aus dem Erinnerungsfeld, das im Unbewussten verborgen ist, langsam heraus. „Einmal sind die Urgrossmutter, die Grossmutter und ich in die Stadt gefahren, wo Dora in einem Spital war. Wir übernachteten im Raum von Patricia, einer Tante, die als Polizistin arbeitete. Ich durfte nicht zur Mutter gehen, durfte sie nicht sehen. Ich glaube, innere Blutungen, schwer angeschwollene Beine, ja, und – so muss sie gestorben sein“. Wie die Erinnerung das erste Mal sie wieder auf konkrete Weise den mütterliche Tod spüren lässt, wirkt sie wie ein Kind, schüchtern und klein. Doch sie weiss auch, dass sie die Verlorenheitsgefühle nicht mehr verbergen muss. Wie sie kurz darauf an einer schweren Angina erkrankt und während vielen Tagen im Bett liegen bleibt, sorgt sie für sich „wie eine Mutter fürs Kind“, sagt sie mir, so wie sie ihr wieder erscheint.
Dritter Teil der Therapie
Als ich im vergangenen Winter nach überstandener Krankheit noch in der Klinik weilte, rief Abena mich eines Tages an und teilte mir mit, sie habe in einem amtlichen Brief erfahren, dass sie dank des Rekurses einen B-Ausweis erhalten habe. Vor Freude möchte sie ein grosses Fest feiern. Ihr Fest sei, mir dies mitzuteilen und zugleich zu wissen, dass ich wieder gesund werde.
Erneut rief sie mich im Frühjahr an, als ich die Arbeit wieder aufnehmen konnte, und bat mich um eine Stunde. In der Praxis erklärte sie, sie fühle sich erneut von inneren Stimmen und äusseren Blicken geplagt. Auch habe sie beim Coiffeur, der sich unhöflich benommen habe, die Arbeitsstelle gekündigt. Sie suche zwar eine neue Beschäftigung, aber sie habe vor allem das Bedürfnis, sich in der Wohnung einzuschliessen, um sich vor den bösen Blicken zu schützen. Ich frage sie vorsichtig, ob sie bereit sei, dass wir näher über die Voodoo-Macht sprechen, der sie sich immer wieder ausgesetzt fühle. Im Gegensatz zu den früheren Phasen stimmt sie sofort zu und betont nochmals, wie froh sie über meine Rückkehr in die Praxis sei. Ich spüre, dass diese Rückkehr auf besondere Weise auf sie wirkt, dass sie ihrer Angstbesetztheit dadurch leichter zu begegnen vermag, dass sie sogar bereit ist, der afrikanisch-religiösen Ohnmacht und der Ausgeliefertheit der strafenden Voodoo-Macht mit einer Haltung zu begegnen, die sie in mir spürt. Sie erzählt gleich zu Beginn, dass sie im ersten Jahr, als sie hier in der Schweiz war, gemeinsam mit der Tante (damals noch der Mutter) am Rand eines Zirkusmarktes vor dem Stand einer Zauberin stand. Diese habe sofort den Blick auf sie gerichtet und habe sie aufgefordert, die linke Hand ( wieder die linke Hand, wie im Traum sie auf den linken Arm geschlagen wurde) in einen Apparat zu legen. Nach einigen Minuten wurde ein Blatt Papier ausgedruckt, worauf ihre Zukunft mitgeteilt wurde. Aber nicht sie durfte erfahren, was ihr bevorsteht, sondern die Tante ergriff das Papier und versteckte es. Abena ist überzeugt, dass sie es benutzt hat, um die Voodoo-Mache gegen sie wirken zu lassen, nachdem sie ihr eine Rache angedroht hatte. Ich frage sie mit Sorgfalt, ob eine seit Jahrhunderten, vielleicht seit Jahrtausenden umgesetzte Beherrschung von Menschen, insbesondere von menschlichen Notzuständen, nicht endlich als Machtmissbrauch aufgedeckt werden solle? Ob sie sich vorstellen könne, sich vom Glauben an diese Macht zu befreien, so wie sie sich von der bösen Tante befreit habe? Erstaunt schaut Abena mich an, hebt die Schultern. Nach einer Weile lächelt sie und blickt mit weit geöffneten Augen, mit einer nicht aussprechbaren Zustimmung nicht nur auf mich, sondern, wie ich spüre, auf ihren eigenen weiteren Weg.
Schlussbetrachtungen
Damit begann der letzte Teil der Therapie, der vermutlich in absehbarer Zeit abgeschlossen sein wird. Abena konnte wieder eine Arbeitsstelle finden, wo sie sich wol fühlt. Noch ungeheilt ist ihre Angst vor jeglicher Liebesbeziehung mit einem Mann, da sie den in der Kindheit erfahrenen persönlichen Übergriff des Cousins auf sie mit ihrer persönlichen Wertlosigkeit verbindet. Ihre Individualität, ihre Weiblichkeit wie auch ihre weibliche Sexualität fühlte sie nur mit Herabsetzungen verbunden, deren Heilung zum Teil erfolgen konnte, zum Teil noch nicht. Noch immer legt sie jedes männliche Interesse an ihr als geplanten Übergriff aus, da beinah jede Erfahrung mit Männern, mit Ausnahme des guten, aber entschwundenen Vaters, mit der Herabsetzung ihres menschlichen Wertes verbunden war. Eine Heilung in diesem Bereich wird durch die in der Schweiz spürbare rassistische Behandlung afrikanischer Frauen erschwert.
Die Therapie schritt während der drei Phasen auf unterschiedliche Weise voran. Sie wurde sowohl von analytischen wie von traumatherapeutischen Methoden beeinflusst, je nach der Verfassung der Patientin. Das Fechersymbol konnte erst in der letzten Phase eingesetzt werden, wurde von ihr jedoch auf aktive, persönliche Weise übernommen. Sie konzentrierte sich auf eine zeichnerisch-malerische Darstellung des Fechers, idem sie auch jeden „Teil“ mit spürbaren Gefühlen, Bedürfnissen, Fähigkeiten etc. bezeichnete, um immer wieder zu klären, was in ihr versteckt, wie „zugeklebt“ war und was sich offen entfalten konnte. Zusätzlich erwies es sich bei Abena als besonders dringlich, die kulturell bedingten afrikanischen Voraussetzungen zu beachten. Das bedrohliche Ausmass ihrer Pathologie beruhte in erster Linie auf der psychischen Verdrängung des frühkindlichen Mutterverlustes, doch zusätzlich auf den Erfahrungen einer traumatisierenden Behandlung durch die als Mutter empfundenen Tante, sodann auf der ängstigenden, spezifisch afrikanischen Internalisierung einer bedrohlichen Voodoo-Macht, der Abena sich ausgesetzt fühlte.
Befreiung davon bedeutet eine wunderbare Erfahrung: einen bedeutungsvollen Einstieg in die menschliche Lebensfreiheit.
[1] Gedicht von Ute Riedl, in: Lyrik der neunziger Jahre, S. 160. Reclam Verlag, Stuttgart 2000
[2] Nelly Sachs. Späte Gedichte, S. 159. Bibliothek Suhrkamp, 1965
[3] zu diesem Zweck wurde die Swiss Recovery Foundation – Stiftung für traumatherapeutische Hilfe STTH gegründet, Zürcher Kantonalbank 80-151-4 Konto Nr. 1100-0490.549 / PC 87-533 482 – 2
[4] Nelly Sachs, a.a.O. S. 159.
[5] Autorin: geb. 1940, 4 Kinder, geschieden; mit 43 Jahren Doktorat in Philosophie (Dissertation über „Eine Logik des Absurden“); lange Jahre gesellschaftsanalytischer und wissenschaftskritischer Arbeit als Journalistin im In- und Ausland, gleichzeitig Ausbildung als Psychoanalytikerin und Traumatherapeutin; neben universitärer Lehrtätigkeit im In- und Ausland und zahlreichen Publikationen psychotherapeutische Praxis in Zürich. Am 1.12.1999 Hirnblutung mit Sprachverlust und schweren Bewegungsproblemen. Wiederaufnahme der Praxisarbeit und Lehrtätigkeit nach vier Monaten, Anfang April 2000 (nach 16 Tagen Koma drei Monate Aufenthalt in Rehabilitationsklinik Ziehlschlacht, Kt. Thurgau/Schweiz).
[6] Joseph Brodsky. Römische Elegien und andere Gedichte, S.43. Fischer Verlag, 1990
[7] Nelly Sachs, a.a.O. S.190-191
[8] Nelly Sachs, a.a.O. S.212
[9] Gedicht von Thomas Kling, aus: Lyrik der neunziger Jahre,Reclam Verlag, 2000; S. 173.