Simone Weil in Marseille – Genial und widerspenstig, furchtlos
Simone Weil (3. Februar 1909 – 24. August 1943)
Genial und widerspenstig, furchtlos
Ab 1933 beherbergte die Wohnung von Bernhard und Selma Weil an der Rue Auguste-Comte in Paris 6ième Verfolgte aus Deutschland wie aus Russland, unter diesen auch Leo Trotzki resp. Leo Dawidowitsch Bronstein, gemäss dem Entscheid der damals 24jährigen Tochter Simone, für die selber nicht in Frage kam zu fliehen. Als nach dem Anschluss Österreichs ans Dritte Reich, nach der Besetzung der Tschechei und Polens der Krieg voll ausgebrochen war und der Vormarsch von Hitlers Armee Holland und wenige Tage später Belgien widerstandslos zusammenbrechen liess, als judenfeindliche Gesetze, Plagereien und Schikanen, Gefangennahmen und Abtransporte auch in Frankreich schon zur Tagesordnung gehörten, weigerte sich Simone Weil weiter, Paris zu verlassen. Am 13. Juni 1940 gab es keinen Aufschub mehr, die Stadt war zur „offenen Stadt“ erklärt worden. Weil ihr Vater Arzt war, fand sie mit ihren Eltern noch Platz in einem überfüllten Zug Richtung Süden. Am 14. Juni war Paris von der deutschen Wehrmacht besetzt.
Während knapp zwei Wochen verweilten Simone Weil und ihre Eltern unter unzähligen Flüchtlingen in Nevers an der Loire. Sie traf Boris Souvarine (resp. Boris Konstantinowitsch Lifschiz), der sie 1935 um die Beherbergung Trotzkis in Paris gebeten hatte, und andere Freunde aus ihrem politischen Kreis, die Fragen und Kenntnisse über fehlende Freunde austauschten, vor allem über die bedrohliche politische Lage. Die deutschen Panzerdivisionen drangen weiter vor. Zu Fuss erreichten die Weils Vichy, wo sie an der Rue du Bourbonnais bis ca. 20. August verharren mussten, Simone Weil auf dem Boden in der Küche der kleinen Wohnung. Zorn über den von ihr – wie von Daladier, Léon Blum und zahlreichen linken Denkern – lange vertretenen Pazifismus, Verzweiflung ob der Kapitulation und Kooperationsbereitschaft der französischen Regierung unter Pétain und Laval, gleichzeitig eine eiternde Wunde am Bein, die von der 1936 im Spanischen Bürgerkrieg im Dienst der Internationalen Brigaden erfolgten Verbrennung herrührte und auf der Flucht wieder aufgebrochen war, mit der Wunde Erinnerungen an die menschliche Verrohung und Brutalität, die sie damals mit Erschrecken beobachtet hatte, all dies waren hindernde und gleichzeitig antreibende Faktoren. Simone Weils Ziel war damals, nach Algerien oder Marokko, schliesslich nach London zu gelangen, um einen Beitrag im Kampf gegen Hitlers untragbaren Herrschaftsanspruch über Europa zu leisten.
Während der Wochen unterwegs stand sie in ständigem Briefverkehr in verschlüsselter Sprache – zum Teil in Griechisch, zum Teil in Sanskrit – mit ihrem Bruder André, dem seit der Kindheit nächsten Verbündeten, einem schon damals berühmten Mathematiker, der selber in Gefahr war. Seit der Adoleszenz hatte er bei Sylvain Lévi Sanskrit studiert und ihr die Liebe zum unbeugsamen Lernen vermittelt. Bald nach Hitlers Einmarsch in Polen am 1. September 1949 war André Weil in Finnland unter dem Verdacht russischer Spionage gefangen genommen worden, entkam knapp der Hinrichtung und wurde an Frankreich ausgeliefert. Unter der Bedingung, Militärdienst zu leisten, wurde er aus der Haft entlassen. Er konnte untertauchen und Ende Januar 1941, nachdem er in Clérmont-Ferrand seine Frau und deren Sohn finden konnte, über Marseille – dank der Unterstützung durch Varian Fry, den Verantwortlichen des amerikanischen Emergency Rescue Comitee – in die USA fliehen, wo er sich um Visa für seine Eltern und seine Schwester bemühte.
Nicht nur mit ihrem Bruder stand Simone Weil in schriftlichem Austausch, sondern auch mit zahlreichen Studienkollegen und -kolleginnen aus dem Lycée Henri IV, wo sie durch den Unterricht in Philosophie durch Emile Chartier – Alain – zutiefst geprägt worden war, so wie mit jenen, die ebenfalls an der ENS, der Ecole Normale Supérieure, das Studium hatten fortsetzen können, das sie 1931 bei Léon Brunschvicg mit einer ungewöhnlichen Arbeit über Descartes als Mathematiker abgeschlossen hatte. Wie viele dieser Intellektuellen hatte sie in Verbindung zu marxistischen, anarcho-syndikalistischen Gruppierungen gestanden, wobei sie sich früher als die meisten gegen jede Art ideologischer Verblendung kritisch äusserte, gleichzeitig sich um Volkshochschulen und um gerechten Lohn für Fabrikarbeiter bemühte wie furchtlos Demonstrationen von Arbeitslosen anführte. In Le Puy, wo sie ihren ersten Lehrvertrag in Philosophie hatte, wurde sie als „juive rouge“ resp. als „vièrge rouge“ angeprangert, bis ihr aus politischen Gründen gekündigt wurde. Ohne von ihrer gesellschaftskritischen Haltung abzusehen, setzte sie die Lehrtätigkeit noch in Auxerre und in Roanne fort, bis sie sich entschloss, trotz konstanter Migräne als ungelernte Arbeiterin am Fliessband die menschliche Entrechtung im Fabriksystem kennen zu lernen. Im Fabriktagebuch von 1934-1935 wie in den Briefen und Aufsätzen aus jener Zeit findet sich eine aufwühlende Dokumentation der Herrschaftsverhältnisse in der Grossindustrie, die sich allen emanzipatorischen Bestrebungen entgegenstellen.[1]
Treffpunkt Marseille
Ende August/Anfang September 1940 gelangte Simone Weil mit ihren Eltern von Vichy nach Toulouse. Vergeblich bemühte sie sich um ein Durchreisevisum durch Portugal, es war aussichtslos. Auch Suzanne Aron konnte sie nicht treffen, mit der sie studiert hatte und die in Toulouse eine Professur in Philosophie ausübte. Vermutlich aber kam sie mit Nicolas Lazarévitch zusammen, den sie 1936 im Umkreis von Durruti in Spanien kennen gelernt hatte, der aus dem Lager von Vernet ausgebrochen und auf der Suche nach seiner im Lager von Rieucros inhaftierten Ehefrau Ida Mett (resp. Ida Gilman) und dem gemeinsamen Sohn Marc war. Lazarévitch beschloss, sich in Marseille um Visa für die USA zu bemühen. Sie wurden ihm verwehrt und er musste in Frankreich für sich und seine Familie Versteckmöglichkeiten finden. Wieder war es Boris Souvarine, der, noch bevor er von der Vichy-Polizei verhaftet wurde, ihm und seiner Familie zu einer sicheren Unterkunft verhelfen konnte.
Etwa gleichzeitig wie Lazarévitch gelangten auch Simone Weil und ihre Eltern Mitte September nach Marseille, in diesen Sammeltopf von Flüchtlingen, unter denen sich sofort unterschiedlichste Gruppierungen bildeten. Unterschlupf fanden Weils zuerst in einer Familienpension, nicht weit entfernt vom Lager von Mazargues, in welchem damals indonesische Arbeiter inhaftiert waren. Simone Weil setzte sich sofort für diese ein, stellte ihnen ihre Essensration zur Verfügung, hörte ihre Klagen an und schrieb zu ihren Gunsten Gesuche an die Vichy-Regierung, unentwegt, auch für Insassen anderer Lager. Sie war über alle im Bild, auch über jenes von Gurs. Ab Mitte Oktober konnten Weils eine Wohnung an der Rue des Catalans mieten, mit Blick aufs Meer. Da die Familie ohne das kleinste Gepäck Paris verlassen hatte, jedoch Hab und Gut durch die Haushälterin geschützt wusste, konnte über die Firma Cook das Wichtigste in Kisten verpackt nach Marseille nachgeschickt werden, für Simone mit Hilfe von Simone Pétrement, ihrer nächsten Freundin und späteren Biographin, ein Teil der ihr wichtigen Bücher in Griechisch und in Sanskrit sowie ein Grossteil ihrer noch unveröffentlichten Gedichte und philosophischen Manuskripte. Ihr Zimmer an der Rue des Catalans, wo sie auf dem Boden schlief, war übersät von Papieren und wurde zum Treffpunkt, zum Gesprächs- und Arbeitsraum für viele.
Möglicherweise war die vornehme Wohnadresse ein Grund, weshalb die Weils am 3. und 4. Dezember 1940 anlässlich der Razzia gegen die jüdische Gemeinde und gegen auffällige Flüchtlinge in Zusammenhang von Pétains Besuch in Marseille unbeachtet blieben. An die 20‘000 Menschen wurden damals in Gefängnisse, in Kinosäle und auf vier Meerschiffe abgeschoben. Wie Laure Adler berichtet, habe sich Simone Weil in ihrer Widersprüchlichkeit, „dazu zu gehören und nicht dazu zu gehören“, eher missachtet statt erleichtert gefühlt. Bei einer späteren Hausdurchsuchung und mehrtägigen Befragungen durch die Polizei zeigte sie sich so angstfrei und souverän, dass sie ihre Tätigkeiten fortsetzen konnte.
Wartezeit – überaktiv und furchtlos
Es gab drei Kreise, die Simone Weils Wartezeit erfüllten. Der erste Kreis war jener der Cahiers du Sud, wo sie mit einer grossen Anzahl bedeutender Dichter und Denker einen Austausch fand – u.a. mit Jean Ballard, dem Begründer der Cahiers du Sud, mit Gabrielle Neumann, die auch der verbotenen Edition du Sagittaire vorstand, Francine Bloch, einer Literaturkritikerin und Lektorin (ebenfalls für den Verlag Sagittaire), Jean Tortel, einem Dichter und Essayisten, Jean Lambert, einem Literaturwissenschaftler und Dichter, René Daumal, Simone Weils Sanskritlehrer, der mit seiner Frau Vera Milanova aus Paris geflohen war, Déodat Roché, einem Rechtsgelehrten und Kulturhistoriker, Lanza del Vasto, einem Gandhi-Schüler und Friedensaktivisten, und vielen mehr, darunter Joë Bousquet, der gelähmt, infolge schwerer Verwundung im Ersten Weltkrieg, als Schriftsteller und als Mitherausgeber der Cahiers du Sud eine wichtige Vermittlerrolle einnahm. Ab Dezember 1940 publizierte Simone Weil hier unter dem Pseudonym Emile Novis mehrere bedeutende Arbeiten, zuerst L’Iliade. Das grosse Erbgut der griechischen Antike war für sie von zeitüberdauerndem Wert, Antigone ein Vorbild des Mutes, die platonische Ideenlehre ein religiöses Denkangebot, in welchem sie die Verbindung zwischen den Lehren Sokrates‘ und Jesu‘, der Bhagavat Gita und jener des Tao fand. Jean Lambert hatte von ihr festgehalten, sie sei wie ein „verwundetes Vögelchen“ in diesem Kreis erschienen, „in weiter, schwarzer Pelerine, die sie nie ablegte und die ihr um die Waden schlug; bewegungslos, stumm sass sie am äussersten Ende eines alten Sofas, allein. Liess uns sprechen. . . Eine Präsenz, sie war da. Ungewöhnlich, vielleicht unverständlich. Fremd unter uns, schaute mit einer Intensität und einem fordernden Wissenshunger, wie ich nie wieder erlebt habe.“ Es gibt einige Fotos von ihr aus dieser Zeit, die Gilbert Kahn gemacht hat und die sie so wiedergeben.
In den zweiten Kreis wurde Simone Weil durch einen Studienkollegen ihres Bruders, den Mathematiker Pierre Honnorat und dessen Schwester Hélène, eingeführt. Auf der Spurensuche nach dem abwesenden Göttlichen, zugleich nach der grossen Ordnung der Kräfte befand sie sich seit Jahren, in Marseille wurde diese verdichtet. Im Vordergrund waren es physikalische Fragen, insbesondere das Studium von Max Plancks Quantentheorie, die sie unter philosophischen Aspekten auch für die Cahiers du Sud formulierte. Nun bot sich ihr mit Hélène Honnorat, die gläubige Katholikin war, ein neuer Boden an. Einerseits fand sie dank ihr Zugang zum Husserlianer Gaston Berger (dem Vater von Maurice Béjart) an der Universität von Aix, der als bedeutender Husserl-Kenner ihrem philosophischen Denken Ansporn gab, andererseits zu Père Perrin, einem erblindeten Dominikaner, mit welchem sie in langen Gesprächen um eine Klarheit zwischen ihrer nicht verneinbaren jüdischen Zugehörigkeit, ihrer Ablehnung des Judentums als Religion und ihrer Nähe zum Inhalt der Evangelien, nicht aber zur katholischen Kirche rang. Die katholische Kirche erschien ihr als Fortsetzung der römischen Herrschaft. Jede Art von Alleinrichtigkeitserklärung einer Lehre und damit verbundenem „anathema sit“ resp. Ausschluss bei Nichtübereinstimmung, erachtete sie als totalitär. Sie war der Überzeugung, dass Religion und freies, kritisches Denken sich nicht ausschliessen dürfen, die Taufe kam daher nicht Frage. Trotzdem war in ihr eine grosse Sehnsucht nach Zugehörigkeit zum Mysterium des Göttlichen, die umso fordernder wirkte als sie ihr unerfüllbar erschien.
Diese Sehnsucht und die philosophische Suche nach Erkenntnis hatten in Simone Weil dieselbe Quelle. Sie stellte sich vor, durch Landarbeit grössere Klarheit zu erlangen, durch hartes, einfachstes Leben als „fille de ferme“, wie sie am 6. August 1941 Gilbert Kahn schrieb: „Noch bin ich in Marseille, werde aber morgen nach Saint-Marcel d’Ardèche fahren. (…) Ich werde mich freuen, Sie zu sehen, vorausgesetzt dass Sie nicht vergessen, dass ich fortan mehr oder weniger eine Magd sein werde (…), ab Oktober ganz und gar, dann in Maillane.“ Sie schrieb ihm auch, dass sie erwarte, ein Erlöschen der Intelligenz durch die Folgen der Müdigkeit zu erleben, trotzdem betrachte sie die körperliche Arbeit wie eine Reinigung – eine Reinigung durch Leiden und Erniedrigung. Als grösste Versuchung galt für sie jene der Trägheit, die Flucht vor dem wirklichen Leben und dessen Grenzen, vor der wesentlichen Grenze: der Zeit. Analog zu ihrem Entscheid der Fabrikarbeit wollte sie sich dieser Versuchung entgegen stellen, mit äusserstem Willen.
Gastgeber waren in Saint-Marcel Gustave Thibon und dessen Frau, ein Weinbauer und Laientheologe, der ihr von Père Perrin empfohlen worden war und dem sie vor der Ausreise in die USA ihre Tagebücher anvertraute. Er hielt fest, sie habe bei der ersten Begegnung fremd auf ihn gewirkt, wie verwahrlost, gebeugt und älter als sie gewesen sei, jedoch mit wunderbaren Augen. In Kleidung und Gepäck habe sie sich mit königlicher Allüre über alles Übliche hinweggesetzt, das ermöglicht hätte, dass sie nicht aufgefallen wäre. Sie habe bedingungslosen Respekt geweckt. Simone Weil verweigerte jeglichen Komfort, war schliesslich mit einer Hütte in Nähe der Rhone einverstanden, wo sie auf der Erde schlief. Sie arbeitete mit eiserner Disziplin, ungeschickt und linkisch, ernährte sich aufs knappeste, gab Thibon zusätzlich Griechischunterricht und erläuterte in langen Gesprächen mit monotoner, leiser Stimme erkenntnistheoretische Überlegungen. Ihren Eltern schrieb sie, sie erlebe beste Erholung in einer wunderschönen Landschaft. Schwere Arbeit werde sie ab Mitte September bei der Traubenernte leisten. Simone Pétrement, die sie vorher besuchte, fand bei ihr den ihr eigenen Humor wieder und die gewohnte Gründlichkeit im Durchdringen philosophischer und naturwissenschaftlicher Fragen, gleichzeitig eine andere Milde und Weichheit sowie grosse Müdigkeit und Besorgtheit. Sie habe ausführlich ihren Pessimismus für die Zukunft der Zivilisation erläutert, sei ebenso ausführlich auf die Dringlichkeit einer Umsetzung ihres Projekts eingegangen, dass Frauen in der Aktualität des Kriegs an vorderster Front als Krankenschwestern für Verwundete eingesetzt würden, zuerst sie selber. Irgendwann habe sie auch leichthin erwähnt, in Marseille von der Polizei abgeführt und ausgefragt worden zu sein.
Es ist anzunehmen, dass das Misstrauen der Vichy-Polizei Simone Weil gegenüber mit dem dritten Kreis zusammenhing, in welchem sie aktiv war und der so geheim war, dass davon weder ihre Eltern noch Simone Pétrement noch ihr Bruder wussten. Es gab lediglich zwei Personen, die davon Kenntnis hatten und die ebenfalls unter strengster Schweigepflicht standen. Dies waren der Père Perrin und Malou Blum-David, eine junge Historikerin (verheiratet mit Jean-Pierre Blum, Léon Blums Neffen, der selber hatte untertauchen müssen). Erst 1998 hat Malou Blum, damals 79 Jahre alt, mit ihrem Buch Le Choix de la Résistance die Hintergründe dieser Bewegung voll aufgedeckt. Simone Weil, die zehn Jahre älter war wie sie, kommt überall im Buch vor, ein ausführliches Kapitel gilt ihr, voller Verehrung für ihre politische Unerschrockenheit und ihre Herzenswärme.
Père Perrin und Malou Blum gehörten zum Kern einer politischen Widerstandgruppe, die Mitte 1941 in Marseille begann und sich in Lyon und Saint-Etienne, später auch in Paris mehrheitlich unter linkskatholischen Intellektuellen vernetzte, lange bevor die bewaffnete Résistance 1943 nach der totalen Unterwerfung Frankreichs durch die deutsche Armee im Maquis einsetzte. Malou Blum, damals 22 Jahre alt, war das organisatorische Herzstück. Die Dringlichkeit des Widerstands gegen die Vichy-Regierung habe sich für sie nach der Lektüre von Hitlers Mein Kampf aufgedrängt, hielt sie fest, auf Grund der absoluten Unvereinbarkeit zwischen der menschenverachtenden nationalsozialistischen Ideologie und der Lehre Jesu, wie sich diese in den Evangelien finde. Ab November 1941 erschienen unregelmässig bis Juli 1944 in einer Auflage zwischen 5000 und 60‘000 die Cahiers du Témoignage chrétien, ein geheimes Informationsheft, das in erster Linie der Aufklärung über die menschenrechtswidrigen Strukturen des Nationalsozialismus, über die Zusammenhänge und Auswirkungen des Antisemitismus, über Deportationen und Konzentrationslager, über die Realität unvorstelllbarer Quälereien und systematischen Tötens, daher über die Legitimität und moralische Notwendigkeit des Widerstandes. Diese Notwendigkeit wurde von namhaften Denkern begründet und dokumentiert, von Theologen wie Gaston Fessard, Pierre Chaillet und Henri de Lubac, von Journalisten wie André Mandouze, die im Untergrund lebten, oder von Schriftstellern wie Georges Bernanos, die Europa rechtzeitig verlassen hatten und aus dem Ausland mitarbeiteten, von vielen mehr. Die Erkenntnis der Dringlichkeit wurde praktisch umgesetzt. Für jüdische Flüchtlinge, für Kinder und Erwachsene, für politisch Verfolgte wie für „normale“ Franzosen, die sich gegen Zwangsarbeit in Deutschland wehrten, wurden ungezählte falsche Pässe und Schutzorte geschaffen, die ein Überleben ermöglichten. Die Cahiers zu drucken und zu verteilen, die Informationen zu verbreiten und zur Notwendigkeit des Widerstandes aufzurufen, war grösstes Risiko. Gefangenahme durch die Vichy-Polizei und Abtransport durch die Deutschen war der Hintergrund. Simone Weil tat es in nächtlicher Arbeit und mit grösster Verlässlichkeit von Dezember 1941 bis Mai 1942.
Es ist diese starke menschliche, politische und geistige Vernetzung, die für Simone Weil die Zustimmung zur Überschiffung in die USA so schwer machte. Ihre Eltern weigerten sich, ohne sie wegzufahren, es blieb für sie keine Wahl. Sie hatte Bücher und Manuskripte aufs sorgfältigste zu verteilen begonnen, am Schluss Hélène Honnorat, bei der sie die letzte Nacht verbrachte, damit beauftragt. Am 14. Mai hoben die Weils auf der Maréchal Lyautey ab Richtung Casablanca ab. Es sind bewegende Briefe der Freundschaft und der Trauer, des Durchhaltewillens, auch des Zorns und Grauens über die Entwicklung in Europa, die die Reise begleiten, von Casablanca auf einem portugiesischen Dampfer über die Bermudas nach New York, wo sie und ihre Eltern am 6. Juli eintrafen. Ihr Entscheid war, von dort so schnell wie möglich nach London zu gelangen, allen Schwierigkeiten zum Trotz. Für sie galt, ihren Plan realisieren zu können. Sie besuchte in Harlem einen Kurs für Erste Hilfe, nahm ungezählte Gesprächs- und Briefkontakte auf, u.a. mit Maurice Schumann, der zwei Jahre jünger wie sie, ebenfalls das Lycée Henri IV in Philosophie bei Alain abgeschlossen hatte. Auf einem schwedischen Frachtboot traf sie am 25. November 1942 in Liverpool ein, wo sie erfuhr, dass seit dem 18. November Marseille von der Wehrmacht und vom berüchtigten Polizeibataillons 316 besetzt war.
Simone Weil lebte mit der gleichen Intensität noch neun Monate. Weder sie selber noch Maurice Schumann konnten bei Charles de Gaulle erreichen, dass ihr Projekt, als Krankenschwester an vorderster Kriegsfront eingesetzt zu werden, ernstgenommen wurde. Seine Reaktion war, sie sehe zu jüdisch aus und sei zu linkisch, sie gehöre an den Schreibtisch. Sie solle ein Konzept für Frankreich nach dem Krieg entwerfen. Simone Weil tat es, sie schrieb mit der Sorgfalt und Wucht ihres Denkens ihr letztes Werk gegen die menschliche Entwurzelung, L’enracinement, ihr grosses gesellschaftspolitisches Testament (1949 von Albert Camus veröffentlicht), doch es genügte ihr nicht. Ihre Verzweiflung war, sich Eltern und Bruder gefügt und Frankreich verlassen zu haben, nicht untergetaucht zu sein, nicht aktiv gegen die Entrechtung und Entmenschlichung Frankreichs einen Betrag leisten zu können. Den Hader ob diesem Entscheid verhehlte sie in ihren Briefen an die Familie nicht, wohl aber ihren körperlichen Zustand. Sie wurde zunehmend kraftloser, ernährte sich aufs spärlichste, eine Tuberkulose wurde diagnostiziert, beide Lungen waren betroffen. Vom Middlesex-Hospital in London wurde sie ins Sanatorium von Ashford in Kent gebracht, sie nahm die Sanskritversion der Gita mit sich, doch die Lebenskräfte wurden zunehmend schwächer.
Am 24. August 1943 starb Simone Weil, 34 Jahre alt, in diesem südenglischen Städtchen, wo sie auch beigesetzt wurde, von Maurice Schumann, der an ihrem Grab ein Gebet sprach, von sieben oder acht weiteren Freunden und Freundinnen, die erschüttert von ihr Abschied nahmen.
Es gibt ein Gedicht, von Johannes Bobrowski für Rosa Luxemburg geschrieben, das ebenso für Simone Weil gelten kann:
„Schmerz, wie ein Vogel singt. Mauer, Lüfte, hörbar über der Angst.
Wer verschliesst deinen Mund, Lerche? Du fliegst auf vom Wiesenstädtchen in die Verwüstung, vorüber Türmen, atemlos, dort:
Lerche, sing deinem Volk, sing der Schläfen Gewalt. Ich hör einen Alten reden von finsteren Jahren. Zärtlichkeit, eine Träne, sagt deinen Namen.“
[1] Simone Weil. Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem. Aus dem Französischen übersetzt und mit einer einleitung versehen von Heinz Abosch. 1978 Frankfurt am Main, Edition Suhrkamp. (Ersterscheinung 1951 Paris, Editions Gallimard).