Grenzen der Sozialarbeit in den Grenzen der Asylgesetze
Grenzen der Sozialarbeit in den Grenzen der Asylgesetze
Spectra Formation
- / 5. Juni 2008, Olten
Die seit dem 1. Januar 2008 gesetzlich geltenden Einschränkungen und Verschärfungen im Asyl- und Ausländerrecht versetzen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in schwere Konflikte mit der beruflichen Ethik, welche Massstäbe setzt für die moralischen Kriterien des Handelns. Wer auf die Stimme des Gewissens achtet, spürt den warnenden Missklang. Die durch das Gesetz legalisierte Illegalisierung resp. Entrechtung von Kindern und Jugendlichen, von Frauen und Männern, die auferlegten Zwangsmassnahmen, der Sozialhilfestopp, die Minimalisierung von Unterbringung, Ernährung und persönlicher Sicherheit, die Aufhebung von Krankenversicherung, der Verlust eines festen Wohnsitzes mit Nachbarschaft und Kinderspielplatz, die ständige Polizeikontrolle, die Nichteintretensentscheide mit der Unmöglichkeit rechtlichen Einspruchs, Ausschaffungsentscheide über Drittländer in Herkunftsländer, in denen Folter und Tod zu erwarten sind, Beugehaft über Monate – in allem die kalte, eiserne Entwertung von Menschen zum verdinglichten Objekt steht in flagrantem Widerspruch zu den zentralen sozialethischen Prinzipien. Die persönliche Urteilskraft, resp. das Gewissen ist grossen Belastungen ausgesetzt.
Es sind zentrale Fragen, die sich im Bereich der Sozialarbeit stellen. Es geht dabei
- um die Frage der Richtigkeit und Rechtmässigkeit der neuen gesetzlichen Vorschriften, d.h. um die Frage, ob Gesetze befolgt werden müssen, die das Resultat zweckgerichteter Manipulation der öffentlichen Meinung durch finanzstarke Kräfte nationalistischer und rassistischer Rechtsaussenpolitik sind, die eine über die Medien geschürte begriffliche Verbindung von Missbrauch und Asyl (Asylanten) sowie von Ausländern und Terror in Hinblick auf die Abstimmung vom 24. September 2006 und auf die parlamentarischen Entscheide benutzt haben, um eine breite Zukunftsangst in Fremdenfeindlichkeit umzukehren und dadurch die erstrebte Verschärfung im Asyl- und Ausländerrecht zu erreichen;
- um die Frage der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der ab dem 1. Januar 2008 als gültig erklärten asyl- und ausländerrechtlichen Gesetze mit den Prinzipien der Sozialethik, die hinsichtlich der Berufsausübung von zentraler Bedeutung sind und die den normativen Kriterien der Verfassung der Eidgenossenschaft entsprechen (Bezug auf den Namen Gottes und damit auf die Zehn Gebote, auf die Europäische Menschenrechtserklärung, auf die Erklärung der Kinderrechte u.a.m.);
- um die Frage der psychischen Zumutbarkeit der Umsetzung und Anwendung der verschärften gesetzlichen Bestimmungen sowohl für das handelnde Subjekt wie für das behandelte Objekt;
- letztlich um die Frage, ob es notwendig ist zu tun, was das Gesetz gebietet; oder ob es notwendig ist zu tun, was das Gewissen als richtig erachtet, auch wenn es nicht konform ist mit dem Gesetz; oder ob es zusätzliche Möglichkeiten gibt, das Entweder-Oder resp. das Diesseits oder Jenseits der Grenze, die für die Sozialarbeit durch das aktuelle Asyl- und Ausländergesetzgesetz geschaffen wurde, zu verändern: Möglichkeiten aus der kreativen Verbindung von kritischem Denken, von zwischenmenschlicher Verantwortung und von politischem Mut.
An den zwei Tagen wird die Gruppenarbeit wie die Arbeit im Plenum der Klärung der vier Fragen sowie zusätzlicher Fragen gelten, die sich auf Grund der Erfahrungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer stellen werden.
Im Konflikt zwischen Gesetz und Gewissen
Wie im beruflichen Alltag umgehen mit den Verschärfungen im Asylrecht,
im Ausländerrecht, im Sozialrecht, im Zivilrecht?
Wie umgehen mit der Nichtbeachtung der Menschenrechte durch die neuen Gesetzgebungen?
Die Sozialethik beruht auf dem Prinzip sozialer Gerechtigkeit, d.h. auf dem Prinzip der Reziprozität in der Achtung gegenüber jedem Menschen, der/die sich in Not befindet und der Hilfe bedarf, unabhängig von Alter und Geschlecht, unabhängig von Herkunft und gesellschaftlichem Status, von Hautfarbe und Religionszugehörigkeit. Die Unterstützung von Menschen in Zuständen der Bedürftigkeit, die Korrektur des Notzustandes und die Wiederherstellung von Lebensbedingungen, die der menschlichen Lebenswürde gerecht werden, entspricht sowohl einem religiösen Gebot wie einer philosophischen Maxime wie einer menschenrechtlichen Norm, die in der Menschenrechtserklärung vom 10. 12. 1948 und in der EMRK vom 4. 11. 1950 festgehalten wurden, auch in der Kinderrechtskonvention vom 20.11. 1989 (wurde am 24. 2. 1997 ratifiziert) und die zu beachten die Schweiz mit der Verfassung von 1999 sich verpflichtet hat. Diese Verpflichtung wird aufs vielfältigste übergangen, als gehöre die Verfassung zum Altpapier. Es erstaunt auch nicht, dass die Schweiz sich bis heute weigerte – das letzte Mal im Dezember 2004 -, die Europäische Sozialcharta zu ratifizieren, so wie sei sich weigert, wichtige Zusatzprotokolle zur EMRK zu unterschrieben und ratifizieren, wie das 12. Zusatzprotokoll, welches festhält, dass niemand, unter keinerlei Vorwand, von einer öffentlichen Behörde diskriminiert werden darf.
Die normative Maxime, worauf die grossen Konventionen beruhen, ist letztlich jene der Reziprozität menschlichen Respekts. „Reziprozität“ (lat. „recus“– rückwärts, „procus“ – vorwärts) bedeutet den wechselseitigen Bezug all dessen, was im Moment der Gegenwart von Mensch zu Mensch entschieden und getan wird. Einleitend lässt sich zusammenfassen, dass diese Maxime beinhaltet
- was in religiöser Hinsicht – im Zweiten Gebot unter den zehn Geboten, die für alle grossen Religionen gelten – festgehalten wird: dass dem anderen Menschen gegenüber beachtet werden soll, was dem eigenen Ich gegenüber gelten soll. Ob dabei von „Liebe“ oder von „Wohlwollen“ oder von „Respekt“ gesprochen wird, hängt von den Personen, die sprechen oder vom Augenblick ab, da letztlich jedes Wort eine je individuelle Bedeutung hat. Doch es geht auf jeden Fall um die Verpflichtung, dass das, was für sich selber beansprucht wird, in gleichem Mass dem nächsten Menschen gegenüber zu leisten ist, d.h. es geht um den gleichen Wert von Subjekt und Objekt. Es ist dieses Zweite Gebot – das Gebot der Nächstenliebe, wie es genannt wird, aus welchem die Aufnahmebereitschaft gegenüber Fremden, Verfolgten und Hilfebedürftigen als eine vorbehaltlose, unbedingte Regel folgt, das letztlich der Sozialethik zugrunde liegt;
- auch was von Immanuel Kant in Zusammenhang der Aufklärung im kategorischen und praktischen Imperativ festgehalten wurde. Der kategorische Imperativ beinhaltet, dass die Maxime, die für den persönlichen Entscheid zu handeln gilt, so sein soll, dass sie von allgemeiner Bedeutung sein könnte. Das heisst, die Folgen des Handlungsentscheids müssten auch für das Subjekt, das ihn trifft, ertragbar sein, wenn es selber Objekt eines gleichen Entscheids wäre. Und der praktische Imperativ schliesst daraus, dass es bei jedem Handlungsentscheid zu beachten gelte, dass ein Mensch nie als Mittel zu einem Zweck benutzt werden darf. „Der Mensch ist keine Sache, mithin nicht etwas, das bloss als Mittel gebraucht werden kann“[2], ob es sich dabei um die eigene Person handle oder ob es einen anderen Menschen betreffe. Kant bezieht sich im kategorischen wie im praktischen Imperativ somit nicht auf das, was der Mensch denkt, sondern auf das, wozu er sich entscheidet zu tun sowie auf den Massstab, nach welchem er sich ausrichtet, um richtig zu handeln und nicht falsch zu handeln.
- Was heisst „richtig“ und was heisst „falsch“?
Bevor wir untersuchen, ob und wie die Richtigkeit und Rechtmässigkeit von Gesetzen angegangen werden kann, die auf demokratischem Weg, als Resultat von Volksabstimmungen und parlamentarischen Entscheiden, zustande gekommen sind, die jedoch den Grundsätzen der Menschenrechte – und damit jenen der Verfassung – nicht gerecht werden und zu deren Beachtung die Schweiz – gemäss ihrer Verfassung – trotzdem verpflichtet ist, erscheint es mir wichtig, etwas näher auf die Frage einzugehen, was „richtig“ heisst und was „falsch“ heisst. Wir gelangen damit in die Auseinandersetzung mit Fragen der Ethik, die in der Schweiz oft benutzt wird, die jedoch meist auf einer abstrakten, vom praktischen Alltag weit entfernten Ebene bleibt.
Jede Ethik (ethos/Sitte, Brauch) wurde und wird in Hinblick auf genau definierte persönliche, beziehungsmässige und gesamtgesellschaftliche Zwecke formuliert, die das Gute vom Schlechten oder vom Bösen unterscheiden, nicht nur in ältester Vergangenheit, sondern auch in der jüngsten Zeitgeschichte. Ethik ist Teil der praktischen Philosophie. Es geht dabei um oberste Normen, die das Verhalten der Menschen im Zusammenleben regeln. Es ist anzunehmen, dass diese weit über die religiösen Mythen hinaus gehen, die von der Trennung der Elemente – Erde, Feuer, Wasser Luft – handeln, von der Trennung von Finsternis und Licht, von den Gestirnen, vom Kreislauf des Lebens, kurz, von den Ursprüngen der Welt und des vielfältigen Lebens in der Welt. Diese handeln allerdings noch nicht vom Guten oder vom Richtigen, resp. vom Bösen oder vom Falschen. Zwar wird mit der hebräischen Silbe „ra‘ah“ alles bezeichnet, was nicht gut ist, was somit schlecht ist: die verdorbene Frucht, der unfruchtbare Boden, ein Tag, der Unglück bringt, eine Naturkatastrophe etc. Schlecht ist eine Eigenschaft, die den Dingen oder auch den Menschen anhaftet, eine Eigenschaft, die nicht weiter hinterfragt wird, die einfach auf die Wirklichkeit verweist. Was „gut“ ist, findet sich vor allem im Wahrnehmen und Anerkennen, im Befolgen einer höheren Ordnung. Dass diese Ordnung sich zu Gesetzen heranbildete – z.B. den Zehn Geboten auf den zwei Tafeln, die Moses, wie es heisst, in den vierzig Tagen des Rückzugs auf den Berg von Gott erhielt -, war eine Folge der menschlichen Nichtbeachtung der vorgegebenen höheren Ordnung.
Ganz anders thematisiert später Platon (427-347) die ethischen Grundsätze, indem er in seiner Ideenlehre das Gute als das Eine, damit als das Unteilbare, Wahre und Vollkommene bezeichnet. Alles, was nicht das Eine ist, ist daher auch nicht das Gute. Aber was ist es dann? Da es sich bei Platon um eine „Seinslogik“, eine Ontologie, handelt, ist es weder das Schlechte noch das Böse, sondern das Nicht-Wahre, das Falsche, das, was irreführt und täuscht, d.h. das, was im Bemühen um Klarheit und um Wahrheit nicht vollkommen ist, was eben falsch ist. Da es dem Guten, resp. der Wahrheit entgegensteht, muss es gemäss Platon trotzdem als das irreführende Schlechte bezeichnet werden.
Bei Heraklit, einem Denker aus Ephesos , der (544-483) etwa ein Jahrhundert vor Platon lehrte, steht im Fragment 133: „Schlechte Menschen sind die Widersacher der wahrhaftigen“. Dass Ungenügen im Zufügen von Leiden besteht, findet sich bei den Vorsokratikern immer wieder, am deutlichsten bei Xenophanes (580/77-485/80). In einer kleinen Geschichte, Xenophanes‘ Fragment 7, erzählt er von Pythagoras, einem der grossen Zeitgenossen (580-500): „Und es heisst, als er (Pythagoras) einmal vorbeiging( und sah), wie ein Hündchen misshandelt wurde, habe er Mitleid („sym-pathein“) empfunden und dieses Wort gesprochen: ‚Hör auf mit deinem Schlagen, denn es ist ja die Seele eines Freundes, die ich erkannte, wie ich seine Stimme hörte‘.“ Der Satz verweist zwar wohl auf die Pythagoreische Seelenwanderungslehre, jedoch ebenso auf das mitleidende Empfinden, das deutlich macht, dass jedes Zufügen von Leiden, jedes Misshandeln eines Lebewesens zu unterlassen ist.
Bei anderen vorsokratischen Denkern wird das Masslose, die Überheblichkeit als das dem Guten Widerstrebende dargestellt. Prometheus‘ überheblicher Griff nach dem Feuer, zum Beispiel, entspricht interessanterweise der in der Bibel dargestellten ersten strafbaren „Überheblichkeit“ der geschaffenen Menschen, dem Griff nach der verbotenen Frucht im Garten Eden, d.h. der masslosen Erfüllung des Hungers nach Erkenntnis und nach Wissen. Die Nichtbeachtung der menschlichen Begrenztheit, der Übergriff in die göttliche Allmacht durch grenzenloses Wissen findet sich immer wieder in alten Texten. Es ist z.B. ein Fragment des Pherekydes von Syros zu erwähnen, dass, wer „aus Überhebung frevelt“, von Zeus in den Tartaros geworfen werde. Oder bei Heraklit heisst es in Fragment 43: „Überhebung soll man löschen mehr noch als Feuerbrunst“.
Religion und Philosophie trennen sich da, wo der Zustand der Welt nicht mehr der göttlichen Kosmogonie anheimgestellt wird, sondern das So- oder Anders-Handeln der Menschen dafür verantwortlich gemacht wird. Das Gute und das Böse resultieren aus einer spezifischen Wahl des Handelns. Die praktische Philosophie setzt mit Aristoteles (384/3-322/1) ein. Für ihn beruht das Gute nicht mehr auf der Idee des Guten, sondern der gute Mensch stellt das Mass für das Gute dar. Mit anderen Worten, was gut und was böse ist, misst sich am Menschen und am praktisch-tätigen Leben, am Handeln. Dabei genügt es nicht, dass die Handlung sittlichen Kriterien genügt, dass sie zum Beispiel nicht-schädigend oder gerecht ist, sondern der handelnde Mensch[3] muss selber bestimmte Eigenschaften aufweisen, um den Kriterien des Guten zu genügen. Aristoteles nennt drei Bedingungen: der handelnde Mensch muss, erstens, „bewusst handeln“; zweitens muss er „mit Vorsatz handeln“, und drittens muss er „im Handeln sicher und ohne Schwanken“ sein. Der Analogieschluss ist zulässig, dass, was für das Tun des Guten gilt, in der Umkehrung auch für das Tun des Schlechten zutrifft. Nicht das zufällig gute oder schlechte Handlungsresultat ist entscheidend, sondern das Wissen, die Absicht und die Unbeirrbarkeit des handelnden Menschen.
Unklar erscheint es Aristoteles allerdings, weshalb die einen Menschen gut und tugendhaft sind, die anderen aber schlecht. Aristoteles mutmasst, dass dies entweder „von Natur aus“ so sein könnte, oder durch „Gewöhnung“, oder durch „Belehrung“; andernorts führt er noch den Zufall und die göttliche Fügung[4] ein. Was bei Aristoteles mit dem „Zufall“ gemeint wird, könnte das Unberechenbare und scheinbar Unbegründbare sein, das sich oft im Entscheiden und Handeln zeigt, das vom Unbewussten angestossen oder verursacht wird. Bei Aristoteles geht es letztlich immer um einen bewussten oder unbewussten Entscheid, der in bestimmten Momenten des praktischen Lebens, d.h. in Konfliktsituationen, gefordert wird.
Der antike Denker zieht dabei drei entscheidende mögliche Einflüsse auf das Handeln der Menschen in Betracht, die der modernen Forschung nahe kommen. Was er als „von Natur aus“ nennt, könnte sich mit dem decken, was heute mit dem Einfluss der genetischen Faktoren gemeint ist. Was bei ihm „Gewöhnung“ heisst, könnte durch die heutigen Begriffe der Sozialisation und der Beziehungserfahrungen übersetzt werden; und was er als „Belehrung“ bezeichnet, könnte sich sowohl mit den Welt-, Gesellschafts- und Erziehungstheorien decken, mit denen ein Mensch schon als Kind konfrontiert wird, wie auch das Über-Ich meinen, d.h. die innere Stimme, die sich als Gewissen äussert und welche die internalisierten Verbote, Gebote und Vorbilder, resp. den frühen Einfluss der Vater und Mutter-Vorbilder zur Wirkung bringt. Doch obwohl Aristoteles die verinnerlichten Eigenschaften als Kriterien für das gute oder schlechte Handeln herausarbeitet, beachtet er die eigentliche Gewissensfrage, d.h. die Selbstverantwortung nur teilweise. Damit bleibt seine „Nikomachische Ethik“ in erster Linie eine Tugendlehre, laut welcher Gerechtigkeit, Klugheit und Freigebigkeit den guten Menschen am stärksten kennzeichnen.
Aber wie lässt sich die Erfüllung resp. der Nicht-Erfüllung dieser Tugenden erklären? Aristoteles sagt diesbezüglich, dass, „was wir tun können, nachdem wir es gelernt haben, das lernen wir, indem wir es tun“. Mit anderen Worten: Theorien und Doktrinen bieten Handlungsangebote an, doch es ist an den Menschen, sie anzuwenden, um zu wissen, was deren Bedeutung ist. Theorien zu lernen genügt nicht; es braucht das Tun.
Allerdings gilt es zu beachten, dass für Aristoteles ethisch tugendhaftes Tun auch der materiellen Voraussetzungen bedarf, resp. dass ohne Besitz weder Gerechtigkeit noch Freigebigkeit gepflegt werden können. Die „Nikomachische Ethik“ ist somit, trotz des erstaunlich Neuen, das sie mit dem Praxisrekurs bietet, eine Art Verhaltenskodex ausschliesslich für besitzende, freie Männer, obwohl daraus eine allgemeine Ethik abgeleitet wurde. Dass frei zu entscheiden jedem Menschen zusteht, unabhängig von Status oder Reichtum, dass frei wählen zu können einem Grundbedürfnis und damit einem Grundrecht des Menschen entspricht, fand ein klares Bekenntnis erst über zweitausend Jahre später.
Ein weiterer möglicher Zugang, die Bedeutung der Ethik zu klären, mag sich über die Entwicklung des Wertebegriffs anbieten. Wie kommt es, dass etwas als wertvoll, resp. als gut, und etwas anderes als weniger wertvoll oder als wertlos, als untauglich oder als schlecht angesehen wird? Der Wertebegriff muss sich ins Denken und Handeln eingefügt haben, als erste Formen der Selbstversorgung nicht mehr genügten, als der Tauschhandel und damit die Arbeitsteiligkeit begannen, als der Abtausch resp. die Abtretung von Produkten, Gegenständen oder Leistungen einsetzte, über welche die einen Menschen verfügten, ohne deren zu bedürfen, gegen andere, die als gleichwertig galten. Schon sehr früh wurden Waren oder Leistungen im Tauschhandel durch die symbolische Gleichwertigkeit von Münzen, resp. von Geld abgelöst, bis schliesslich das Geld, der Geldbesitz und die Anhäufung von Geld mit der Entwicklung des Kapitalismus zum Wert an sich wurde.
Obwohl der ursprüngliche Gütertausch an materielle Güter gebunden war, schloss er immer schon Immaterielles mit ein, das heute noch spürbar ist: ein Abwägen und Erwägen, eine Vorstellung von Wert, die an Begriffe wie Nützlichkeit, Dringlichkeit, Unverzichtbarkeit, auch Schönheit und/oder Lustgewinn gebunden war und für welche schon sehr früh eine Prioritätenordnung und damit die Erfordernis eines Entscheides galt, der einerseits Gewinn, andererseits Verzicht bedeutete. Der Entscheid für das eine Gut schloss ein anderes aus. Und so muss der Wertbegriff sich auch für immaterielle Güter, für Werte der persönlichen Lebensführung, des Verhaltens und der Organisation des Zusammenlebens durchgesetzt haben. Zum Beispiel bedeutete der Entscheid, einen Feind zu schonen, statt ihn zu töten, als Abtausch die Gewähr, selber geschont und nicht getötet zu werden. Oder der Entscheid, zu verzeihen statt Rache zu üben, zog/zieht als Gegenwert die Aussicht nach sich, dass auch eigene Fehler verziehen und nicht mit Strafe geahndet wurden/werden. Oder der Entscheid, ein gegebenes Versprechen zu halten, zog/zieht ebenfalls die Erwartung von Gegenseitigkeit nach sich. So entwickelten sich aus dem Abwägen von Werten und aus dem Entscheid für einen bestimmten Wert in einer Rangordnung von Werten bestimmte wertorientierte Regeln des Verhaltens, welche durch die wiederholte Einhaltung internalisiert wurden und zu einem Wert- und Regelbewusstsein führten, das sich wiederum im persönlichen Gewissen ausdrückt: dem “guten Gewissen”, bei Beachtung der internalisierten Wertekategorien und bei Einhaltung der Regeln, dem “schlechten Gewissen” bei deren Nichtbeachtung und Übertretung. Die Entwicklung des eigenen Urteilsvermögens und der eigenen Handlungsverantwortung führt zu einer Veränderung der sozialisierten und internalisierten Wertevorstellungen und Regelcodices.
Es ist auch eine Tatsache, dass im Lauf der Menschheitsgeschichte sowohl die Prioritätenordnung der Werte wie die daraus abgeleiteten ethischen Regeln zumeist autoritär bestimmt wurden, häufig nicht in Hinblick auf das grösstmögliche „bien commun”, sondern in Hinblick auf partikuläre Vorteile derjenigen, die sich die Definitionsmacht für die Rangordnung der Werte und Regeln zubilligten, um dadurch die danach handelnden Menschen zu kontrollieren, ob dies Fürsten, Potentaten, religiöse Autoritäten, Arbeitgeber, politische Führer, die sogenannte „öffentliche Meinung” usw. war oder noch immer ist. Auch gehörte eine gleichzeitige Vielzahl von Werteordnungen, die untereinander rivalisierten, im Lauf einer komplexer werdenden Welt zu den sich bietenden Orientierungsmöglichkeiten. Daraus entstanden jene Orientierungskonfusionen, jene Paradoxien, auf die ebenfalls schon Aristoteles in seiner “Nikomachischen Ethik” hingewiesen hatte, und jene Gewissenskonflikte, die wir zum Teil auch heute kennen, deren Ursprung in der Nichtübereinstimmung von – eventuell gleichrangigen – Werten oder Handlungsregeln liegt, die aber verschiedenen Ordnungen entstammen. Wir sehen uns ständig mit der Tatsache konfrontiert, dass das eine oder das andere, was wir tun oder unterlassen sollten resp. müssten, sich widerspricht. Die Art und Weise, in der Menschen sich bei verschiedenen, häufig gar widersprüchlichen richtungweisenden Ethiken entscheiden, fällt in den Bereich der Moral.
Dass hier die Entscheidungsfreiheit jedes Menschen in den Blick fällt, darauf wurde schon in der Einleitung mit dem Hinweis auf Immanuel Kants Masstäbe des richtigen Tuns gemäss dem kategorischen und praktischen Imperativ hingewiesen. Der Kant’schen Ethik liegt das Menschenbild der Aufklärung zugrunde, das damals von grosser theoretische Bedeutung war, das jedoch bis heute zumeist Theorie blieb: eine säkular definierte Gleichheit der Menschen auf Grund des gleichen Menschseins, der gleichen „Menschheit” in jedem Menschen. Allerdings war zu Kants Zeit, Ende des 18. Jahrhunderts, weder die Sklaverei abgeschafft noch war die Gleichberechtigung der Frauen und Kinder oder die rechtliche Gleichstellung der Juden erreicht, all dies bei weitem nicht. Zudem setzte damals, mit dem Beginn der Industrialisierung, die systematische Ausbeutung einer faktisch rechtlosen, ganz und gar vom Arbeitgeber abhängigen Arbeiterschaft ein, die durch die Fliessbandarbeit anonymisiert, des „Produkts” entfremdet und ausschliesslich zur Mehrwertsteigerung des Kapitals missbraucht, resp. instrumentalisiert wurde, trotz Kant’s praktischem Imperativ. Und trotz dieser hohen Norm begann sich auch gleichzeitig das System des Imperialismus zu entwickeln, das sich im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einem globalisierten Herrschaftssystem ausweitete und festigte, mit Kriegen und bürokratisierten, administrativen, militärischen und wirtschaftlichen Unterwerfungssystemen, bei denen der Herrschaftsanspruch der sogenannten „Mutterländer” durch die „Unentwickeltheit” und „Minderwertigkeit” der „Objekte” der Herrschaft in Afrika, Asien etc. legitimiert wurde. Damit setzte sich weltweit der systematische Rassismus sogenannter „Herrenvölker” und „Herrenrassen” durch, den es schon seit Jahrhunderten gab, der jedoch in Verbindung mit dem technischen Fortschritt der Medien und der Vernichtungsgewalt in die verhängnisvolle Geschichte des vergangenen Jahrhunderts hineinführte. Dieses Jahrhundert mit seinen menschenverachtenden Ideologien und Herrschaftssystemen, das zum blutigsten und schuldbeladensten aller Zeiten wurde, setzt sich fort bis in die aktuelle Zeit mit neuen nationalistischen und rassistischen Verbrämungen in neuen Ideologien, mit neuen Feinderklärungen und menschlichen Entwertungen. Diese versetzen die Errungenschaft der Moderne – die demokratisch erarbeitete staatliche Verfassung, wie diejenige der Schweiz von 1999 -, durch welche die Grundrechte und Grundwerte festgelegt werden, die bei der Erarbeitung von Gesetzen Massstäbe setzen sollen für richtig und falsch, in eine Fragwürdigkeit ihres Wertes, die gravierende Folgen politischer Machtübergriffe und menschlicher Willkür bewirkt.
Es ist wichtig, abschliessend auf die von Simone Weil 1943 kurz vor ihrem Tod im englischen Exil erarbeitete Ethik einzugehen, die unter dem Titel „Enracinement“ (Einwurzelung) 1949 von Albert Camus veröffentlicht wurde. Für Simone Weil ist von zentraler Bedeutung, dass das Beziehungsnetz unter den Menschen, die gleichzeitig leben, nur ein gutes sein kann, wenn in erster Linie diejenigen, die für sich Rechte beanspruchen, ihre Verpflichtung wahrnehmen und die Bedürfnisse der anderen Menschen, die schwächer sind, erfüllen. Verpflichtung besteht allein im Bereich des menschlichen Lebens und der Grundbedürfnisse, deren Erfüllung jeden Menschen in die Abhängigkeit von anderen Menschen versetzt, ohne dass spezielle Bedingungen zu erfüllen wären, ohne dass es eines speziellen Rechtsurteils oder einer besonderen sozialen Struktur oder einer besonderen Herkunft und Geschichte bedürfte. Gemäss Simone Weil ist es die Tatsache, Mensch zu sein und als Mensch zu leben, die der Verpflichtung dem anderen Menschen gegenüber zu Grunde liegt. In der menschlichen Reziprozität der Grundbedürfnisse, von deren Erfüllung jedes menschliche Leben in der ursprünglichen Hilflosigkeit und Bedürftigkeit zutiefst abhängig ist, liegt gleichzeitig die Reziprozität des wechselseitigen Respekts und damit die Anerkennung der gleichen Rechte. Es sind somit die Grundbedürfnisse eines jeden Menschen, deren Erfüllung für diejenigen, die entscheiden und die über Handlungsmacht verfügen, eine prioritäre Verpflichtung ist, damit die Rechte, die sie beanspruchen, durch die Rechte der anderen bestätigt werden.[5]
„Einwurzelung“, wie Simone Weil sie versteht, bedeutet Aufhebung der menschlichen Entwurzelung, d.h. der Entfremdung vom Wert des Lebens, die auf Grund schwerwiegender Nichterfüllung der Grundbedürfnisse geschieht, insbesondere des Respekts vor der Besonderheit jedes Lebens.
Zusammenfassend gilt festzuhalten, dass, falls das Ziel der Ethik das “gute Leben” ist, dass dieses Ziel den aristotelischen Vorzugsrahmen der athenischen „freien Männer“, die darin einbezogen waren, sprengen und erweitern muss, auch den noch sehr abstrakten, wenngleich kritischen Rahmen der Kant’schen Vorstellungen der überzeugenden Kraft der Vernunft, dass dieses Ziel nur eine Glaubwürdigkeit darstellen kann, wenn nach den Jahrhunderten des ungleichen menschlichen Wertes, nach den Jahrhunderten der mit Gewalt geschaffenen „Klassen-“ oder „Rassensysteme“ sowie der auf Verbreitung von Angst und auf Forderung von Unterwerfung geschaffenen politischen Diktaturen ein anderes Bewusstsein erwacht: das Bewusstsein der menschlichen Reziprozität gleicher Grundbedürfnisse und Grundrechte, deren Erfüllung tatsächlich einhergeht mit dem „guten Leben“ , wie Simone Weil es als „Einwurzelung“ der Menschen im Menschsein verstand und wie die Menschenrechtserklärung von 1948 es als Voraussetzung für eine Korrektur der grauenvollen Anhäufung von Ruinen und von Toten forderte: die Beachtung des gleichen Respekts vor dem Leben jedes Menschen.
Die seit Jahren sich ausweitende und sich verhärtende politische Entwicklung in der Schweiz ist eine dunkle, regressive Entwicklung. Deren Zielsetzung ist die rücksichtslose Umsetzung des Besitzanspruchs von Rechtsaussen auf Macht – auf Macht über Recht und Gesetz. Durch die breite, ideologiegesteuerte Benutzung demokratischer Strukturen mit Hilfe finanzstarker Einflussmöglichkeiten auf die Medien wuchs ein Pulverfass kritikfeindlicher, menschlicher Verachtung heran, das heute den politischen Diskurs im Eidgenössischen Parlament und in zahlreichen kantonalen Regierungen beherrscht. Die Gesetzgebung, die durch diese Entwicklung entstand und die zunehmend das Asyl- und Ausländerrecht, das Sozialrecht und Zivilrecht, das Arbeitsrecht, das Strafrecht, die Rechte der Kinder und die Rechte der Kranken beherrscht, beruht auf offen erklärter Missachtung der gleichen menschlichen Grundbedürfnisse und Grundrechte von Menschen, die durch körperlich oder psychisch bedingte gesundheitliche Einschränkungen oder durch wirtschaftliche Ursachen an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, die aus dem Herkunftsland fliehen mussten und um Asyl bitten, kurz – die der Unterstützung und Hilfe bedürfen.
Ich bin überzeugt, dass, wenn die normativen Werte der in einer Volksabstimmung angenommenen Verfassung von 1999, die sich zur Beachtung der Menschenrechtserklärung von 1948, der EMRK von 1950 und der Kinderrechtskonvention von 1989 verpflichten, noch irgendwie glaubwürdig sein sollen, keinem Gesetz der Anspruch auf Recht und damit auf die Notwendigkeit, es zu befolgen zusteht, dessen Anwendung den Respekt vor dem menschlichen Leben verletzt und deren Folgen durch diejenigen, die das Gesetz geschaffen haben, als untragbar empfunden würden, wären sie selber dem Gesetz als Objekt der Umsetzung ausgesetzt. Es kann nicht die Befolgung von Gesetzen erzwungen werden, die – im Sinne Kants – mit dem eigenen Urteilsvermögen, d.h. mit dem Gewissen nicht übereinstimmen. Copyright: Dr. Maja Wicki-Vogt, Zürich
- In welchem Verhältnis steht der Berufscodex der Sozialarbeit
zu den aktuellen asyl- und ausländerrechtlichen Gesetzen?
2.1. Der aktuelle Rahmen der Sozialarbeit
Als am 17. Dezember 2004 der Nationalrat mit 104 zu 84 Stimmen die Ratifizierung der 1961 zustande gekommenen Europäischen Sozialcharta[6] erneut ablehnte, obwohl diese 1976 nach jahrelangen juristischen Abklärungen unterzeichnet worden war und anschliessend während 28 Jahren weitere juristische Abklärungen und kantonale Vernehmlassungen nach sich gezogen hatte, wurde den kritischen Kreisen der Schweiz erneut das Trauerspiel der politischen Lippenbekenntnisse dieses Staates bewusst. Der immer wieder propagierte Grundsatz, gemäss bewährter, humanitärer Tradition ein Staat der klassischen Freiheitsrechte zu sein, wird zum inhaltsleeren Geschwätz, wenn diese nicht nach den Kriterien der Reziprozität allen Menschen zugestanden werden und wenn die Ebenbürtigkeit der sozialen Grundrechte nicht anerkannt wird.
In der vor 32 Jahren unterzeichneten, jedoch bis heute nicht ratifizierten Europäischen Sozialcharta bilden 7 unter den 19 sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten den eigentlichen Kern. Diese betreffen das Recht auf Arbeit, das Vereinigungsrecht, das Recht auf Kollektivverhandlungen, das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf Fürsorge, das Recht der Familie auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz sowie das Recht der Wanderarbeiter und –arbeiterinnen und deren Familien auf Schutz und Beistand. Alle diese sozialen Rechte werden durch die seit dem 1. Januar 2008 geltenden Gesetze des Asyl- und Ausländergesetzes mit Füssen getreten. Die Nichteintretensentscheide bei Asylgesuchen wegen ungenügender Papiere, die durchgeführten Zwangsmassnahmen, die Beugehaft, die Reduktion der Fürsorge auf minimale Nothilfe weit unter den SKOS[7]-Richtlinien, das Verbot zu arbeiten mit der gleichzeitigen Forderung, den Beweis der Integration und Eigenständigkeit zu erbringen, die Verunmöglichung eines geschützten Familienlebens, die stete polizeiliche Intervention unter der Vorgabe allfälligen Terrorismus in Zusammenhang der Vereinigung von Asylsuchenden oder Ausländern maghrebinischer oder überhaupt muslimischer oder afrikanischer Herkunft – all diese gesetzlichen Massnahmen sind Tatsachen, die der europäischen Sozialcharta zutiefst widersprechen. Deren Hintergründe und deren Forderung nach Umsetzung erinnern an die dunkle Zeit der Dreissigerjahre, durch welche die Wurzeln von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Nationalsozialismus verfestigt worden waren und sich als Verhängnis menschenverachtender Skrupellosigkeit in ganz Europa auszudehnen begannen.
Was die aktuellen Medien beherrscht, weist parallele Tendenzen auf, die auf beunruhigende Weise anwachsen: es sind generelle Misstrauens- und Entwertungsparolen gegenüber Fremden, die um Asyl bitten wie überhaupt gegenüber hilfebedürftigen Menschen, auch eine von Verachtung geprägte Überheblichkeit gegenüber Vertreterinnen der Menschenrechte und Sozialrechte, die als weltfremde „Gutmenschen“ lächerlich gemacht werden. Zwar kann das freie, kritische Denken noch nicht verboten werden, doch es wird verspottet und nach Möglichkeit zum Verstummen gebracht. Wie wichtig es ist, dass dieses auch innerhalb der Sozialarbeit wach bleibt, belegt ein Dokument der Schweizerischen Gesellschaft für Soziale Arbeit (SGSA), das in diesem Frühjahr, am 8. März 2008, durch deren Vorstand anlässlich deren Tagung in Luzern veröffentlicht wurde. In dieser „Luzerner Erklärung zur Transformation des Sozialen“ wird auf die Dringlichkeit hingewiesen, sich gegen die Stigmatisierung derjenigen Menschen zu wehren, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, wie derjenigen, die sich dafür einsetzen.
Als ich die „Erklärung“ las, wurde mir einmal mehr bewusst, wie schwierig – und gleichzeitig wie dringlich – es ist, sich innerhalb der zum Umsetzen der neuen Gesetzgebungen verpflichteten Bevölkerungsteile gegen die zunehmende Stagnation des kritischen Denkens zu wehren. Mit grosser Klarheit stellen der Unterzeichner und die Unterzeichnerin[8] der „Erklärung“ fest, dass die aktuelle Schweiz in nichts der Präambel ihrer Verfassung nahe komme, in welcher festgehalten wird, dass „die Stärke des Volkes sich am Wohl der Schwachen misst“. Doch was als Grundsatz erklärt wird und zugleich in keiner Weise zutrifft, ist ein Lippenbekenntnis, eventuell gar ein Betrug. „Die Art und Weise wie über ‚Missbrauch’ sozialer Dienstleistungen, über nicht kooperierende SozialhilfeempfängerInnen, über Jugendgewalt, schwierige Kinder und Jugendliche oder über nicht integrationswillige AusländerInnen, die in Parallelgesellschaften leben, geredet wird, stellen die in der Präambel der Schweizer Verfassung verankerten Grundwerte gesellschaftlicher Wohlfahrt in Frage. Denn die Lösungen, die als Teil dieser Argumentationsfiguren angeboten werden wie Abschieben, Verwahren, Ausgrenzen, Disziplinieren, Verschärfung des Rechts, Kürzung der Leistungen haben nicht mehr das ‚Wohl der Schwachen’ im Auge. In diesem Diskurs geht es offenbar nicht um die Lösung gesellschaftlicher Probleme, sondern um die semantische Aushöhlung sozialer Grundwerte(…)“ wird vom Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Soziale Arbeit deutlich erklärt. Es handelt sich dabei nicht um ein unverhofft eintretendes Phänomen, sondern um einen sich seit Jahren fortsetzenden Abbau der sozialen Werte, des Übertünchens dieses Abbaus mit vorgegebener Richtigkeit und Dringlichkeit, auch mit ständig wiederholtem Misstrauen gegenüber jeder Art kritischen Hinterfragens. Eine bedauerliche Ermattung innerhalb der Sozialarbeit selber stellt sich ein: „Viele in der sozialen Arbeit nehmen die Verschärfung der sozialen Spaltung einfach als unveränderliches Faktum hin. Es ist bedenklich, dass die soziale Arbeit durch die Umsetzung sozialpolitischer Vorgaben, wie sie mit den Stichworten ‚Aktivierung’ oder ‚fördern und fordern’ charakterisiert werden können, selbst aktiv an der Aufspaltung von ‚würdigen’ und ‚unwürdigen’ Hilfeempfängern und -empfängerinnen teilnimmt.“
Was gilt es zu tun? Die Vorstandsmitglieder der SGSA drängen darauf, das niemand sich selbst durch „defensive Rückzugsgefechte ins Abseits manövrieren lasse“, dass es darum gehe zu „kämpfen, um die Rahmenbedingungen des Handlungsfeldes mitzudefinieren und die eigene Kompetenz sich entfalten zu lassen“. Es ist eine ermutigende Aufforderung. „Tragen sie dazu bei“, heisst es ausdrücklich, „diesen unsäglichen und dem Entwicklungsstand einer zivilisierten modernen Demokratie unwürdigen öffentlichen Diskurs zu beenden, indem Sie die tatsächlichen Probleme und unsere darauf bezogenen Lösungswege und Lösungsvorschläge einbringen, begründen und verteidigen“.
Unter den Grundsätzen des Berufskodexes der Professionellen sozialer Arbeit findet sich Artikel 4.1. dass „Sie jede Form von Diskriminierung vermeiden, die u.a. aufgrund ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, alter Religion, Zivilstand, politischer eisntellung, Hautfarbe, sexueller Orientierung, Behinderung oder Krankheit“ geschehen kann, auch 4.3., der festhält, dass „Sie sich Druckversuchen widersetzen, die den fachlichen und ethischen Zielen ihrer Arbeit widersprechen“. Tatsächlich darf nicht einer verhängnisvollen politischen Entwicklung durch Resignation noch grössere Macht verliehen werden. Gemäss Rosa Luxemburg ist „laut sagen, was ist“ die dringliche politische Manifestation des kritischen Denkens. Gerade für die sozialen und sozialpolitischen Zusammenhänge sind die Stimmen derjenigen von grösster Bedeutung, die sich für die stimmlosen, entrechteten Menschen einsetzen. Dies beruht auf einer Tradition des Muts – des denkenden Herzens -, eine Tradition, auf welche ich abschliessend noch hinweisen möchte, um den heute erforderten Mut zu stärken.
2.2. Ein menschenrechtlicher Rahmen für Sozialarbeit
Sozialarbeit ist in erster Linie Korrektur von Unrecht und Rehabilitation von Existenzwert; sie ist in zweiter Linie – und somit gleichzeitig – Kulturarbeit. Die Ursachen materieller und psychischer Not sowie daraus resultierender Entwurzelungen, d.h. äusserer und innerer Emigration, Ausgrenzungen und Ausweglosigkeiten, auch die Ursachen von Abhängigkeiten, Süchtigkeiten, Gewalt, Delinquenz und anderen Formen der Hilflosigkeit sind von vielschichtiger Komplexität. Immer ist der davon gezeichnete Mensch die Tochter oder der Sohn einer Elterngschichte und zugleich einer Zeitgeschichte; oft sind in deren Schlepptau weitere Töchter oder Söhne, Kinder, die von den Lasten der nicht wählbaren Geschichte gezeichnet sind. Vom Moment an, da sie Teil eines Systems der Sozialhilfe werden, ob sie Asylsuchende oder ob sie Arbeitslose oder ob sie Kranke und Invalide seien, sollte jede Art von Erniedrigung und von Angst sich lösen. Sozialarbeit in der eigentlichen Bedeutung des Wortes (aus dem lat. „sequi“ – folgen, begleiten sowie „socialis“ – die Gesellschaft betreffend) heisst Begleitarbeit beim Rückgewinn des Platzes in der Gesellschaft. Oft scheint mir Sozialarbeit vergleichbar mit der Arbeit an Waldhängen, in Gärten oder auch in Oasen nach Sturmböen oder grosser Dürre, nach dem Niedergang von Lawinen oder nach Überschwemmungen. Damit der Wiederaufbau geling, bedarf jede Pflanze der besonderen Achtsamkeit: eine jede bedarf der neuen Einwurzelung sowie während einiger Zeit der Stütze und Pflege. In diesem Sinn versteht sich das lat. „cultura“, abgeleitet vom Verb „colere“: es bedeutet das pflegende Bebauen des Bodens, mithin des menschlichen Zusammenlebens im gemeinsamen gesellschaftlichen Raum, der die Gleichzeitigkeit bedeutet.
Doch dieser „Raum“, dem die Bedeutung von Sozialarbeit und von Kultur zukommt, kann nur als Raum partizipativer Freiheit gedeihen. Er kann sich nicht anders denn vorweg dialogisch-prozesshaft gestalten, ein irgendwie ideologisch beeinflusstes Bedingungsraster würde ihn blockieren. Auch kann dieser „Raum“ weder entwertete Ränder (“margines”) und noch leidvolle Randständigkeiten (Marginalisationen) zulassen. Zwischen Kultur und Sozialarbeit besteht eine wechselseitige Ergänzung. Dem Abbau oder Verlust der menschlich wärmenden Interdependenz vorzubeugen und deren Gefährdung durch Kräfte aus der politischen Gegenrichtung entgegenzuwirken, ist Aufgabe aller an diesem „Raum“ beteiligten Bürgerinnen und Bürger. Allerdings bedürfen diejenigen, die sich für diese Aufgaben professionell engagieren, der Institutionen, die sie stützen und die ihrer Berufsausübung eine Legitimation verleihen. Früher – und zum Teil bis in die jüngste Zeit – waren diese Institutionen die religiösen Gemeinden, sodann im Zusammenhang mit der Säkularisation, an vielen Orten noch weit über das ausgehende 19. Jahrhundert hinaus, mal die einen, mal die anderen Bereiche der öffentlichen Dienste. Denn es ist wichtig, daran zu erinnern, dass das Ausmass an Armut im 19. Jahrhundert und noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in der Schweiz so schwer war wie auch religiöse Engstirnigkeit und sture Feindbilder, dass sich für Hunderttausende von Menschen die Emigration aufdrängte, sowohl in die nächsten Nachbarländer wie in andere Kontinente, nicht nur in die offenen Landgebiete von Süd- und Nordamerika, nicht nur nach Australien, Neuseeland und in andere asiatische Ländern, sondern auch nach Abessinien oder nach Ägypten, nach Russland und nach Kanada. Überall, wohin sie gelangten, bedurften sie der freundlichen Aufnahme und der Unterstützung, um wieder ein Zuhause zu finden.
Es war in jener selben Zeit, dass die ersten Schulen für Sozialarbeit gebaut wurden, z.B. in Zürich 1908 durch Mentona Moser und Maria Fierz, zwei junge Frauen, die einander in London an der Schule für Sozialarbeit kennengelernt hatten. Im Grossmünsterschulhaus boten sie den ersten Kurs zur „Einführung in die soziale Hilfstätigkeit” an. Es ging dabei um etwas grundlegend Politisches, das eine Veränderung des Kulturbewusstseins bewirkte: Anstelle der willkürlichen „Wohltätigkeit”, zu welcher Damen aus der „guten Gesellschaft” sich je nach dem verpflichtet fühlten, sollte eine verpflichtende und verlässliche professionelle Leistung treten. Soziale Verlässlichkeit als politische und kulturelle Verpflichtung – hierin bestand der überzeugende, kreative Ansporn. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und mit der krisenhaften Verschärfung von Armut, Erwerbslosigkeit, Wohnproblemen und Hunger in den darauf folgenden Jahren breitete sich dessen Dringlichkeit aus. Zusätzliche Kurse kamen dazu, die Ausbildung wurde vertieft und erweitert.
In der Nachfolge Mentona Mosers, die ihr sozial-politisches Engagement radikalisierte und von der Schulleitung zurücktrat, stand nun Martha von Meyenburg bei der Gestaltung und Leitung der neuen Ausbildung Maria Fierz zur Seite. 1921 gründeten die beiden Frauen die “Soziale Frauenschule Zürich”, die von Anfang an vom Kanton Zürich subventioniert wurde, später auch vom Bund und von der Stadt Zürich. Bis 1934 stand Martha von Meyenburg der “Sozialen Frauenschule” als Leiterin vor. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, von 1946 an, wurden auch Männer zur Ausbildung an der “Sozialen Frauenschule” zugelassen, die infolge dieser Öffnung 1949 ihren Namen änderte und sich fortan “Schule für Soziale Arbeit” nannte.
Bedeutungsvoll erscheint mir, dass in der Schweiz – nicht nur in Zürich, sondern ebenso in Luzern, in Genf und in anderen Städten – die Gründung von Schulen für Sozialarbeit in jener Zeit das Werk von Frauen war. Auch in den meisten anderen europäischen und ausser-europäischen Ländern ergriffen Frauen sozialpolitische Initiativen, lange bevor sie über politische Rechte verfügten. Sie gaben sich untereinander die Hand und leisteten öffentlich Widerstand gegen einen erschreckenden, blinden Massengehorsam. Ich erinnere etwa an die von der amerikanischen Soziologin und Sozialarbeiterin Jane Adams geleitete Internationale Friedenskonferenz der Frauen in Den Haag am 15. Mai 1899, der ersten dieser Art. Am gleichen Tag veranstalteten überall in der Welt Frauenorganisationen Kundgebungen: gegen das Wettrüsten, gegen Misstrauen und Gewalt, gegen Militarismus und Krieg. Besonderen Mut brauchte es für die Friedensdemonstrationen im damaligen Russland, da alle öffentlichen politischen Versammlungen, geschweige solche von Frauen, durch die zaristische Polizei verboten waren. In Spanien und in Japan gingen die Frauen an diesem Tag überhaupt das erste Mal organisiert mit einem politischen Anliegen auf die Strasse. In Amerika schlossen sich 1’250’000 Frauen den Kundgebungen an.
Der Bericht, den die deutsche Pazifistin Margarete Lenore Selenka für die Friedenskonferenz von Den Haag verfasste, liest sich heute mit Staunen. Er ist ein Dokument für die kreative Kraft, die Frauen in allen Ländern befähigte, nicht nur gegen die Kolonialkriege – etwa die Burenkriege – und gegen das Wettrüsten in Europa aufzustehen, das zu den zwei Weltkriegen führte, deren menschliche und kulturelle, moralische und materielle Zerstörungswirkung bis heute nicht geheilt ist, sondern gegen jede Art von Verachtung und Minderachtung menschlichen Lebens. Sie kämpften für die Achtung ihres eigenen Frauenlebens, für welches sie die gleichen beruflichen und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten und Rechte forderten, wie die Männer sie selbstverständlich für sich beanspruchten, für die Achtung des Lebens der Kinder, für welche sie Gesetze gegen Ausbeutung und das allgemeine Recht auf Schulbesuch und Bildung forderten und durchsetzten, für die Achtung des Lebens von Arbeiterinnen und Arbeitern, für die sie gesetzlich geregelte Arbeitszeit, Schutzbestimmungen am Arbeitsplatz und Arbeitslosengelder verlangten. Sie protestierten, gingen auf die Strasse, organisierten Versammlungen, hielten Reden und schrieben Manifeste, Briefe und Bücher, sie kämpften gegen Gewalt und Prostitution, gegen Verwahrlosung, Alkoholismus und Tuberkulose, sie gründeten und leiteten Schulen und Frauenbildungsstätten, Waisenhäuser, Kinderbetreuungsheime, Parteihochschulen und vieles mehr. Es waren Frauen aus allen Schichten der Gesellschaft, sie waren religiös oder nicht religiös, protestantisch, katholisch oder jüdisch, bürgerliche Frauen, Sozialistinnen, Kommunistinnen oder Parteilose, verheiratete Frauen oder unverheiratete. Einzelne, zumeist selbst Opfer, erkannten damals schon die besondere Bedrohung, die aus Rassismus und Antisemitismus erwuchs, eine bereits vor dem Ersten Weltkrieg quasi institutionalisierte Form der Menschenverachtung, so wie jene der rücksichtslosen Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und menschlicher Existenz oder wie jene des kalten Bürokratismus, für den menschliche Existenz nichts wie eine Nummer ist, ein “Fall”, der als erledigt abgelegt wird.
Gegen alle diese Zeitströmungen leisteten Frauen Widerstand. Dabei ging es ihnen um mehr als um die Verbesserung ihrer eigenen Lebensbedingungen. Es ging ihnen um die Lebensbedingungen derjenigen Menschen, die sich selber nicht wehren konnten, aus mannigfaltigen Gründen, es ging ihnen um die Verlässlichkeit sozialer Verpflichtung, die zugleich politische Verpflichtung ist und kulturelle Aufgabe. Im Grunde genommen ging es ihnen um die Qualität des Zusammenlebens überhaupt, die sich tatsächlich – wie es so schön in der Präambel der Verfassung heisst – an der Lebensqualität der Schwächsten in einer Gesellschaft misst.
Ich denke, dass diese Rückbesinnung auf die Anfangszeiten der sozialen Arbeit heute wichtig ist, weil wir erneut in einer Zeit der Krise stecken und Orientierungshilfen brauchen. Was stand für die Frauen, die damals, in der damaligen Krisenzeit, Initiativen ergriffen, im Mittelpunkt? Es war der Widerstand gegen die Zeitströmungen, es war die Unverfügbarkeit des einzelnen menschlichen Lebens und der Wert der menschlichen Beziehungen, es war die Verlässlichkeit in der Übereinstimmung von Entscheiden und Tun, von beruflicher Verpflichtung und Gewissen. Sozialarbeit wurde als Verbindung kultureller Verpflichtung und politischen Handelns verstanden, lange bevor Simone Weils „Einwurzelung“ bekannt war oder Hannah Arendts „Vita activa“ die Bedeutung bekam, welche Frauen wie Jane Adams und Mentona Moser durch ihr Werk und durch ihr Einstehen für dessen Umsetzung, für dessen praktische sozialpolitische Wirkung vorlebten, wie es zu jener Zeit viele weitere Frauen taten, unter anderen, allein in der Schweiz, Marie Goegg-Pouchoulin, Rosa Bloch-Bollag, Verena Conzett-Knecht, Clara Ragaz, Caroline Farner, Margarethe Faas-Hardegger, Marie Humbert-Müller, Meta von Salis-Marschlins, Emma Pieczynska-Reichenbach, Regina Kägi-Fuchsmann – um nur einige wenige zu nennen.
Mir scheint, dass sich in diesen Vorbildern der Berufskodex der sozialen Arbeit verankert findet. Wie deutlich wird dabei doch die Nichtübereinstimmung, ja die Unterminierung einer von Misstrauen und Kontrollen geprägten, repressiven Rahmenbedingung im Sozialbereich. Wenn eine optimale Qualität des pluralen Zusammenlebens und der partizipativen Freiheit angestrebt wird – nicht eine Lebensqualität privilegierter Weniger zu Lasten verwalteter Knappheiten, Abhängigkeitsbedingungen und Leidensfolgen Vieler -, muss das Wagnis aus der Anfangszeit der Sozialarbeit wieder neu gewagt werden. Sozialarbeit als Kulturarbeit und gleichzeitig als politische Vertretung der Menschenrechte lässt sich so umsetzen, dass Menschen, die der Sozialhilfe bedürfen, nicht mehr als „sicherheitsgefährdend“ oder als „Versager“ eingestuft werden, dass daher Sozialarbeit nicht mehr dem Polizei- und Sicherheitsdienst untergeordnet werden kann, sondern einem Kultur- und Sozialdepartement, sowohl auf Gemeinde- wie auf Kantons- und Staatsebene. Die Tatsache von Armut und Not, von Heimatlosigkeit und Hilfebedürftigkeit, die einher geht mit Minderwerterfahrungen und Ausgrenzungen von zahllosen Menschen, bedarf einer Korrektur, die auf Grund der menschlichen Reziprozität einer gesamtgesellschaftlichen kulturellen Verpflichtung gleich kommt. Das Grundbedürfnis, den Wert des eigenen Lebens auf stärkende Weise erleben zu können, ist unabhängig von Herkunft, von gesellschaftlichem, beruflichem oder (asyl)rechtlichem Status, von Religion, Hautfarbe oder Gesundheitszustand Ausdruck des Menschseins und bedarf des Respekts in dessen Beachtung und Erfüllung.
2.3. Was heisst „Verlässlichkeit“ im Rahmen der Sozialarbeit?
Ich werde versuchen, die Bedeutung von Verlässlichkeit zu vertiefen. Dabei gehe ich von einer Überlegung und einer Frage aus, die sich in einem der Notizbücher von Simone Weil findet, dieser früh verstorbenen Denkerin, deren philosophisches Werk geprägt ist von der Solidarisierung mit der Ohnmacht und Entwertung von Menschen, die in Armut leben. Sie hält fest: “Handlungen, die wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind. Wie funktioniert das?”
Ich gehe davon aus, dass die Arbeit im Sozialbereich zu diesen Handlungen gehört, die wie “Hebel” wirken? Doch was heisst “hin zu mehr Wirklichkeit”?
Als vor einigen Jahren eine Freundin von mir, die während drei Jahrzehnten den Beruf der Sozialarbeit ausgeübt hatte, an nicht mehr heilbarem Krebs erkrankte, unterhielten wir uns häufig über Kerngedanken von Simone Weil’s Aufzeichnungen. Lektüre und Gespräche bedeuteten ihr viel. Kurz vor ihrem Tod hielt sie in einem Brief fest, ihr Leben sei von “Glück” geprägt gewesen. Sie schrieb von ihrem Lebenskampf gegen Krankheit und Leiden sowie vom Wert der Beziehungen, die sie über ihre Arbeit erlebt hatte – von Jahren, die, wie sie schrieb, “lebenswert, interessant, herausfordernd, manchmal einfach schön, oft auch bitter waren, traumatisierte Jahre, trotzdem immer wieder gut”. Sie ermutigte ihre Bekannten, an welche ihr Brief gerichtet war, “wenn möglich bewusster, wenn möglich freudiger” zu sein, um “auch ein kleines Rädchen in der Gesellschaft zu bewegen”.
Mir schien damals, dass mit dem Rat, “bewusster, wenn möglich freudiger” zu leben, um “auch ein kleines Rädchen in der Gesellschaft zu bewegen”, eine Antwort auf Simone Weils Frage ausgesprochen wurde, was es brauche, damit das Handeln – die Arbeit, insbesondere die berufliche Tätigkeit im Sozialbereich – wie ein gutes Hebelsystem wirke, so dass “mehr Wirklichkeit” bewirkt werden könne. Doch wovon “mehr Wirklichkeit”, mögen Sie einwenden. Ist im Rahmen der Sozialarbeit “Wirklichkeit” nicht vor allem die menschliche Notsituation, Bedürftigkeit und Armut, häufig die Tatsache von Gewalt, von Ohnmacht und Einsamkeit, auch jene von belastenden politischen Strömungen und gesellschaftlichem Mangel? Kann berufliche Ausbildung überhaupt genügen, um der Not vieler Menschen entgegenzuwirken? – mögen Sie weiter fragen. Oder bedarf es eines zusätzlichen Wissens, einer besonderen Art von Gewissheit? – aber welcher, damit es möglich ist, trotz der ermüdenden, manchmal erschöpfenden Wiederholung menschlichen Unglücks und sozialer Ungerechtigkeit, auch trotz der Flüchtigkeit des eigenen Lebens, “ein kleines Rädchen in der Gesellschaft zu bewegen”? Bedeutet nicht Verlässlichkeit diese innere Gewissheit und kann somit als “Hebel” verstanden werden, als “Hebel hin zu mehr Wirklichkeit” – gemäss dem Vergleich, den Simone Weil mit dem physikalischen Hebelgesetz macht? Doch welche Art der Verlässlichkeit ist damit gemeint? Ist es die gesetzesmässige? – oder ist es die zwischenmenschliche? Oder ist es die Verlässlichkeit des Menschen in der Beziehung zu sich selbst, in der Vereinbarkeit und Übereinstimmung von Pflichterfüllung, von Denken und von eigenen Bedürfnissen, von Zeit und von moralischen Werten, von Handeln und Gewissen? Können Bildung und Weiterbildung, über welche Sie verfügen, einen Beitrag leisten, der Ihnen weiterhilft?
Tatsächlich bedeutet jede berufliche Ausbildung, auch jede Weiterbildung mehr als Anhäufung von Sachkenntnis. Sie ist ein spezifischer Weg zum Erlangen von Wissen, auch ein Weg des Erkennens und Bewusstwerdens über das Ungenügen von Theorien, ein Weg, der immer wieder an Grenzen des Wissens führt, die zu verschieben und auszudehnen ein ständiger Ansporn ist, aufmerksam zu sein und weiter zu lernen. Wissen weist somit über die spezifische Fachkenntnis – gerade im Bereich der sozialen Arbeit – hinaus auf das gelebte Leben und auf die Bedingungen der Zeit, weist über das eigene Ich hinaus auf die Beziehung zu den anderen Menschen, auf deren Bedingungen zu leben und auf die Nichtübereinstimmung der vielfältigen Bedürfnisse und Forderungen mit den Möglichkeiten, mangelnde Lebensqualität zu korrigieren. In diesem Sinn ist die Weiterbildung, die Sie gewählt haben, im besten Sinn verbunden mit dem unermüdlichen Wachhalten Ihrer Befähigung, Voraussetzungen für ein gelingendes Leben zu finden oder zu schaffen, einerseits Ihres eigenen Lebens und des Lebens Ihrer Angehörigen, andererseits des Lebens jener Menschen, die auf Ihre Wachheit und auf Ihre Fähigkeit, deren Leiden zu verstehen wie auf Ihre professionellen praktischen Kenntnisse warten, um besser leben zu können. Ob es eine Verlässlichkeit wissenschaftlicher Doktrinen und Theorien gibt, das misst sich an deren Umsetzung im praktischen Alltag.
Simone Weil hatte ihre Überlegung zu Handlungsentscheiden, die wie “Hebel hin zu mehr Wirklichkeit” wirken könnten, mit 32 Jahren aufgezeichnet. Schon in ihrer Studienzeit an der Sorbonne in Paris war die junge Frau durch ihre rationale Skepsis und durch ihr emotional geprägtes, politisches Engagement gegen jede Art von Ausbeutung und Unterdrückung aufgefallen. Nach Abschluss des Studiums unterrichtete sie während kurzer Zeit in Gymnasien auf dem Land Philosophie, hielt sich vorher – im Spätsommer 1932 – in Berlin auf, um die Lähmung der Arbeiterklasse durch die nationalsozialistische Ideologie zu untersuchen und um den französischen Lehrerverband darüber zu informieren, arbeitete dann in Aussenbezirken von Paris in Fabriken am Fliessband und an schweren Maschinen, um die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft, Erschöpfung und Arbeitslosigkeit in deren Wirklichkeit zu kennen. 1941, bei der Aufzeichnung der Überlegung, die ich ausgewählt habe, war Frankreich schon seit Monaten von der deutschen Armee besetzt und Simone Weil befand sich als Flüchtling in Südfrankreich, in einer Wartezeit zwischen dem Exodus aus Paris und der Emigration über die USA nach England. Zwei Jahre später, im August 1943, starb sie an den Folgen einer durch akute Mangelernährung (Anorexie) verursachten Tuberkulose. Sie hinterliess ein Werk, das sich weniger durch theoretische Systematik auszeichnet, als durch eine ergreifende Tiefe der Auseinandersetzung mit Fragen der existentiellen, sozialen und politischen Widersprüche, der Fragen von Macht und von zwischenmenschlicher Abhängigkeit im Entscheiden und Handeln – von Ethik – sowie von religiösen Erkenntnissen. Von verbindlicher Bedeutung war für sie “sym-pathein” – gemäss der griechischen Bedeutung die Kraft des “Mit-Leidens” -, d.h. die wache, uneingenommene Vorstellungskraft, was Leiden bedeutet und was es zur Linderung von Leiden braucht.
Kann Simone Weils persönliches Streben nach Antwort die Frage, was den “Hebel hin zu mehr Wirklichkeit” bewegt, resp. was “in der Gesellschaft ein kleines Rädchen bewegt”, weiterführen? Steht “sym-pathein” – als Sprache des Herzens resp. der Empfindung – in Verbindung zu Verlässlichkeit? Simone Weil machte mit dem Bild des Hebels einen physikalischen Vergleich, um dem Geheimnis der besseren Qualität des Handelns auf die Spur zu kommen. Da, wo es sich um den Einsatz von physikalischer Energie, von Kraft handelt, kommt dank dem Hebel eine vielfache Steigerung der Wirkung zustande, ohne dass der Aufwand vergrössert werden müsste. Bei Simone Weil heisst es unmissverständlich, sie verstehe den “Begriff des Hebels auf das innere Leben angewandt (dem Begriff der Energie entsprechend). – Wenn kein Hebel da ist, verändert man auf der gleichen Ebene, anstatt in Richtung auf einen grösseren Wert umzugestalten. Hebel und Blindenstock[9].” Dann, etwas weiter: “Selber durch seine Handlungen einen Schirm (einen weiteren Schirm) zwischen sich und der Wirklichkeit schaffen. Wie funktioniert das? – Oder, im Gegenteil, Handlungen, die wie Hebel zu mehr Wirklichkeit sind. Wie funktioniert das?[10]“
Simone Weil stellt fest, dass, solange Wissen an Wissen addiert wird, d.h. solange “kein Hebel da ist”, Veränderungen höchstens “auf der gleichen Ebene” erfolgen, im Sinn einer Summierung von Wissen, dass auf diese Weise jedoch keine qualitative Veränderung der Wirklichkeit entstehen kann, keine Verbesserung. Sie überlegt sich, welche Form der Energie die Hebelwirkung auslösen könnte. “Wie funktioniert das?” Sie hält fest, es gehe dabei um “das innere Leben”. Heisst das, dass es der Verinnerlichung des Wissens vom intellektuellen Bereich in jenen der geheimen Kräfte der Psyche – des Herzens – bedarf, damit das Wissen sich über Handlungsentscheide und über das Handeln selber, zum Beispiel über die berufliche Arbeit, auf neue Weise umsetzen lässt und auswirken kann?
Diese Verlagerung bedeutet die klärende Selbstbefragung. Es gilt, den massgeblichen Gefühlen, die das Handeln beeinflussen, nachzugehen, so dass die verschlossene innere Tür vom Unbewussten ins Bewusstsein – von den Empfindungen ins Wissen – sich öffnet und mehr Übereinstimmung, letztlich mehr Verlässlichkeit zwischen Kopf und Herz zulässt: in den Worten Simone Weils “mehr Wirklichkeit”. Das macht deutlich, dass die Sorgfalt, mit welcher der Mensch sein Wissen im Zusammenhang der Gefühle, die sein Handeln prägen, befragt, jene “Handlungen, die wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind” ermöglicht.
Diese Möglichkeiten des Handelns unterscheiden sich von jenen, stellt Simone Weil fest, die “einen Schirm (einen weiteren Schirm) zwischen sich und der Wirklichkeit schaffen”. Das Unbewusste – die Kraft des Verdrängens von Erfahrungen und von damit verbundenen Empfindungen – hat tatsächlich eine Schirmfunktion. Es stellt dem Menschen mehrere Schichten eines “Schirms” zur Verfügung und stimuliert zu Handlungen, die kompensatorischen, verhüllenden, hemmenden oder abwehrenden Charakter haben, die eventuell grosse Unruhe oder bleierne Lähmung und Erschöpfung bewirken, trotz bester Ausbildung, Sachkenntnis und gesellschaftlicher Stellung.
Solche Abwehrmechanismen gegen die vielfachen Teile der inneren Wirklichkeit sind der “Schirm”, den Simone Weil meint. Der Schirm kann so dicht und undurchdringlich werden, dass er zur Kapsel wird und zur Abkapselung führt, die alle Emotionen abwehrt. Es mag häufig nicht einfach sein, auf den “Schirm” zu verzichten und den Abwehrmechanismen nachzugehen, den Gründen und Hintergründen der eigenen Abschottung, die z.B. in der sozialen Arbeit bewirken können, dass die Lebenssituationen anderer Menschen zu abstrakten „Fällen” werden, für deren „Erledigung” administrative Kriterien genügen, als handle es sich um das Wägen und Abstempeln von Paketen per A-Post oder B-Post, auf dem Landweg oder auf dem Luftweg, und weg sind sie.
Letztlich kann das, was in der beruflichen Arbeit – und auf besondere Weise in der sozialen Arbeit – ein „bewussteres und freudigeres Leben” bedeutet, nur umgesetzt werden und „ein Rädchen in der Gesellschaft bewegen”, wenn zusätzlich zu Ausbildungen und Diplomen, zusätzlich zu Einkommen und Funktion, die Fragen der Übereinstimmung mit der eigenen inneren Wirklichkeit beachtet werden, wenn diese Fragen überhaupt zugelassen werden. Ich meine, dass das Gefühl der Übereinstimmung von innerer Klarheit und von Handeln jene Verlässlichkeit vermittelt, die dem Vergleich mit dem „Hebel hin zu mehr Wirklichkeit” entspricht, indem die berufliche Arbeit als Erfüllung der eigenen Bedürfnisse erlebt werden kann, im Sinn der Reziprozität, da sie ermöglicht, die Bedürfnisse anderer Menschen zu stillen: das Bedürfnis nach Respekt, nach Lebenswert und nach menschlicher Sicherheit.
Bevor ich abschliesse, noch kurz eine ergänzende Überlegung. Simone Weil erwähnt ja nicht nur den „Hebel”, sondern auch den „Blindenstab”. Der „Blindenstab” taucht bei ihr in vielen Aufzeichnungen als Metapher auf. Sie hat diese den „Meditationes” von René Descartes[11] entliehen, der, etwa gleichzeitig mit Spinoza – nach Montaigne und vor Kant – als einer der grossen Skeptiker die unumstösslichen Wahrheitsgebäude der Schulphilosophie zu befragen und zu dekonstruieren begonnen hatte. Die Frage, wozu den Blinden der Blindenstab dient, kann mit Gewissheit beantwortet werden. Wofür also steht der „Blindenstab” als Metapher?
Die Frage, meine ich, ist im Zusammenhang der sozialen Arbeit von Bedeutung. Den Blinden dient der Blindenstab als Mittel, um Distanz und Nähe abzuschätzen, um einen Gegenstand, der sich auf dem Weg dem/der Gehenden als Hindernis entgegenstellt, rechtzeitig wahrzunehmen, um eventuell die Grösse, Festigkeit, Härte oder Weichheit des Gegenstandes zu erahnen. Für Descartes – wie über 400 Jahres später für Simone Weil – braucht der Mensch, der sich auf den Weg der Erkenntnis macht, um die grossen Aufgaben des praktischen Lebens lösen zu können, zur Unterscheidung von Wahrem resp. Richtigem und Falschem einen „Blindenstab”. Das Nachsprechen und Sich-Berufen auf Theorien genügt nicht. Es bedarf zusätzlich der Vorstellungskraft, die letztlich eine nahe und spürbare, eine nicht begriffliche, sondern eine intuitive Erkenntnis ermöglicht und die Verstehen bedeutet. Die Vorstellungskraft vermag, das – eventuell blinde, abstrakte – Erkennen sehend zu machen. Sie vermag zu warnen und Überlegungen zu wecken, welche die Folgen von Handlungsentscheiden miteinbeziehen.
Während das Bild des „Hebels” dazu dienen kann, in der beruflichen Arbeit Handlungsentscheide mit der inneren Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen, so dass jene Verlässlichkeit spürbar wird, dank welcher eine Verbesserung der äusseren Wirklichkeit geschaffen werden kann, mag das Bild des „Blindenstabs” zur Klärung von Zusammenhängen nützlich sein, die sich den inneren Massstäben aus der äusseren Realität entgegenstellen. Das mögen Theorien sein, gesetzliche Vorgaben oder autoritäre Vorschriften, etablierte Macht- und Ohnmachtstrukturen, karrieremässige Verführungen incl. menschliche Gefährdungen – vieles mehr, das abzumessen oder abzuklopfen ist, damit Sie auf dem beruflichen Weg, den Sie in der Öffentlichkeit gehen, nicht auf verhängnisvolle Weise anstossen, zusammenprallen oder fallen. In erster Linie: damit Sie sich nicht einschüchtern lassen.
Der Einfluss, der von medialer Aufhetzung, von politischen Ideologien und Zweckbestimmungen, von technologischer Beschleunigung und Zukunftsängsten auf die soziale Arbeit ausgeübt wird, stellt häufig dringliche Vernunftgründe in den Vordergrund, verspricht eventuell auch Verbesserung des beruflichen Aufstiegs und des persönlichen Vorteils. Doch immer bedarf es dabei des „Blindenstabs”: es gilt sich zu befragen, ob diese „Vernunftgründe” mit den Werten übereinstimmen, die Sie bewogen haben, Ihren beruflichen Weg zu wählen. Ist es nicht so, dass gerade die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen menschliche Diskriminierungen gar nicht zu verbessern suchen, sondern diese noch verstärken, so dass letztlich in manchen Zusammenhängen von erschreckender bürokratischer, struktureller und wirtschaftlicher Gewalt zu sprechen ist?
Ich komme zum Abschluss. Wenn die berufliche Arbeit verknüpft wird mit Klarheit über die Bedeutung der Hintergründe von Handlungsentscheiden, mit Vorstellungskraft über die Folgen im praktischen Leben und mit Mut, kann der Wert der Verlässlichkeit sich auch auf jene Menschen auswirken, die der sozialen Hilfe, d.h. Ihres Wissens und Ihrer Fähigkeit, bedürfen. Es sind dies viele – sehr viele – Menschen, geprägt von Armut und Arbeitslosigkeit, von erlebter Gewalt, von Krieg und Flucht, von erlebtem Fremdenhass und/oder spezifischem Rassismus, von Verlust sicherer Beziehungen oder von wiederholter Verachtung wegen mangelnder Effizienz oder Markttauglichkeit, wegen körperlichen Erkrankungen, Behinderungen oder wegen psychischem Leiden – ob es erwachsene Menschen seien, Betagte oder Kinder, die immer vor allem als Objekte, über die verfügt wird, und kaum als eigene Rechtssubjekte beachtet werden. Ihre berufliche Arbeit, die Sie mit der tragenden Kraft der Verlässlichkeit ausüben werden, wird es möglich machen, Ihr Wissen mit Entscheiden zu verbinden, bei denen auch die schwächsten Stimmen, die fast unhörbaren – diejenigen der Kinder und der übrigen Rechtlosen – angehört werden.
„Hebel” und „Blindenstock” mögen in Ihnen das Vertrauen in die Dringlichkeit und in die Sinnhaftigkeit der sozialen Arbeit, die Sie leisten, verstärken, auch den Mut zu einem kreativen Widerstand gegen herabwürdigende Bedingungen, die niemand, der sie fordert, selber ertragen könnte. So mögen Sie spüren, dass es möglich sein wird, tatsächlich “ein Rädchen in der Gesellschaft bewegen zu können” – und da Sie viele sind, sogar mehr wie “ein” Rädchen.
3. Was heisst „Zumutbarkeit“ und „Zulässigkeit“ innerhalb der asylrechtlichen Massnahmen[12]
3.1. Über die schwere Last der Ungewissheit
„Ein gleichbleibendes Leiden wird nach einer gewissen Zeit unerträglich, weil die Energie, die es ertragen lässt, erschöpft ist. Es stimmt also nicht, dass in einer anderen Aktualität vergangenes Leiden nicht mehr zählt“[13].
Jede Gesellschaft wird daran gemessen, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Die schwächsten Mitglieder sind diejenigen Menschen, die keine Möglichkeit haben, sich für ihr eigenes Wohlbefinden und für ihre eigene Sicherheit einzusetzen. Es sind überall die Kinder, sodann die in irgend einer Weise „behinderten“ Menschen und ebenso diejenigen Menschen – Kinder und Erwachsene -, die, häufig geschwächt, strapaziert und leidend, als „Fremde“ in einem anderen Land um Asyl bitten. Diesen Menschen – und auf besondere Weise den Kindern – wird das Ertragen von Gewalt, von menschlicher Entwertung und andauernder Unsicherheit zugemutet, ohne Bedenken ob es selber ertragen werden könnte. Es wachsen daraus seelische Folgen, die häufig ein Leben lang weiterwirken.
Seit ich Ende der 80er Jahre begann, meine analytisch-traumatherapeutische Arbeit, die ich mit Überlebenden des Zweiten Weltkriegs, insbesondere mit Überlebenden aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern begonnen hatte, mit Leidtragenden aus wirtschaftlichen Gründen, mit Opfern familiärer Gewalt und insbesondere mit politisch und ethnisch Verfolgten sowie Überlebenden von Folter und Krieg aus der aktuellen europäischen und aussereuropäischen Geschichte fortzusetzen. Blicke ich in die letzten zwanzig Jahre zurück, so sind es insbesondere Überlebende der Kriegsgeschehnisse im ehemaligen Jugoslawien, welche durch ethnisch-religiös-rassistisch geprägte Verfolgung und militärische Gewalt zu Opfern wurden, insbesondere Menschen aus Bosnien und aus Kosovo, aber auch aus Kroatien, aus Montenegro, Mazedonien und aus Südserbien, Frauen und Kinder, manchmal Kinder allein, zum Teil auch Männer, welche die serbischen Konzentrationslager überleben konnten, Menschen muslimischer und zum Teil serbisch-orthodoxer Herkunft, Angehörige von Rroma-Familien, welche während des Kriegs, aber schon vorher und nach dem Krieg schwerste Erniedrigung und Gewalt erlebten. Es sind Menschen aus der Türkei, zumeist kurdischer Herkunft, denen in den meisten Fällen während Jahren systematische Folter durch die türkische Polizei und Armee angetan wurde; sodann Menschen aus den Kriegszusammenhängen von Sri Lanka, aus Afghanistan, aus Kambodscha, Irak und Iran, aus Kuwait, aus Libanon und Syrien, aus Marokko, aus Tunesien und Libyen, aus dem Gazastreifen und anderen Gebieten des palästinensischen Israel, aus dem Kongo, aus Südafrika, Angola, Liberia und Somalia, auch aus Ghana, aus Kuba und noch immer aus südamerikanischen Ländern, in welchen Diktatur, Krieg, Vertreibung und Gewalt das Weiterleben verunmöglichten, aus muslimischen Ländern der ehemaligen Sowjetunion resp. der heutigen Grossmacht Russland, aus weiteren Ländern dieser Welt, in welchen das Leben aufs schwerste gefährdet ist. In Hunderten von Fällen wurde ich mit Entscheiden der schweizerischen Asylbehörden – des damaligen BfF, des heutigen BfM – sowie mit den Vorgehensweisen der kantonalen Asylorganisationen, der Migrationsämter und der Polizei konfrontiert.
Es konnte vorkommen, dass Asylsuchenden mit dem Erstentscheid durch das BfF – auch noch durch das BfM – der Flüchtlingsstatus zugestanden wurde. Voraussetzung dafür war, dass ein Mensch – eine Frau, ein Mann – bei der Erstbefragung die innere Kraft hatte, sich durch die Befragung nicht einschüchtern zu lassen, sondern mit grösster Präzision die Ursachen und Zusammenhänge von Verfolgung und Gefangennahme, von erlebter Gewalt bis zu kaum beschreibbarer Folter zu schildern. Doch nicht allen Menschen steht diese Kraft zu. Immer wieder war es vorgekommen, dass Angst und Scham gerade die Schilderung schwerster Gewalt, die angetan worden war – sexueller Gewalt, Tötung von Familienangehörigen u.a.m.-, nicht zuliessen. Oft fehlten auch wegen der mangelnden Vorbereitung der Flucht oder wegen der herkunftsbedingten sozialen Strukturen die erforderten Papiere, mit denen die Identität bewiesen werden konnte (Reisepass oder Geburtsschein), oder die Flucht in die Schweiz war nicht sofort nach Ausbruch des Kriegs, sondern erst nach zahlreichen Zwischenfluchtstationen möglich geworden. Auf jeden Fall versetzte der Negativentscheid, der manchmal schnell, oft erst nach Jahren der Ungewissheit im N-Status eintraf, in einen Zustand grösster Verzweiflung. Eine erste Erleichterung, doch schnell wieder neue Ängste bewirkte auch die – insbesondere bei kollektiven Fluchtgründen – zugebilligte „Vorläufigkeit“ des Bleiberechts mit dem F-Status, die der so dringlich benötigten Sicherheit des einzelnen Menschen in nichts entgegen kommen kann, der grosse Einschränkungen im Wohn- und Arbeitsrecht, in der Familienzusammenführung, in der Auswahl ärztlicher Behandlung, in den Ausbildungsmöglichkeiten Jugendlicher u.a.m. bewirkt und der mit einem zu befürchtenden kollektiven oder individuellen Rückkehrentscheid einhergeht, der für kaum einen Menschen tragbar und oder umsetzbar ist.
Menschen in einem ungesicherten Asylstatus wird durch den Hilferuf an die Psychotherapeutin die Möglichkeit geboten, im geschützten Raum auf die Ursachen der Angst und Scham einzugehen, auf das Trauma, das oft während Jahren unter einem erstickenden Tabu steht. Was Trauma bedeutet, findet sich im Wort selber: mit „trauma“ wurde schon in der griechischen Antike das bezeichnet, was „Wunde“ und „seelische Verletzung“ bedeutet, das „Leck“ im Schiff, das gegen den Felsen prallt, wie „trauma“ in Homers „Odysse“ verwendet wurde. Die etymologische Klärung führt im Verstehen dessen, was „Trauma“ bedeutet, noch weiter: das Substantiv „trauma“ ist sowohl von „titroskein“ – durchbohren, verwunden abgeleitet wie von „teirein“ – reiben, aufreiben. Auch das „Aufreiben“ der Lebensenergie, d.h. psychische und körperliche Erschöpfung, die mit traumatisierenden Erfahrungen einhergehen, finden sich in „Trauma“ ausgedrückt. Das Leiden, das aus traumatisierenden Erfahrungen entsteht, nistet sich im Körper und in der Seele des menschen ein; es äusserst sich auf vielfache Weise, je nachdem welche Lebenserfahrungen der durchgestandenen Gewalt vorausgingen und in welchem Ausmass Gewalt angetan wurde, erlebt oder miterlebt werden musste, auf direkte oder indirekte Weise.
Oft sind es Bekannte der Opfer, die auf ähnliche Weise beklemmende Not- und Leidenszustände erlebt haben, oft Hausärztinnen- und ärzte, die die Überweisung zur Traumatherapeutin empfehlen oder beantragen. Den schweren somatischen Folgen gegenüber, die durch konstante Angst und durch das Empfinden fortgesetzten Lebensunwerts bewirkt werden, können sie wohl Medikamente verschreiben, jedoch keine Besserung bewirken, im Gegenteil. Ständige Migräne, Schlafstörungen, Schmerzen im Bereich von Nacken und Schultern, von Rücken und Hüften, Essstörungen, Verdauungsbeschwerden, ständige Müdigkeit, geschwollene Beine, Nervosität und unkontrollierbare Wutzustände, Kraftlosigkeit, Flucht in Suchtverhalten bis zur Suizidalität lassen sich auf medizinischem Weg allein nicht heilen; auch bewirken psychiatrische Massnahmen oder die Androhung von Fürsorgereduktion, von Strafverfahren, gar von Ausschaffung alles andere als eine Verbesserung der Lebenskraft resp. der Integration. Die traumatherapeutische Aufarbeitung ermöglicht die Erstellung eines eingehenden psychotraumatologischen Berichts zu Handen der eigenössischen Asylbehörden, oft auch die Zustimmung zu einer neuen asylrechtlichen Befragung, die mit einem Rekursverfahren einhergeht. Doch selbst dieses kann sich wieder über Jahre hinziehen.
Jahre anhaltender Unsicherheit, in welchen die belastende Vergangenheit sich fortsetzt und kein freier Blick auf die Zukunft zugelassen wird, bewirken ein Ausmass an Depressivität oder an Aggressivität, das bei den mitverursachenden offiziellen Instanzen kaum ein Einsehen und ein Entgegenkommen veranlasst, sondern oft das Gegenteil. Ob es sich um Entscheide über individuelle Asylgesuche oder ob es sich um kollektive Entscheide handelt, immer wird an Schreibpulten über das Leben von Menschen entschieden. ohne dass diese als Individuen die Möglichkeit haben, deutlich verstehen zu geben, dass die Rückschaffung in ein Drittland, das sie auf der Flucht durchqueren mussten, oder gar zurück in das Herkunftsland, in welchem sie nicht leben konnten, nicht zumutbar ist.
3.2. Auseinandersetzung mit der Zumutbarkeit eines negativen asylrechtlichen Entscheids
Es waren in den 90er Jahren zwei kollektive Ausschaffungsentscheide, gegen welche auf Grund der Zeitknappheit nur einzelne individuelle Rekursverfahren möglich waren, jedoch eine umfassende, menschenrechtlich fundierte Begründung der Nicht-Zumutbarkeit die Ausschaffung einer grossen Anzahl von Menschen verhindern konnte.
- So war es einerseits 1997, als nach dem Dayton-Abkommen, mit welchem die ethnischen „Säuberungen“ während des ersten Teils des ex-Jugoslawienkriegs quasi legalisiert wurden, das damalige BfF die Rückschaffung von Hunderten von Frauen und Kindern beschloss. Wir waren eine kleine Gruppe, der es innerhalb von drei Monaten gelang, sowohl die Frauen zu veranlassen, ihre eigene Geschichte aufzuschreiben wie diese Berichte in einem Buch zu veröffentlichen[14], das so viel Aufsehen bewirkte, dass keine Zwangsausschaffung erfolgte.
- Andererseits war es 1999 nach der offiziellen Beendigung des Kosovokriegs, als Hunderten von Rroma-Familien der offizielle Entscheid des BfF vorgelegt wurde, die Schweiz verlassen zu müssen. Damals liess sich die Nicht-Zumutbarkeit mit Hilfe der Zusammenarbeit mit dem öffentlich-rechtlichen Institut der Uni Bern [15] so umfassend begründen, dass diese vielen Familien und Einzelpersonen in der Schweiz bleiben durften.
In Zusammenhang der Medienkonferenz, die am 30. November 1999 für die mit Ausschaffung bedrohten Rroma und Aschkali gehalten wurde, hatte ich zum Gutachten von Prof. W. Kälin einen wissenschaftlichen Kommentar verfasst, den ich hier wiedergebe. Er mag für die Auseinandersetzung mit behördlichen Entscheiden nützlich sein:
„Unter den drei Kriterien, die bei einem Wegweisungsentscheid relevant sind – Zulässigkeit, Zumutbarkeit und Möglichkeit – verlangt die Zumutbarkeit die sorgfältigste Prüfung. Während die Zulässigkeit durch das Völkerrecht definiert ist, und die Möglichkeit der Rückschaffung von praktisch-technischen Bedingungen abhängig ist (z.B. Pass, sichere Reiserouten, Visa etc.), wird die Zumutbarkeit allein durch das Ermessen der entscheidenden und verfügenden Instanz bestimmt.
Was aber ist einem Menschen zumutbar?
Welche Lebensbedingungen sind zumutbar? Sind Hunger und Obdachlosigkeit zumutbar? Wieviel psychische und materielle Not ist zumutbar?
Ist es zumutbar, dass schwere Traumatisierungen und die daraus folgenden Leiden asylrechtlich als belangloser eingestuft werden, wenn sie nicht durch staatliche Organe noch im Rahmen eines – zahlenmässig – grossen Massakers zugefügt wurden?
Ist es Menschen zumutbar, allein wegen ihrer nicht wählbaren familiären Herkunft zu Projektionsobjekten von Hass, Gewalt und Ausgrenzung gemacht zu werden, immer erneut vertrieben und gejagt zu werden?
Ist es Menschen zumutbar, in ein Land zurückgeschickt zu werden, in welchem die Plünderer und Brandschatzer ihrer Häuser, die Vergewaltiger und Mörder ihrer Angehörigen oder ihre eigenen Peiniger entweder nicht belangt oder von den Gerichten frei gelassen werden?
Ist Kindern die ständige Demütigung, die Angst und Hilflosigkeit der Eltern zumutbar?
Ist Kindern zumutbar, keine Schule besuchen zu können, keine Medikamente zu erhalten, wenn sie krank sind, von anderen Kindern auf Grund der Ethnie geplagt und schikaniert zu werden, nie das Gefühl von Sicherheit zu erleben?
Das Gutachten von Prof. W. Kälin geht ab S. 30 ff auf die Frage der Zumutbarkeit von Wegweisungen ein und verbindet diese mit der Frage der völkerrechtlichen Zulässigkeit. Unzulässig ist eine Rückschiebung, heisst es, wenn die Bedingungen im Herkunftsland unmenschlich sind.
Was „menschlich“ und was „unmenschlich“ ist, definiert sich nach dem gleichen Menschsein der Menschen. Das Menschsein ist das gleiche in der Pluralität der menschlichen Differenz, unabhängig von Pass, Herkunft, Kultur, Hautfarbe, Religion etc., auch unabhängig vom asylrechtlichen Status. Daher müssen asylrechtliche Massnahmen, insbesondere Ausweisungen, Rückschiebungen, jedoch auch ständige existentielle Verunsicherung durch prekäre provisorische Aufenthaltsbedingungen als unmenschlich – mithin als unzulässig – beurteilt werden, auch wenn sie in Abhängigkeit von Pass, Herkunft, politischem Status etc. als zumutbar deklariert werden.
Wenn dies stattfindet, d.h. wenn die asylrechtliche und fremdenpolizeiliche Praxis Identitätskriterien auf massgebliche Weise zu einer Differenz des Menschseins werden lässt, wenn existentielle Not und Bedrohung, Demütigungen und Diskriminierungen, psychisches Leiden und physische Mangelversorgung für Fremde, zum Beispiel für Rroma, als zumutbar erklärt werden – Bedingungen, welche die zuständigen BeamtInnen für sich selber, für ihre Kinder und Angehörigen, ja vermutlich für alle SchweizerInnen als völlig unzumutbar abweisen würden -, handelt es sich nicht nur um völkerrechtlich unzulässige Massnahmen im Asylrecht, sondern um die Reproduktion einer rassistischen Differenzpraxis, die zur Verfolgung und Vertreibung der Asylsuchenden in ihren Herkunftsländern geführt hat.
Die entscheidende Frage ist, ob Menschen aus einer anderen Herkunft und Kultur, aus einer sogenannt anderen Ethnie Anderes zumutbar ist als Schweizerinnen und Schweizern. Ob fremden Kindern zumutbar ist, was den eigenen Kindern in keiner Weise zumutbar wäre.
Die Zumutbarkeit – und damit die Zulässigkeit – von asyl- und ausländerrechtlichen Massnahmen ist daher eine Frage der Ethik, die durch die Genfer Flüchtlingskonvention, die EMRK und die Verfassung zum rechtlich normativen Massstab erklärt wurde. Verantwortlich für die Wahrung oder die Verletzung ethischer Normen ist nicht allein die Regierung, sondern auch die ihr untergeordneten Instanzen, letztlich jedes entscheidungs- und handelungsbeauftragte Individuum.
Was zumutbar ist, bedarf einer sorgfältigen Prüfung, damit nicht in den einzelnen Entscheiden Schuld entsteht. Das Instrument für diese Prüfung der Zumutbarkeit ist die persönliche Vorstellungskraft und das Gewissen. Massstab für den richtigen Entscheid ist nicht das Gesetz, sondern die übergeordnete normative Ethik.“
3.3. Austreten aus der „freiwilligen Knechtschaft“
Die Frage der Zumutbarkeit berührt somit die zentralen Aspekte der Auseinandersetzung mit dem richtigen Entscheiden und dem richtigen Handeln. Es liegt vermutlich nicht an der Kenntnis der ethischen Grundsätze, ob sich diese auf das Zweite der Zehn Gebote oder auf Kants kategorischen und praktischen Imperativ oder auf neuere grundlegende philosophische Merksätze – zum Beispiel jene Simone Weils – und der auf die aus den Kriegserfahrungen entstandene Menschenrechtserklärung beruhen. Doch die theoretische Kenntnis ethischer Massstäbe bedeutet nicht gleichzeitig Verstehen deren Umsetzung in der Praxis. Oft macht sich ein innerer Widerstand bemerkbar, das Verstehen als Massstab für das eigene Handeln zuzulassen. Die Frage stellt sich, warum dies so schwer fällt, warum – selbst wenn die Beachtung der Reziprozität resp. der zwischenmenschlichen Grammatik des Respekts kein Rätsel mehr ist und das Einsehen oder Verstehen des Richtigen und Falschen als dringlich erscheint – warum das eigene Tun oder Lassen oder anders Handeln kaum so zu lenken ist, dass daraus ein Empfinden von Freiheit wächst, dem das gute Gewissen die Bestätigung ermöglicht. Warum ist Freiheit in aller Mund und wird als Grundrecht theoretisch kaum in Frage gestellt, ist jedoch im praktischen Alltag zumeist höchstens als Willkür erlebbar, jedoch kaum als bewusstes Erwägen und Wählen des richtigen Tuns? Und warum ergeben sich kollektive Verhaltensweisen resp. politische Gruppen- und Massenbewegungen, bei welchen je individuell andere, eigenständige Entscheidungsmöglichkeiten nicht mehr in Frage kommen?
Es ist interessant, dass diese Frage schon vor mehr wie 400 Jahren für einen jungen Denker von zentraler Bedeutung war – Etienne de la Boëtie[16] -, der, als er mit 33 Jahren starb, ein Werk zurück liess, das erst später von seinem Freund Michel de Montaigne[17] veröffentlicht wurde und das noch heute Beachtung verdient. Es ist die „Rede von der freiwilligen Knechtschaft“ („Discours de la servitude volontaire“)[18], in welcher ohne die geringste Überheblichkeit die menschliche Unterwerfungshaltung sowie das Mitläufertum auf die Ursachen hin untersucht werden. Wir wissen, dass, wenn Ursachen erkannt werden können, Lösungsmöglichkeiten im Guten ebenso erkennbar sind. Doch wiederum stellt sich die Frage, ob deren Umsetzung zugelassen wird.
Für Etienne de la Boëtie ist klar, dass „wer philosophiert, mit seiner Zeit nicht einig sein kann“[19], d.h. wer die Zeitgeschehnisse kritisch betrachtet, jede Art von Machtmissbrauch erkennt, hinterfragt und zu korrigieren trachtet. Menschliche Erniedrigung und Entwürdigung können nie gerechtfertigt werden; kein Unrecht lässt sich mildern, ob die politischen Umstände, unter denen es geschieht, auf Grund eines „durch Usurpation oder Erbfolge oder gar durch die Wahl des Volkes zur Macht gelangten Tyrannen“ geschieht[20]. Für Etienne de la Boëtie steht fest, dass Unrecht sich nie legitimieren lässt, gleichzeitig, dass, wenn kein Aufbegehren dagegen geschieht, das Urteilsvermögen der Menschen in einem Volk „durch Gewohnheit verkümmert ist. (…) Wer die Gewalt duldet, ohne ihr zu widerstehen, ist krank. Wer diese Gewalt billigt oder an ihr teilhat, ist rettungslos krank.“[21]
Gewiss, zur Zeit von Etienne de la Boëtie ging es um schwer kontrollierbare Machtansprüche von Königtum und Religion, es ging um Kriege zwischen Katholiken und Huguenotten, die einander gegenseitig ein unerträgliches Ausmass an Gewalt antaten, einander beraubten und verjagten, erschlugen und verbrannten. Die Behauptung auf beiden Seiten, allein Recht und Richtigkeit zu vertreten, ging einher mit gnadenloser Intoleranz.
Für Etienne de la Boëtie ging es nicht um die Frage, wem Richtigkeit und Macht zustand, sondern allein um die Tatsache, dass keine Art von Gewalt und Unterwerfungszwang – von Unrecht und von Knechtschaft – akzeptierbar ist. Macht ist nach seiner Beurteilung immer ungleich verteilt, doch wer auf Grund von Funktion und Stellung Macht ausübt, trägt in erster Linie die Verantwortung, jede Art von Unrecht und von Knechtschaft zu verhindern. Misstrauen gegenüber Untergebenen beruht nach Etienne de la Boëtie auf Machtmissbrauch, so wie Unterwerfung, die das Tun, ja das eigene Denken zu Gehorsam verpflichtet, der selbst gewählte Verlust von Freiheit ist. Freiheit – die innere Freiheit, ohne Zwang zu denken und danach zu handeln – ist für Etienne de la Boëtie ein so unbestreitbarer, höchster Wert, dass jeder andere Wert, selbst die Freundschaft darauf beruht. „Lernen wir doch einmal, lernen wir recht zu handeln“[22], ermuntert er zum Abschluss seiner Überlegungen. Viele zeitgenössische und spätere Leser und Leserinnen seiner Schriften nahmen seine Aufforderung ernst.
Die Aufforderung gilt auch heute. Wir wissen, dass das System der Demokratie durch den neoliberalen Machtmissbrauch der populären Medien zu einem System des Unrechts wurde, das durch „die Macht des Volkes“ eine lautstarke Feindseligkeit gegenüber Fremden und Schwachen, Kranken und Hilfebedürftigen Gesetze zustande brachte, die die Menschenrechte auf vielfältige Weise missachten. Auch Demokratie lässt Missbrauch durch machthungrige Propaganda und ideologische Knechtschaft zu, deren Stimmenzahl und Lautstärke das freie, kritische Denken zu ersticken droht. Doch so lange dieses vorhanden ist, kann auch seine Stimme hörbar werden, und diese, vereint mit den Stimmen der Machtlosen, kann bewirken, dass Unrecht nicht länger als Recht gelten kann.
[2] Kant. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 67
[3] Wie bei Aristoteles werden noch während Jahrhunderten allein männliche Subjekte als entscheidungsfähig bezeichnet.
[4] Der Rekurs auf die „göttliche Fügung“ findet sich in der Prädestinationslehre wieder; es wurde damit auf vergleichbare Weise Unheil angerichtet wie mit der späteren biologistisch-rassistischen Vererbungslehre.
[5] „L’objet de l’obligation dans les domaines des choses humaines est toujours l’être humain comme tel. Il y a obligation envers tout être humain, du seul fait qu’il est un être humain, sans qu’aucune autre condition ait à intervenir, et quand même lui n’en reconnaîtrait aucune. Cette obligation ne repose sur aucune situation de fait, ni sur les jurisprudences ni sur les coutumes ni sur la strucutre sociale ni sur les rapports de force ni sur l’héritage du passé ni sur l’orientation supposée de l’histoire. (…) Cette obligation ne repose sur aucune convention. Car toutes les conditions sont modifiables selon la volonté des contractants, au lieu qu’en elle aucun changement dans la volonté des hommes ne peut modifier quoi que ce soit. Cette obligation est éternelle. Elle répond à la destinée éternelle de l’être humain. Seul l’être humain a une destinée éternelle. Les collectivités humaines n’en ont pas. Ainsi n’y a-t-il pas à leur égard d’obligations directes qui soient éternelles. (…) Le fait que l’être humain possède une destinée éternelle n’impose qu’une seule obligation: c’est le respect. L’obligation n’est accomplie que si le respect est effectivement exprimé, d’une manière réelle et non ficitve. Il ne peut l’ètre que par l’intermédiaires des besoins terrestres de l’être humain.“ (Simone Weil. Enracinement. Gallimard 1949, S. 11 ff)
[6] Die Sozialcharta wurde durch den Europarat laufend revidiert; die revidierte Fassung wurde 1996 verabschiedet und trat 1999 in Kraft.
[7] Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) hält fest, dass die Unterstützungsbedingungen den Lebensbedingungen der einkommensschwächsten Bevölkerungsgruppe der Schweiz entsprechen müssen.
[8] Prof. Dr. Peter Sommerfeld (Ko-Präsident) und Prof. Dr. Annegret Wigger (Ko-Präsidentin)
[9] S.W. Cahiers. Aufzeichnungen. Erster Band., Carl Hanser Verlag, München/Wien 1994, S. 212
[10] a.a.O. S.215
[11] geb. 31.3.1596, gest. 11.2.1650
[12] Erstmals anlässlich der Medienkonferenz vom 30. November 1999 als Beitrag zum Gutachten von Prof. Walter Kälin „ Zur flüchtlingsrechtlichen Situation asylsuchender Rroma und Aschkali in der Schweiz“
[13] Simone Weil. Cahiers / Aufzeichnungen. Bd. 2. Übersetzung Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Verlag Carl Hanser, München/Wien 1003
[14] Maja Wicki / Anni Lanz (Hrsg.) So viel standen wir durch. Dorthin können wir nicht zurück. Flucht- und Exilgeschichten von Kriegsvertriebenen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Rotpunktverlag, Zürich 1997
[15] Die flüchtlingsrechtliche Situation asylsuchender Roma und Aschkali in der Schweiz. Gutachten von Prof. Dr. Walter Kälin unter Mitarbeit von lic. iur. Andreas Rieder und Fürsprecherin Judith Wyttenbach, Bern 27. 11. 1999.
[16] geb. 1. 11. 1530 in Sarlat (Périgord), gest. 1563 in der Nähe von Bordeaux
[17] geb. 28. 2. 1533 im Périgord und gest. 13. 9. 1592 als bedeutender skeptischer Denker
[18] In französischer und deutscher Ausgabe erschienen in der Europäischen Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 1980
[19] cf. 18, S. 17
[20] cf. 18, S. 19
[21] cf. 18, S. 18-19
[22] cf. 18, S. 95