“Handlungen, die wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind. Wie funktioniert das?” oder: Warum hungerte Simone Weil zu Tode?

“Handlungen, die wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind. Wie funktioniert das?”

oder

Warum hungerte Simone Weil zu Tode?

Buchbeitrag für: Imelda Abbt / Wolfgang W. Müller, “Simone Weil – Ein Leben gibt zu denken”, Eos Verlag Erzabtei St. Ottilien 1999, ISBN 3-8306-6997-6

 

Ich hatte 1959 gerade die Mittelschule beendigt, als meine Auseinandersetzung mit Simone Weil begann. Bis heute ist sie nicht abgeschlossen. Meine Schwester hatte mir damals für die Rückfahrt von Paris in die Schweiz ein kleines Buch mit aphorismenartigen Texten in die Hand gedrückt, das unter dem Titel “La pesanteur et la grâce” erschienen war. Was ich las, wühlte mich auf, faszinierte mich und stiess mich ab – die knappen Sätze über das Unglück, über die Leere, über Notwendigkeit, Schuld und Gehorsam, Entwurzelung und Unterwerfung, über die Gottesliebe, nichts aber so sehr wie die Ausführungen über das jüdische Volk und über das Judentum. Das war hasserfüllt, das war blasphemisch. Ich war entsetzt. Zugleich liess mir das Geheimnis dieser Frau und Denkerin keine Ruhe mehr.

Später verstand ich, dass Gustave Thibon in tendenziöser Weise Auszüge aus den Arbeitsheften Simone Weils, die sie ihm vor ihrer Emigration nach den USA anvertraut hatte, thematisch “geordnet” und veröffentlicht hatte. Eine der Folgen dieser – nicht nur wissenschaftlich unverantwortlichen – Veröffentlichung war, dass Simone Weil während langer Zeit fast ausschliesslich von christlicher Seite vereinnahmt, von jüdischer Seite aber empört (oder verletzt) abgelehnt wurde. Es brauchte Jahrzehnte, bis heute, dass ihre Werke in ihrer Ungereimtheit und Widersprüchlichkeit ungekürzt und unzensuriert erscheinen konnten. Die Rezeption erscheint mir allerdings noch immer nach „ideologischen“, insbesondere hagiographischen Kriterien zu erfolgen. Als 1978 Paul Giniewskis Studie über Simone Weils Selbsthass erschien[1], wurde diese kaum zur Kenntnis genommen; allzu vielen, die in blinder Verehrung gewohnt sind, über Simone Weils apodiktische Fehlurteile zur Geschichte und Bedeutung des Nationalsozialismus oder der Person und Politik Hitlers, über ihre Übernahme und Wiederholung antisemitischer Clichés wie über ihre totale Verweigerung der Solidarisierung, des Mitgefühls und Mitleidens mit dem verfolgten, der Vernichtung preisgegebenen jüdischen Volk hinwegzulesen, kam dieses Buch sehr ungelegen. Hagiographien sind bequemer als kritische Studien, die den Versuch wagen, die Disparatheit und Inkohärenz eines faszinierenden Werks zu verstehen. Auch mein 1983 erschienenes Buch, in dem ich es unternahm, der Architektur ihrer zentralen philosophischen Fragen, insbesondere dem labyrinthischen, widersprüchlichen Programm ihrer Theorie des „Entwerdens“ nachzuspüren[2], die ich, trotz ihres Essentialismus und ihrer „Umkehrung“, unter die existenzphilosophischen Versuche einordnete, war für die inzwischen etablierte „Weil-Gemeinde“ mehrheitlich ein Ärgernis. Inzwischen habe ich mich weiter mit den Ungereimtheiten der unglücklichen, ungewöhnlichen Denkerin befasst, als Philosophin und als Psychoanalytikerin, mit dem Ziel, die Ursachen und Umstände für ihre radiaklen Verweigerungen und Leugnungen sowie für ihren masslosen, nicht lebbaren Absolutheitshunger besser zu verstehen.

In meinem Verständnis ist Simone Weil mit Sicherheit eine bedeutende Philosophin, Sozialrevolutionärin und religiöse Denkerin – vor allem jedoch eine Frau, die, unbeheimatet in ihrem Geschlecht und in ihrer jüdischen Herkunft, die innere Zerrissenheit ihrer Existenz nicht aushielt. „Zerrisenheit“ und „Unbeheimatetheit“ sind keine psychoanalytischen Begriffe, doch ich werde sie benützen, um die sich kumulierenden wesentlichen Verneinungen – von Jüdischkeit/Judentum und Weiblichkeit -, den quälend unstillbaren Wissensdurst, dem der relativierende Zweifel fremd war und der sich lediglich „absoluter Wahrheit“ zu bemächtigen suchte, sodann die zwanghafte moralische Strenge, die mit einer Gleichzeitigkeit von extremer Selbstherabsetzung und unerreichbar hohem Ichideal, von lustverweigernder Körperfeindlichkeit und aestethischen sowie spirituellen Idealisierungen einherging, zusammenzusehen: als kreativen Ausdruck eines psychischen Leidens, das mit dem Freud’schen Konzept des „moralischen Masochismus“[3] zum Teil, wenngleich nicht genügend erfasst werden kann, und das in die tödlich verlaufende Isolation und Essensverweigerung einmündete. In der amtlichen Bescheinigung der Todesursache – Herzversagen durch Herzmuskelschwäche, hervorgerufen durch mangelhafte Ernährung und Lungentuberkulose – heisst es: „Die Verstorbene hat sich selbst getötet und zerstört, indem sie sich in einer Phase von Geistesgestörtheit weigerte zu essen[4]“.

Simone Weils Herkunft aus einer assimilierten französisch-jüdischen Familie (elsässich väterlicherseits, galizisch mütterlicherseits) muss in spezifischer Weise, d.h. in Himblick auf das, was „Assimilation“ bedeutete und bewirkte, angeschaut werden.

Simone Weil hat sich selber nicht damit befasst. Sie hat nicht nur ihr Judentum als religiöse Herkunftsbeziehung zu verdrängen versucht, sondern hat auch keinerlei Interesse für die kulturellen und historischen Aspekte der jüdischen Diaspora vor und nach der rechtlichen Emanzipation in Frankreich und generell in Westeuropa aufgebracht, so als ginge diese Geschichte sie in keiner Weise etwas an. Dabei ist gerade die nach der Emanzipation erfolgende jüdische Assimilation der kollektive Nährboden für den folgenschweren jüdischen Selbstwertverlust, der bei Simone Weil – und nicht nur bei ihr, sondern auch bei anderen hoch sensiblen Menschen – zu Selbsthass und Selbstdestruktivität führte.

Im Gegensatz zu Simone Weil hat sich die nur um drei Jahre ältere Hannah Arendt, aus ähnlichem Milieu stammend und der gleichen Verfolgung ausgesetzt, mit der Assimilation und deren psychischen, kulturellen und politischen Folgen verschiedentlich befasst, einerseits historisch, andererseits begrifflich.

Vom Begrifflichen her möchte ich kurz auf Hannah Arendts Ansatz der Natalität eingehen. Denn mir wurde das psychische Verhängnis Simone Weils erst klar verständlich, als ich in einer vergleichenden Lektüre der beiden Denkerinnen feststellte, mit welcher Insistenz Simone Weil die Notwendigkeit, und in der Folge Leiden und Tod zu ihrem zentralen Thema macht, Hannah Arendt dagegen die Freiheit. Während Simone Weil mit ihrer Theorie der „décréation“ das „Entwerden“ untersucht, zugleich als Weg der körperlichen Askese wie als kognitiven Prozess, den eine Erlösungssehnsucht anleitet, geht Hannah Arendt vom Prinzip der Natalität aus zu ihren Theorien des pluralen Zusammenlebens und schafft damit einen Gegenbegriff zur Mortalität.

Natalität heisst Neubeginn, Synonym von Freiheit, während Mortalität die unausweichliche Notwendigkeit bedeutet. Freiheit ist, im Arendt’schen Verständnis, zuerst Befähigung, Fähigkeit zum Neubeginn. Für die konkrete einzelne Existenz bedeutet aber Natalität immer zugleich Neubeginn und unverfügbare geschichtliche Bedingtheit, sodass der Gegensatz zwischen Freiheit und Unfreiheit, der mit Natalität und Mortalität thematisiert wird, schon in der Natalität allein liegt, für alle Menschen, weil sie als Menschen in Geschichtlichkeit hineingeboren werden. Würde allein für die jüdische Herkunft die geschichtliche Bedingtheit behauptet, würde die problematische (rassistische) Annahme einer “ontologischen” jüdischen Differenz, einer sog. „Wesensdifferenz“, übernommen.

In ihrer geschichtlichen Analyse geht Hannah Arendt von der Sehnsucht der unter vielfachen Diskriminierungen leidenden Juden nach (politischer und zivilrechtlicher) Freiheit aus, die mit der rechtlichen Emanzipation endlich eingelöst und garantiert zu sein schien. Doch mit der formalen Gleichstellung verband sich ein enormer Gleichheitsdruck von christlicher Seite, sowie ein Gleichheitsbedürfnis von breiten jüdischen Kreisen aus, dem gerade in Frankreich und in Deutschland breite jüdische Kreise, vor allem aus der Schicht der Intellektuellen und Gebildeten, nachgaben, sei es, indem sie sich taufen liessen, sei es, indem sie einfach die spezifischen religiösen und kulturellen Gepflogenheiten und Bräuche hinter sich liessen. Die Preisgabe der erkennbaren jüdischen Differenz aber führte zumeist nicht zu einer neuen Identität, sondern lediglich zu einer prekären Scheinidentität, wie u.a. Franz Kafka dies auf ängstigende Weise spürte und schilderte.

Am 30. Mai 1920 schrieb Kafka an Milena Jesenska seinen 24. Brief. Er hatte die tschechische Journalistin, die damals verheiratet in Wien lebte, 1919 in Prag kennengelernt. Sie hatte Kafka angeboten, seine Erzählungen ins Tschechische zu übersetzen, was zu einer verzweifelten, nicht lebbaren Liebe führte. Im erwähnten Brief schrieb Kafka: “Die unsichere Stellung der Juden, unsicher in sich, unsicher unter den Menschen, würde es über alles begreiflich machen, dass sie nur das zu besitzen glauben dürfen, was sie in der Hand oder zwischen den Zähnen haben, dass ferner nur handgreiflicher Besitz ihnen Recht auf Leben gibt und dass sie, was sie einmal verloren haben, niemals wieder erwerben werden, sondern dass es glückselig für immer von ihnen wegschwimmt.”

Im November, in seinem 294. Brief, gestand Kafka: “Ich habe eine Eigentümlichkeit, die mich von allen meinen Bekannten nicht wesentlich, aber graduell sehr stark unterscheidet. Wir kennen doch beide ausgiebig charakteristische Exemplare von Westjuden; ich bin, soviel ich weiss, der westjüdischste von ihnen, das bedeutet, übertrieben ausgedrückt, dass mir keine ruhige Sekunde geschenkt ist, nichts ist mir geschenkt, alles muss erworben werden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit, etwas, das doch jeder Mensch vielleicht mitbekommen hat, auch das muss erworben werden, das ist vielleicht die schwerste Arbeit, dreht sich die Erde nach rechts – ich weiss nicht, ob sie das tut – müsste ich mich nach links drehen, um die Vergangenheit nachzuholen. (….) Es ist etwa so, wie wenn jemand vor jedem einzelnen Spaziergang nicht nur sich waschen, kämmen usw.  müsste – schon das ist ja mühselig genug -, sondern, da ihm vor jedem Spaziergang alles Notwendige immer wieder fehlt, auch noch das Kleid nähen, die Stiefel zusammenschustern, den Hut fabrizieren, den Stock zurechtschneiden usw.  Natürlich kann er das alles nicht gut machen, es hält vielleicht paar Gassen lang, aber auf dem Graben z.B. fällt alles auseinander und er steht nackt da mit Fetzen und Bruchstücken. Diese Qual nun, auf den Altstädter Ring zurückzulaufen! Und am Ende stösst er noch in der Eisengasse auf einen Volkshaufen, welcher auf Juden Jagd macht.”

Für Franz Kafka, der sich als den “westjüdischsten aller Westjuden” bezeichnete, erschienen alle Errungenschaften der Assimilation ungeeignet, Sicherheit vor antijüdischen Ressentiments und Angriffen zu gewährenleisten. Was sorgsam zusammengeschustert und zurechtgeschneidert als Besitz aufgebaut wird, was scheinbar Sicherheit verleiht, ist in der schonungslosen, gewöhnlichen Öffentlichkeit, auf der “Gasse”, wie Kafka schrieb, kein genügender Schutz, ist letztlich nichts wie ein Fetzen, unter dem “der Jude” als Objekt der Verfolgung erkennbar bleibt.

Kafka spürte, dass die Assimilation ein Verlustgeschäft ist. Ob es sich um um die Masken der äusseren Erscheinung handle, in der Parabel um Kleid, Stiefel, Stock und Hut, in der gesellschaftlichen Realität um Besitz, um Geld, um Titel, Häuser, um bürgerliche Rechte und Ansehen, nichts schützte wirklich vor den Folgen der tiefsitzenden antisemitischen Aggression.

Kafak schrieb über seine städtischen, der materiellen Sorgen enthobenen Zeitgenossen (zu denen auch die Eltern Simone Weils oder Hannah Arendts gehörten), deren Assimilation an die – bürgerliche Gesellschaft – scheinbar fugenlos gelungen war, die jeden Beruf, jede Karriere ergreifen und ausüben konnten, deren Väter es schon zu wirtschaftlichem oder intellektuellem Ansehen gebracht hatten, die ohne Einschränkungen quer durch Europa reisten, von denen etliche sogar in ihren Ländern in hohen Regierungsfunktionen anzutreffen waren (wie z.B. Walter Rathenau oder Léon Blum) und von denen viele am grossen, eben zu Ende gegangenen  Krieg, dem I. Weltkrieg, an allen Fronten in den Reihen der Deutschen, der Österreicher oder der Franzosen  als Patrioten teilgenommen hatten, wie auch Bernard Weil als Feldarzt, ununterscheidbar von den übrigen Patrioten: jene Generation, die sich ein schönes Kleid – ja eine Uniform (ein identisches Kleid) –  zurechtgeschneidert hat, eine auf den ersten Blick präsentable Gegenwart. Doch letztlich, stellte Kafka fest, ist eine Gegenwart ohne Vergangenheit ein dürftiger Besitz, zumal von der Vergangenheit die Verunsicherung bleibt. Die Assimilation hatte die Verunsicherung nicht aufgehoben, sondern lediglich vom jüdischen Volk auf die einzelnen Individuen überwälzt und diese dadurch noch verletzbarer gemacht.

Bei den Generationen, zu denen Kafka und Zweig gehören, aber auch Simoine Weil und Hannah Arendt, hatten die Urgrossväter zumeist noch die Schmach der Ausgrenzung – das Leben als “Parias” – gekannt, und die  Grossväter die ständig gefährdete Labilität des Ausnahmeerfolgs – die sozialen Bedingungen als “Parvenus”. Es handelt sich somit um Frauen und Männer der dritten und weiteren Generation nach Erlangung der bürgerlichen Rechte, die weder das eine noch das andere mehr sein wollten, weder Parias noch Parvenus, sondern einfach Menschen unter Menschen. Dieser Wille war es, der vor allem ihren Assimilationswillen weiterhin beflügelte, jedoch auch wiederum auf sehr verschiedene Weise. Denn innerhalb der Assmilation gab es viele individuelle Variationen. Es gab  Männer und Frauen, die, wie Kafka, sich ein Leben ausserhalb des Judentums nicht vorstellen konnten, die jedoch unter der “condition juive” litten, trotz aller emanzipatorischen Möglichkeiten. Daneben gab es andere, die gewillt waren, das Judentum über Bord zu kippen wie ein ausgetragenes, schäbiges Kleid, im Glauben an die Kraft der eigenen Definition als Staatsbürger irgend einer Nation, als Europäer, als Mensch. Sie waren bestrebt, sich eine neue Identität zu schaffen, traten, wie schon mehrmals gesagt, zum Christentum über – wie dies schon im 19. Jahrhundert Ungezählte getan hatten, zum Beispiel die Nachkommen von Moses Mendelssohn, oder Rahel Varnhagen, Heinrich Heine, auch die Familie Wittgenstein, aus welcher der Philosoph Ludwig Wittgenstein stammte, um nur einige Namen zu nennen. Wiederum andere bekannten sich als religionsfreie, aufgeklärte jüdische Staats- und Weltbürger, wie zum Beispiel  Sigmund Freud, Karl Kraus, Walter Benajmin, Hannah Arendt und viele mehr. Dabei gerieten viele in einen grossen  und nicht auflösbaren Zwiespalt, indem sie den Schritt zum Übertritt ins Christentum hin und her erwogen und doch vor der Taufe zurückschreckten, so etwa Franz Werfel oder Simone Weil. Einige rutschten selber ins antisemitische Lager, griffen das Judentum an und versteckten sich hinter diesen Angriffen, jedoch selten aus Kalkül und oder aus Anbiederung, zumeist aus quälendem, zerstörerischem  Selbsthass[5], wie etwa u.a. Otto Weiniger, Maximilian Harden, Rudolf Borchardt oder Kurt Tucholsky, und eben auch Simone Weil.

Hannah Arendt hat in ihrem Buch “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft”[6] nachgewiesen, dass die (assimilierten) Juden, indem sie nach der Emanzipation  überall in der Gesellschaft gegenwärtig waren, indem sie zu allen Berufen und Schichten Zugang hatten und in wichtigen Bereichen – im Finanzwesen, im Handel, in der Wissenschaft, im Geistesleben  – Spitzenpositionen einnahmen, dass sie trotzdem von der Masse der nicht-jüdischen Bevölkerung nicht als angepasst und damit als “gleich”, sondern als Konkurrenz und als Bedrohung empfunden wurden. Damit steigerte sich der antisemitische Rassismus zur Volksbewegung, genährt durch pseudo-wissenschaftliche biologische, medizinische und psychologische Theorien und durch populistische Hetzschriften, die schon in den zwanziger Jahren, wie Hitlers “Mein Kampf”, ein unmissverständliches politisches Programm anzeigten.

 

Um zusammenfassend die jüdische Assimilation zu charakterisieren, muss festgehalten werden:

  • In erster Linie war sie eine Forderung der nicht-jüdischen Gesellschaft an die Juden, ihre Erkennbarkeit, ihre Eigenheiten und Bräuche, letztlich die Ausübung ihrer Religion aufzugeben, quasi als als Preis für die Emanzipation, d.h. für die Gewährung der politischen Gleichberechtigung (wenngleich diese Gleichberechtigung – sowohl in Frankreich wie in Preussen – bei veränderter politischer Lage zeitweise wieder rückgängig gemacht wurde). Diese Forderung beinhaltete, dass, wer zur “affluent society” gehören wollte, sich dieser anpassen musste.
  • Die Assimilation war auch ein Desiderat  breiter jüdischer Kreise, ein Bedürfnis ungezählter Männer und Frauen, welche die Schmach der erkennbaren Ausgrenzung, des erkennbaren “Andersseins,  nicht länger ertragen wollten und die bereit waren, für eine schnelle Remedur, das heisst für das “Eintrittsbillet in die Gesellschaft”, wie Heine schrieb, für die Möglichkeit des gesellschaftlichtlichen Aufstiegs jeden Preis zu zahlen und jede Art von Anpassung vorzunehmen. Zum „Preis“ gehörte in den meisten Fällen ein quälender Gewissenskonflikt, der sich in irgend einer Weise – psychisch, politisch, künstlerisch etc. – Ausdruck schaffte.
  • Die Assimilation war noch mehr. Sie war auch das Erscheinungsbild einer aufklärerischen Utopie, eines festen Glaubens, dass mit der Überwindung der Religionen – aller Religionen, nicht nur des Judentums, sondern auch des Christentums -, nicht nur diskriminierende Differenzen verschwänden, sondern der Fortschritt der Menschheit notwendig eintreten.

Von der Jahrhundertwende an liess es sich allerdings nur noch mit geschlossenen Augen an diese Utopie glauben, nur indem die Realität, wie sie war, verdrängt wurde. Was Kafka als seine eigene Angreifbarkeit und Verletzbarkeit diagnostizierte, war ja, wie ich schon sagte, die westjüdische “condition” überhaupt, das heisst die “condition” der damaligen assimilierten, gehobenen jüdischen Schichten in den westlichen Metropolen, insbesondere in Paris, Berlin, Wien und Prag, aber auch in Bordeau und Lyon, in Frankfurt und Leipzig, in Hamburg, Budapest und Amsterdam. Allerdings war Kafka besonders dünnhäutig und misstrauisch. Es war tatsächlich so, dass viele seiner Zeitgenossen mit „geschlossenen Augen“ leben und den Glauben an die Utopie auf keinen Fall aufgeben wollten. Das Ausmass ihrer Gefährdung wurde ihnen erst bewusst, als der verminte Boden, auf dem sie so unangefochten zu stehen meinten, eingebrochen war. So etwa Stefan Zweig, der die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg das “goldene Zeitalter der Sicherheit” nannte, in welchem, wie er schrieb, alles auf Dauer gegründet erschien, wo der Staat selbst oberster Garant der verbrieften Rechte zu sein schien, wie er 1942, kurz vor seinem Freitod im Exil, in seinen Erinnerungen “Die Welt von gestern”, festhielt. In der Zeit seiner Jugend im habsburgischen Wien glaubte er, im Gegensatz zu Kafka und trotz der massiven antisemitischen Stimmung und Manifestationen, an die sicherheitsstiftende, schutzstiftenden Funktion des Besitzes, sowohl des Besitzes an Rechten wie an Vermögen. Er glaubte unerschütterlich an die Kraft der Assimilation, an dieses “immer ungeduldigere Streben, sich einzuleben, sich einzugliedern in die Völker, sich aufzulösen ins Allgemeine, (…) um nur Frieden zu haben vor aller Verfolgung, Rast auf der ewigen Flucht”, wie er schrieb. Zu spät erkannte er, nicht nur er, sondern mit ihm die grosse Zahl der Intellektuellen, der Geschäftsleute, Wissenschafter und anderer deutscher, holländischer, französischer, tschechischer, österreichischer und sonst sich nach ihrer Nationalität bezeichnender Frauen und Männer, die meinten, ihr Judentum längst abgelegt zu haben und “eingeschmolzen zu sein in die anderen Völker”, wie Zweig schrieb, dass sie – buchstäblich – einem u-topos- einem Traum ohne Ort, nachgehangen haben, ja dass sie mit ihrem “immer ungeduldigeren Streben”  alles andere als “Frieden vor aller Verfolgung” ernteten.

Wenn von Simone Weil also gesagt wird, dass sie am 3. Februar 1909 in Paris in einer assimilierten jüdischen Familie zur Welt kam, so muss die ganze Bedeutung der Assimilation mitbedacht werden. Entscheidend für ihre psychische Entwicklung ist sodann das innerfamiliäre Beziehungsgeflecht. Simone Weils Vater, Bernard Weil, war ein praktizierender Arzt, der sich, wie auch ihre Mutter, Selma (Salomea) Reinherz, durch freundliche Bescheidenheit, Fürsorge und Hilfsbereitschaft auszeichnete. Er soll an Epilepsie gelitten haben. Die Biographin Simone Weils, Simone Pétrement, welche die Familie gut gekannt und sorgfältig recherchiert hat, bietet in ihrer grossen zweibändigen Biographie eine Fülle wichtiger Informationen an. So hält sie fest, dass Simones Mutter sowohl ihren Vornamen verabscheut habe wie die Tatsache, dass sie trotz ihrer Begabungen kein akademisches Studium habe machen können. Obwohl – oder gerade weil – sie eine starke und überzeugende Persönlichkeit besass, muss sie darunter gelitten haben, da der einzige Grund für die Diskrimierung ihre Weiblichkeit war. Frau sein hiess für sie, nicht den Beruf wählen und somit den wichtigsten persönlichen Entfaltungswünschen nicht gerecht werden können, da Familie und Gesellschaft es ihr versagten.

Ob sie diese schwerwiegende geschlechtsspezifische Kränkung der Tochter gegenüber aussprach, oder ob eine unbewusste Übertragung weiblichen Minderwerts stattgefunden habe, scheint mir weniger wichtig zu sein als die Tatsache, dass Simone, die während ihrer frühen Jahre häufig kränklich war, ein überempfindliches, hochbegabtes Kind, das aus der mütterlichen Sorge quasi nie entlassen wurde, diesen Minderwert internalisiert hatte, vor allem im Vergleich mit dem drei Jahre älteren Bruder André und dessen brillanter Entwicklung. Sie hielt von sich selbst fest, mit vierzehn Jahren sei sie “wegen der Mittelmäsigkeit ihrer natürlichen Fähigkeiten in eine bodenlose Verzweiflungen gefallen”. Sie habe nicht die äusseren Erfolge ihres Bruders beneidet, aber sie habe bedauert, “keine Hoffnung zu haben, in jenes transzendente Reich vorzudringen, wo nur wirklich grosse Männer Zugang haben und wo die Wahrheit ihren Sitz hat. Ich wollte lieber sterben, als ohne Wahrheit leben.”

Die Tatsache, dass sie ihren Bruder (der später ein berühmter Mathematiker wurde) zum Masstab erkenntismässigen und existentiellen Strebens wählte und dass ihr in der Folge das “Reich der Transzendenz” allein “grossen Männern” vorbehalten erschien, mag die Geringschätzung, später gar die Negation ihrer eigenen Weiblichkeit verstärkt haben.

Sexualität generell muss sie geängstigt haben, muss ihr als etwas „Schmutziges“ vorgekommen sein, als intimste und unkontrollierbarste Körperlichkeit, die sie, entsprrechend ihrer kindlichen Wortbildung, mit „dégoutation“ erfüllte[7]. Gemäss den von Simone Pétrement dokumentierten Aussagen ihrer Mutter soll sie jegliche Umarmung, selbst durch die eigene Mutter, abgelehnt haben soll. Wenn sie Jemand, nach der in Frankreich üblichen Sitte, beim Begrüssen auf die Wangen geküsst hatte, soll sie nach Wasser geschrieen haben. In Simone Weils Familie galt zur Zeit ihrer Kindheit eine eigentliche „Mikrobenphobie“ und die Kinder wurden angehalten, sich ständig die Hände zu waschen. Bei Simone entwickelte sich diese generelle Phobie zu einer zwanghaften Negation ihrer körperlichen Bedürfnisse, die sie später mit der Herrschaft des „je“, des Ich in eins bringt, dessen Zerstörung das eigentliche Programm der „décréation“ ist, wie die Aufzeichnungen in den „Cahiers“ dies unmissverständlich belegen[8].

Dazu kam schon in der Kindheit eine ebenfalls von der Erziehung her geförderte Tendenz zur Verherrlichung des Heroischen, einerseits über die Wahl der Lektüre, andererseits über die zeitbedingten Lebensumstände. Simone Weil war fünf Jahre alt, als der I. Weltkrieg ausbrach, und die Familie passte den Wohnsitz dem Ort der Einberufung Bernard Weils an, damit dieser die dienstfreie Zeit nicht in den Feldunterkünften, sondern zu Hause verbringen konnte. Der Krieg war somit ständig präsent. Simone und André verzichtetn in dieser Zeit auch auf alle Süssigkeiten, sammelten sie in einer Schachtel und schickten sie den tapferen Soldaten ins Feld. Simone Pétrement berichtet auch, dass um 1916 herum –Simone war sieben Jahre alt – die zwei Weil-Kinder beschlossen hatten, selbst in der klirrenden Kälte keine Socken mehr zu tragen,um sich abzuhärten. Abhärtung, ja Abtötung der körperlichen Bedürfnisse waren seit der Kindheit gekoppelt mit moralischem Verdienst, resp. mit einer moralischen Idealisierung der Unlust, ja des Leidens.

Inwieweit die Ablehnung des Körperlichen und Sinnlichen und die damit einhergehende Phobie des „Schmutzigen“ im Unbewussten konnotiert war mit dem antisemitischen Cliché des Juden, ja des Jüdischen überhaupt als „sinnlich“, als „weichlich-weiblich“ und als „schmutzig“ kann nur vermutet werden. Die Auswirkungen nicht nur individueller, sondern auch kollektiver Übertragungen auf die Psyche eines Kindes sind unbestritten. Es ist auffällig, dass parallel zur – schon so früh sich abzeichnenden und später theoretisch „legitimierten“ – Unterdrückung und Leugnung von Körperlichkeit und Sexualität, die sich zur Ich- und Selbstabtötung entwickelte, die Leugnung ihres Judentums einherging. Dabei muss in der frühen Kindheit das jüdische Element über die noch gläubigen Grosseltern väterlicher- und mütterlicherseits gegenwärtig gewesen sein, im Jahresablauf ebenso wie in Geschichten, Erzählungen und „Welterklärungen“. Merkwürdigerweise finden sich jedoch in Simone Weils Aufzeichnungen keine Hinweise oder Erwähnungen. Die bewusste Leugnung kann allerdings nicht verhindern, dass vom Unbewussten her die  Spuren früh vermittelter kabbalistischer Tradition sich gerade in ihrer Theorie der „décréation“, auch in ihrer Spiritualität, Ausdruck verschaffen[9], so dass sie zur Zeugin einer religiösen Lehre wird, die sie willentlich weder akzeptiert noch zu kennen vorgibt.

Beide – völlig verinnerlichten – Negationen müssen einen erschöpfenden Leidensdruck bewirkt haben. Simone Weil setzte diesem ihre Unerbittlichkeit in der Warheitssuche entgegen, die ihr Studium und ihr verzehrendes politisches und soziales Engagement prägte, auch ihren religiösen Weg mystischer Erfahrung auf den Spuren Platons und Jesu, sowie altägyptischer, buddhistischer und hinduistischer Meditationsmodelle. Doch gerade vor dem Hintergrund ihrer – scheinbar rückhaltlosen – Wahrheitssuche bleibt die Zurückweisung ihrer Geschlechtlichkeit und ihrer jüdischen Herkunft, letztlich ihre Abkehr vom Leben doppelt schwer verständlich. Dass sie die Psychoanalyse, selbst die Psychologie als „trügerischen“ Erkenntisweg kategorisch ablehnte, da es dabei ja um die Stärkung des Ich und der Ichfunktioinen über die Erkenntnis des Unbewussten geht, erstaunt daher nicht.

Grossen Einfluss auf ihr Denken übte der Philosoph Alain (Emile Chartier) aus, ihr Mentor während des Studiums. Ihre Forderung nach konsequenter Übereinstimmung von Denken (resp. von moralischem Idealismus) und Lebenspraxis entsprach seiner Lehre. Sie vertiefte sich vor allem in Platon, Descartes und Marx, studierte, diskutierte und kommentierte in eigenwilligen Exkursen aber alle philosophischen, naturwissenschaftlichen und politischen Theorien, auf die sie stiess. Simone de Beauvoir, die gleichzeitig mit Simone Weil in Paris studierte, hielt in ihren “Memoiren einer Tochter aus gutem Haus” fest: “Sie interessierte mich wegen des grossen Rufs der Gescheitheit, den sie genoss, und wegen ihrer bizarren Aufmachung. Auf dem Hof der Sorbonne war sie immer von einer Schar alter Alain-Schüler umgeben. In der einen Tasche ihres Kittels trug sie eine Nummer der ‘Libres Propos’ (Alain’s philosophischer Zeitschrift) und in der anderen ein Exemplar der ‘Humanité’ (der kommunistischen Tageszeitung).

Simone Weil wurde weder die Gefährtin berühmter Männer, wie Simone de Beauvoir, noch strebte sie eine Position von Rang und Einfluss an. Sie verbündete sich ausschliesslich mit den Machtlosen und Armen. Als sie nach dem Studium als Philosophielehrerin in Le Puy angestellt wurde, hielt sie abends für die arbeitslosen Industriearbeiter, deren Demonstrationen sie anführte, Lesungen in griechischer Poesie und in politischer Theorie. Schon damals war sie überzeugt, dass allein Bildung die existentielle Sklaverei der Arbeiter und Arbeiterinnen zu verändern vermag, da Veränderung nur durch das Denken erfolgen kann. “Die einzige subversive Kraft ist das Denken”, hielt sie fest. Der Schuldirektor feuerte sie, und sie empfand die Kündigung wie eine Auszeichnung. Die Sommer- und Herbstmonate 1932 verbrachte sie in Berlin, um die Situation der deutschen Arbeiterschaft zu studieren. Ihre politischen Analysen, die sie noch im gleichen Jahr im Organ der französischen Leher- und Lehrerinnengewerkschaft veröffentlichte, gehören zum Scharfsinnigsten, was kurz vor Hitlers Machtübernahme über die heillose Handlungsunfähigkeit der deutschen Sozialdemokratie und der deutschen Kommunisten, aber auch über das verhängngisvolle Verführungspotential der Nationalsozialisten geschrieben wurde. Auch ihre Abrechnung mit dem zur terroristischen Staatsbürokratie verkommenen Marxismus in der UdSSR war ihrer Zeit weit voraus. Doch weder in Deutschland noch in Frankreich selber untersuchte sie die Zusammenhänge des allgegenwärtigen, ständig sich aggressiver manifestierenden Antisemitismus. Die „Judenfrage“ existierte für sie nur in der Negation. Selbst als ihr infolge der antisemitischen Vichy-Gesetze jede Lehr- und Unterrichtstätigkeit verwehrt wurde, als 1941 Paris zur offenen Stadt erklärt wurde und sie mit ihren Eltern nach Südfrankreich in die unbesetzte Zone fliehen musste, empfand sie all dies in Bezug auf sie selber als beleidigendes Missverständnis, wie ihre Briefe vom Oktober 1940 an das Erziehungsministerium und vom Oktober 1941 an Xavier Vallat, den Kommissar für Judenfragen belegen[10], in Bezug auf die Judenverfolgung generell zwar als „ungerecht und absurd“[11], aber in keiner Weise als unerträglich und verbrecherisch. Dass sie, deren “Herz imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen”, wie Simone de Beauvoir von ihr bewundernd geschirben hatte, dem Leiden ihres Volkes mit keinerlei Mitleiden oder Erschrecken in keiner Zeile gedachte, macht erst das Ausmass der Verdrängung und ihres eigenen Leidens deutlich. Allerdings entschied sie sich in Südfrankreich auch, von Taufe und Kirchenzugehörigkeit definitiv abzusehen, obwohl sie sich vom katholischen Glauben sehr angezogen fühlte. 1941 erreichte sie mit ihren Eltern über Marokko New York. Sie trachtete jedoch danach, so schnell wie möglich nach London zu gelangen, um für die französische Untergrundregierung nützlich zu sein. In deren Auftrag schrieb sie “Einwurzelung”, ihr letztes Werk, in dem sie den Respekt vor den seelischen Bedürfnissen über alle Rechte stellte, gleichzeitig aber eine Art platonischen Ordnungsstaates mit totalitären Aspekten, in denen sich auch antisemitische Clichés wiederfinden[12], entwarf, der ihrer anarchisch-revolutionären Gesellschaftskritik der Vorkriegszeit sehr widersprach. (Albert Camus, der nach dem Krieg “Einwurzelung” veröffentlichte, bezeichnete das Werk als unerlässliche Grundlage für die geistige Erneuerung Europas).

Hochinteressant erscheint mir, dass trotz der Abspaltung eines Teils ihrer Vorstellungskraft und ihrer Empathie gerade die Fähigkeiten der „imagination“ für Simone Weil eine enorm positive Bedeutung für das Erkennen hatten, wie sie in zahlreichen Aufzeichnungen festhält. Ich beziehe mich im folgenden auf ihre Notizen im Zusammenhang mit dem Hebelgesetz. In drei Schritten hielt die damals 32jährige Philosophin fest: “Begriff des Hebels auf das innere Leben angewandt (dem Begriff der Energie entsprechend). – Wenn kein Hebel da ist, verändert man auf der gleichen Ebene, anstatt in Richtung auf einen grösseren Wert umzugestalten. Hebel und Blindenstock[13].” Etwas weiter: “Zusätzliche (ausserhalb der lebenswichtigen) und unstete Energie, Schlüssel zum menschlichen Leben. (Wenn man will, kann man sie als sexuelle bezeichnen). (…) Verhältnis zum Gegenstand. Hebel. Wie verlagert man sie?[14] Dann, wiederum zwei Seiten weiter: “Selber durch seine Handlungen einen Schirm (einen weiteren Schirm) zwischen sich und der Wirklichkeit schaffen. Wie funktioniert das? – Oder, im Gegenteil, Handlungen, die wie Hebel zu mehr Wirklichkeit sind. Wie funktioniert das?[15] (Zu ergänzen ist, dass sie an einer anderen Stelle in den “Cahiers” Freude als “Gefühl für die Wirklichkeit”, Traurigkeit als “Mangel an Wirklichkeit” definiert).

Zum Hebel: Simone Weil bedient sich eines Vergleichs aus dem Bereich der Physik, um dem Geheimnis der qualitativen Veränderung durch Erkenntnis auf die Spur zu kommen. Da, wo es sich um den Einsatz von physikalischer Energie, von Kraft handelt, kommt dank dem Hebel eine Übersetzung und vielfache Steigerung der Wirkung zustande, ohne dass der Aufwand vergrössert werden müsste. Die Frage ist, ob dieses Gesetz auf den Bereich der geistigen Energie übertragbar sei. Simone Weil stellt fest, dass, solange Wissen an Wissen addiert wird, d.h. solange “kein Hebel da ist”, Veränderungen höchstens linear, “auf der gleichen Ebene”, erfolgen, im Sinn einer Summierung von Wissen, dass jedoch kein Mehrwert entsteht, durch den eine qualitative, eine exponentielle Veränderung und dadurch etwas Neues entstände. Sie überlegt sich, welche Form der Energie diese Hebelwirkung auslösen könnte. Ist es jene “zusätzliche, unstete Energie”, fragt sie sich, die den “Schlüssel zum menschlichen Leben” darstellt, die, wie sie einräumt, als “sexuelle Energie” bezeichnet werden kann? Wenn sie also unter der “zusätzlichen, unsteten Energie” die Kraft des Verlangens versteht, des Verlangens nach grösstmöglicher Nähe zum Gegenstand des Verlangens, eventuell des Verlangens nach Neuschöpfung (Prokreation), so bedeutet die Veränderung des” Verhältnisses zum Gegenstand”, die sie knapp erwähnt, das, was bei Freud “Sublimation” heisst. Sublimation bedeutet tatsächlich Verlagerung auf eine andere Ebene, in einen anderen Bereich, ohne dass die Energie ihre eigentümliche, auf Erfüllung ausgerichete Zielstrebigkeit verlöre. Anstelle der biologischen Prokreation tritt ein Werk der Innerlichkeit (bei Simone Weil die “décréation”, die “Entschöpfung”) – das zugleich nach Aussen wirkt. Das mag vieles sein – Erkenntnis, ein künstlerisches Werk, ein politisches oder soziales Engagement. Was es auch sei, es bedarf, damit es gelingt, dazu immer der qualitativen Veränderung, resp. der Verlagerung des ursprünglichen Verlangens – des schöpferischen Willens, des Wissensdurstes ebenso wie des Handlungsbedürfnisses – auf eine andere Ebene

Diese Verlagerung bedeutet Verzicht auf unmittelbare, schnelle Befriedigung, bedeutet aber zugleich, in den Worten Simone Weils, “mehr Wirklichkeit”, psychoanalytisch gesprochen den Schritt vom Unbewussten ins Bewusstsein. Dabei überlistet sich Simone Weil selber, indem sie einerseits die Methode erkennt, andererseits aber die Arbeit am Unbewussten selber verweigert. In der eben zitierten Stelle stellt sie die “Handlungen, die wie Hebel zu mehrWirklichket sind” jenen entgegen, die “einen Schirm (einen weiteren Schirm) zwischen sich und der Wirklichkeit schaffen”. Das Unbewusste hat tatsächlich eine Schirmfunktion, d.h. es stellt mehrere Schichten eines Schirms dem Ich zur Verfügung und stimuliert zu Handlungen, die kompensatorischen, verhüllenden, hemmenden oder abwehrenden Charakter haben, die in grosse Unruhe oder in bleierne Lähmung stürzen etc. Eben diese Zustände sind der “Schirm”, den Simone Weil meint. Der Schirm kann jedoch so dicht und undurchdringlich werden, dass er zur Kapsel wird und zur Abkapselung führt. Obwohl der Verzicht auf den “Schirm” zumeist Leiden bedeutet, kann allein so Wirklichkeit erfahren werden. Das Gefühl der Wirklichkeit aber vermittelt Freude, während die abgewehrte Wirklichkeit zu einem quälenden Gefühl der Traurigkeit führt. Genügt somit die Hebelwirkung, resp. die Verlagerung der Energie, durch welche das “Verhältnis zum Gegenstand” verändert wird, nicht? Interessanterweise erwähnt Simone Weil im ersten zitierten Eintrag vom Frühling 1941 neben dem Hebel den Blindenstab.

Wozu dient der Blindenstab den Blinden? Wofür steht er als Metapher? Den Blinden dient er als Mittel, um Distanz und Nähe abzuschätzen, um einen Gegenstand, der sich auf dem Weg dem/der Gehenden als Hindernis entgegenstellt, rechtzeitig wahrzunehmen, um ev. Grösse, Festigkeit, Härte oder Weichheit des Gegenstandes zu erahnen. Der Blindenstab taucht bei Simone Weil in allen “Cahiers” als erkenntnistheoretische Metapher immer wieder auf, nicht aus eigener Erfindung, sondern als Anleihe aus den “Meditationen” von René Descarte (der, etwa gleichzeitig mit Spinoza, nach Montaigne und vor Kant, als einer der grossen Skeptiker die unumstösslichen Wahrheitsgebäude der Schulphilosophie zu befragen und zu dekonstruieren begonnen hat). Für Descartes – wie über 400 Jahres später für Simone Weil -, braucht der Mensch, der sich auf den Weg der Erkenntnis macht, zur Unterscheidung von Wahrem und Falschem einen “Blindenstab”. Dies ist die Vorstellungskraft (“imagination”), die letztlich eine ganz nahe, unbegriffliche Erkenntnis ermöglicht, eine intuitive Erkenntnis, die Verstehen bedeutet. Die Vorstellungskraft vermag, das – sonst blinde – Erkennen “sehend” zu machen.

Was Simone de Beauvoir bei Simone Weil bewunderte, die Kraft der Empathie (oder, mit einem Weil’schen Ausdruck, des “sym-pathein”), d.h. jene Kraft, die sie befähigte, trotz grösster Distanz den Hunger und das Leiden von Menschen so mitzufühlen, dass sie in Erschütterung und Trauer verfiel, oder die sie befähigte, ihre Lehrstelle für Philosophie aufzugeben und das Los der Fliessbandarbeiterinnen zu teilen, dieses “sym-pathein” ist als die schonungslose, “schirmlose”, aber sorgfältige und zugleich intensive Wirkung des inneren “Blindenstabs” zu verstehen, jenes mitfühlenden, nahen Spürens und Verstehens, das z.B. im psychoanalytischen Prozess vom Analytiker/von der Analytikerin gefordert ist, damit beim Klienten/bei der Klientin der Schritt vom Unbewussten ins Bewusstsein möglich wird, damit dieser Schritt nicht ängstigt und nicht sofort wieder – mit einem “Schirm” – abgewehrt wird.

Dieses – sorgfältige, achtsame, vielleicht sogar untrügliche – Verstehen setzt den Verzicht auf vorgefasste, eigenwillige, resp. mit eigenen Gefühlen bepackte Deutung voraus, auf “lecture”, wie es bei Simone Weil heisst.

Was Simone Weil wiederum theoretisch erfasst und mit grosser Präzision formuliert, verweigert sie sich selbst gegenüber. Denn der Verzicht auf “lecture” bedeutet ja Zurücknahme des erkennenden Subjekts dem Objekt des Erkennens gegenüber, bedeutet Verzicht auf Übertragung der eigenen Gefühle und Vorstellungen auf das Objekt des Erkennens, d.h. Verzicht auf Bemächtigung des Objekts, damit Verzicht auf jegliches Verlangen dem Objekt gegenüber – auch hier ein Vorgang der Sublimation. Dieser Vorgang lässt das Objekt des Erkennens selber zum Subjekt werden, versetzt es in seine ihm eigene Würde und Freiheit, so dass sich ein subjektparitätisches, dialogisches Verhältnis konstituieren kann. Damit dies geschieht, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Worin bestehen diese? Simone Weil spricht von “foi, justice, sens de juste disposition intérieure[16]“, d.h. von “Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Sinn für innere Geneigtheit”, worunter sie jenen “juste rapport de manifestation propre à chaque apparence[17]” versteht, nämlich das richtige Verhältnis zu dem, was sich, indem es erscheint, offenbart, d.h. sich unverhüllt, “ungeschirmt” zeigt. Diese “innere Geneigtheit”, diese “Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit” sind somit die ethische Voraussetzung im Prozess des Erkennens, der jenes “sym-pathein” entstehen lässt, das wiederum Indifferenz und unbedenkliches Handeln unmöglich macht.

Was Simone Weil postuliert, nämlich dass das Erkennen zu einer Funktion des Verstehens und damit der Offenheit für mehr “Wirklichkeit” werde, die eben nicht nur dem verstehenden Ich zukomme, sondern zugleich jedem anderen Menschen, der Objekt des Erkennens ist, der dadurch nicht als Mittel zum Zweck missbraucht wird, sondern in seiner eigenen „Wirklichkeit“ erscheinen kann, all dies ist in der Rezeption des Weil’schen Werks enrom anregend, wurde von ihr selber jedoch auf die dringendsten Erkenntnisinhalte ihrer eigenen „Welthaftigkeit“ abgespalten und geleugnet.

Ich will kurz erläutern, was ich unter „Welthaftigkeit“ verstehe und zu diesem Zweck nochmals einen kurzen Exkurs zu Hannah Arendt vorschlagen. Unter deren nachgelassenen Fragmenten findet sich eine Schlussbemerkung

zu einer Vorlesung, die sie im Frühjahr 1955 an der Universität von Berkeley hielt. Sie gibt darin ihrer Klage über das “Anwachsen von Weltlosigkeit” Ausdruck, über die “sich ausbreitende Wüste in der Welt”. Beides, “Wüste” und “Weltlosigkeit”, sind Metaphern für die Bedrohung des Zusammenlebens der Menschen durch Gewalt, durch jede Form von Gewalt, physische und verbale Gewalt, bürokratische, strukturelle und wirtschaftliche Gewalt, Metaphern für die Bedrohung jener Räume des Zusammenlebens, die, gemäss Hannah Arendt, das verbindliche “Bezugsgeflecht” (das inter esse), resp. “Welthaftigkeit” bedeuten. Diese Räume des Zusammenlebens sind grösser als der Interessenbereich des Privaten, grösser als der Bereich der eigenen unmittelbaren Bedürfnisse, Interessen und Rechte, sie gewähren und garantieren den Respekt für die Bedürfnisse und Rechte auch der anderen Menschen, für die Entfaltung deren Verschiedenheit. Sie setzen gegenseitige, wechselseitige Aufmerksamkeit und Behutsamkeit voraus und tragen dazu zur Verhinderung von Gewalt, von Grausamkeit, von Ausgrenzung und Leiden bei.

Simone Weils Suche nach „reiner Wahrheit“ und makelloser Einheit mit der einen Wahrheit entsprach ihrer Ablehnung der vielfach verschiedenen „Welthaftigkeit“. Konnte sie so leben? Als sie am 24. August 1943 an den Folgen von Tuberkulose und Selbstaushungerung im Sanatorium von Ashfordt, 34 Jahre alt, starb, vollendete sich ein Leben leidenschaftlichen Seinshungers und Existenzverneinung. “Die Agonie ist die letzte dunkle Nacht, deren selbst die Vollkommenen bedürfen, um die absolute Reinheit zu erreichen; und darum ist es besser, dass sie bitter sei”, hatte sie Jahre zuvor geschrieben.

Die Frage, die ich mir immer wieder stelle, ist, ob die Auseinandersetzung mit Simone Weil und ihrer sich aufbäumenden und verglühenden Existenz nicht ein Versuch ist, durch stellvertretendes Verstehen ihres Leidens das Gewicht der eigenen existentiellen Probleme – vor allem den Schmerz über eine durch und durch unversöhnte Welt und über die Unausweichlichkeit des Todes, des eigenen wie jenes der geliebtesten Menschen – ertragen zu können durch die Umkehrung ihrer Theorie der „décréation“, d.h. durch eine gelebte, mutige und zärtliche Zustimmung zur „création“ und zur Kreatürlichkeit in deren unversöhnlichen Widersprüchlichkeit, in deren Fehlerhaftigkeit, Schuld und Freiheit.

 

Ende Dezember 1998

 

 

[1] Paul Giniewski. Simone Weil ou la Haine de soi. Berg international, Paris 1978

[2] Maja Wicki-Vogt. Simone Weil. Eine Logik des Absurden. Paul Haupt Verlag, Bern 1983

[3] Sigmund Freud. Das ökonomische Problem des Masochismus (1924)

[4] Biographie der Herausgeberin in: S.W. Cahiers / Aufzeichnungen. Erster Band. Herausgegeben und üebrsetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag. München s.a.

[5] Der Begriff stammt von Theodor Lessing, Der jüdische Selbsthass, erstmals 1930 erschienen, im Jüdischen Verlag, Berlin.

[6] Hannah Arendt. Elemente und Ursprüne totaler Herrschaft. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a.M. 1962 (amerikanische Ausgabe 1955).

[7] s. Simone Pétrement. La Vie de Simone Weil. Librairie Arthème Fayard, Paris 1993. Bd. I, S. 26-27

[8] s. unter vielen Stellen cf. insbesondere Cahiers VII (1942)

[9] s. Maja Wicki-Vogt. Jüdisches Denken in geleugneter Tradition, in: Simone Weil. Philosophie, Religion, Politik. Hg. Heinz Robert Schlette und André Devaux. Verlag Josef Knecht, Frankfurt a.M. 1985

[10] s. Paul Giniewski, a.a.O, S. 36-37

[11] ibid.

[12] s. Paul Giniewski

[13] wegen der Zitate benütze ich die deutsche Fassung:  S.W. Cahiers. Aufzeichnungen. Erster Bad., Carl Hanser Verlag, München/Wien 1994, S. 212

[14] a.a.O. S. 213

[15] a.a.O. S.215

[16] S.W. Cahiers II, nouvelle édition, Plon, Paris 1972, S.204

[17] a.a.O, édition 1972, S.108

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