“Die Masken der Sexualität” – Religion, Sexualität und bürgerliche Gesellschaft

“Die Masken der Sexualität”

Religion, Sexualität und bürgerliche Gesellschaft

Wintersemester 1995/96

 

    

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  1. November 1995

Die Wellen der Aufregung sind noch nicht verebbt, die Ende Oktober in Zürich und über Zürich hinaus entstanden sind, als bekannt wurde, dass der Zürcher Stadtpräsident Josef Estermann  über ein, wie er begründete, “die öffentliche Sittlichkeit verletzendes” Werk der New Yorker Künstlerin Ellen Cantor im Kleinen Helmhaus ein Veto verhängt hatte. Der junge Gast-Kurator Simone Maurer hatte diese im Rahmen einer Ausstellung unter dem Titel “Oh Pain, oh Life” eingeladen, an einer Wand dieses bürgerlichen Tempels für zeitgenössische Kunst  eine ihrer komikartigen Zeichnungen kopulierender Paare zu produzieren. Die Hauptkuratorin des Helmhauses, Marie-Louise Lienhard, wurde, wie sie dies selbst ausdrückte, von Schreck ergriffen, als sie der Details gewahr wurde, alarmierte den Stadtpräsidenten, dieser zog den Chef der Sittenpolizei sowie die – nicht für Kunst – sondern für Rechts- und Lohnfragen zuständige – Beauftragte des Gleichstellungsbüros der Stadt Zürich bei und, gestützt auf die Einstimmungkeit dieses Gremiums, verbot er kurzerhand die Ausstellung mit der Begründung der Sittlichkeitsverletzung resp. der Pornographie. In der in der Folge in den Medien geführten Debatte zeigten sich verschiedene interessante Fragenzusammenhänge, die direkt mit unserer Diskussion zu tun haben: mit den kulturellen Erscheinungs- und Verhüllungsmodalitäten von Sexualität (den Masken der Sexualität), mit den damit verbundenen Diskursregulierungen, mit den einerseits subjektiven, mehr oder weniger geschlechtsspezifischen, andererseits öffentlichen Tabuisierungen, Empfindlichkeiten und Normierungen, durch welche wiederum die macht-, autoritäs- und generationendefinierte Sittlichkeits- oder Unsittlichkeitsdebatte so oder anders geführt und/oder verweigert wird, hinter der jedoch die – trotz aller Normierungen – nicht zu leugnende, immer wieder von neuem ängstigende, weil ganz und gar ursprüngliche Macht der Sexualität selbst steht.

Das von den Institutsleitern gewählte Textbuch “Die Masken der Sexualität”von Camille Paglia ist ein Versuch, einer von vielen Versuchen, die kulturimmanente Auseinandersetzung mit der Sexualität widerzugeben. Es ist ein mangelhafter Versuch, obwohl das Buch spannend ist, in einzelnen Kapiteln von viel Wissen zeugt und über achthundert Seiten zählt. Sein grösster Mangel ist, dass es sich auf einem einzigen Axiom aufbaut: auf der – nach Camille Paglia – unversöhnlichen Zweigeschlechtlichkeit, die sie dem sogenannt “apollinischen” (dem männlichen) und dem sogenannt “dionysischen” (dem weiblichen) Prinzip gleichsetzt, wobei sie ihr dichotomisches Modell auch wertmässig unzweideutig definiert. Gemäss Paglia ist das apollinisch-männliche Prinzip das gestaltschaffende, lichtvolle, edle, kulturbegründende Prinzip, während das dionysisch-weibliche das wuchernd formlose, dunkle, verschlingende, gewalttätige Prinzip ist. Dieser – sehr traditionalistischen, konservativen – Dualisierung folgend untersucht die Autorin die europäischen Kulturepochen mittels deren  künstlerischen Höchstleistungen. Sie kommt zum Schluss, dass in Ägypten eine Verbindung zwischen dem chthonischen – dem erdhaften – und dem formschaffenden, lichtvollen Prinzip zustande kam, die in den späteren Epochen kaum mehr realisiert wurde. Wie sehr allein diese Prinzipien deutungsabhängig sind,  will ich mit einem Zitat aus einem kurzen Text Walter Benjamins belegen (in: Illuminationen. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M.1977). Walter Benjamin verknüpft das apollinische Prinzip mit dem “destruktiven Charakter”. “Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Hass. Der destruktive Charakter ist jung und heiter. Denn Zerstören verjüngt, weil es die Spuren unseres eigenen Alters aus dem Weg räumt; es heitert auf, weil jedes Wegschaffen dem Zerstörenden eine vollkommene Reduktion, ja Radizierung seines eigenen Zustandes bedeutet. Zu solch apollinischem Zerstörerbilde führt erst recht die Einsicht, wie ungeheuer sich die Welt vereinfacht, wenn sie auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft wird. Dies ist ein Anblick, der dem destruktiven Charakter ein Schauspiel tiefster Harmonie verschafft”.

Sie sehen, dass nicht nur das Prinzip selbst, sondern vor allem auch dessen Wertung zu sehr verschiedenen Folgerungen in kultureller, gesellschaftlicher und politischer Hinsicht führen kann. Diesbezüglich nur so viel für heute: Aufgabe der Philosophie ist es, den Trugcharakter jeder Dichotomisierung und jedes ausschliesslichen Wahrheitsanspruchs deutlich zu machen, das heisst, jeder Behauptung, dass etwas so ist, und deshalb nicht anders sein kann den Zweifel und eine neue Fragestellung entgegenzuhalten. Der Zweifel gehört zu den wichtigsten Instrumenten im unabschliessbaren Streben nach Erkenntnis. “Am Anfang war die Reise, das Schweigen, der Zweifel und die Sehnsucht” heisst es im neuen Film “Der Blick des Odysseus” von Theo Angelopoulos. Sehnsucht heisst letztlich, das Ungenügen aller Erfahrung und den ständigen Zweifel am Gedachten und Erkannten aushalten können, im Wissen um die unabschliessbare Erwartung der Aufhebung allen Zweifels.

Das Buch bietet eine Fülle von Anregungen, Zuspitzungen und Auslassungen, deren Erarbeitung entsprechend Ihrer Vorbereitung und ihrer Beiträge zu einem überaus spannenden neuen Werk – einem Diskurswerk – gelingen kann. Aus meiner Sicht fehlt es bei Paglia vor allem an den epistemologischen, soziologischen, gesellschaftskritischen und psychoanalytischen Ansätzen, wie sie zum Beispiel in den Arbeiten von Michel Foucault, André Béjin, Philippe Ariès sowie früher schon bei Freud, Adorno und Horkheimer sowie in zahlreichen feministischen Analysen formuliert wurden. Wir werden versuchen, diese Ansätze vorweg ergänzend zu integrieren.

Wenn von den Zusammenhängen zwischen Sexualität und Religion die Rede ist, muss als drittes Verknüpfungselement die bürgerliche Gesellschaft genannt werden, die als Erbin älterer ständischer  Ordnungen seit dem 16. Jahrhundert die Geschlechterrollen als Herrschaftsordnung fixiert und legitimiert hat. Es waren die repressiven Zusammenhänge der bürgerlichen Gesellschaft, in welche die religiösen Verhaltensnormen konstituierend integriert waren, die Freud angeleitet hatten, seine Libido- und Aggressionsuntersuchungen zu machen, d.h. seine Untersuchungen über den Einfluss der Sexualität, des sexuellen Begehrens und der Gewalt auf das Zusammenleben der Geschlechter sowie auf die Konstitution und Entwicklung der Gesellschaft. Und es waren dieselben Herrschaftsstrukturen, die das Patriarchat zu einem System der Rechtsungleichheit werden liessen, zu einem System des dichotomisierenden Entweder-Oder, zu einem System der Zugehörigkeit bei Unterwerfung und stillschweigender Zustimmung zu den Unrechtsstrkturen, oder der Ausschliessung bei Widerstand und Auflehnung dagegen. Es war dieser repressive Unrechtszusammenhang, der die feministische Auflehnung und Gleichberechtigungsbewegung begründete. Es ist nötig, gleich jetzt diese Richtigstellung vorzunehmen, da Camille Paglia (ab nun CP) in ihrem ersten Kapitel zu einer geschichtsblinden Feminismuskritik ansetzt, mit der sie wichtige Akzente für ihr ganzes Buch setzt, mit der sie jedoch vor allem ihre sehr irrtumsanfällige und bedauerliche Einseitigkeit gleich zu Anfang beweist und in der Folge vorweg zementiert.

Es ist nötig, auf die Seiten 12, 13ff näher einzugehen. CP schreibt: “Sexualität und Erotik sind die heikle Schnittstelle zwischen Natur und Kultur. Die Feministinnen vereinfachen das Problem des Geschlechts auf grobe Weise, wenn sie es auf eine Frage von sozialen Konventionen reduzieren: als erwarteten sie, dass sich nach einer Korrektur gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten, einer Beseitigung der Ungeichheit zwischen den Geschlechtern und einer Klärung der Geschlechterrollen allenthalben Glück und Harmonie einstellten”. Wo mit der Klärung einsetzen? Ich will bei den Begriffen selbst beginnen. Unter “Sexualität” und “Natur” versteht CP, wie sie in ihrer “Vorbemerkung” schreibt, “brutale pagane Mächte”. Doch können die schöpferischen Bedingungen des Lebens, der Fortpflanzung, der Multiplikation und Diversifizierung der Arten, die mit dem Begriff der Sexualität oder Geschlechtlichkeit gemeint sind, mit  eurozentrierten  und moralisierenden Klassifizierungen erfasst werden? – “pagan” ist der Gegensetz zu “christlich”, ein Begriff, der durch das Christentum geschaffen und verwendet wurde, um ein kulturelles Qualitätsgefälle anzuzeigen, sow ie auch “brutal” eine negative moralische Klassifizierung beinhaltet. Sexualität als die allem Lebenden innewohnende schöpferische Kraft ist jedoch jenseits aller Kultur- und Religionsdefinitionen und -schwellen. Sie kann, genau genommen, nur biologisch, nur physiologisch definiert werden, ob es sich um Pflanzen, Tiere oder Menschen handle. Was dagegen ausschliesslich anthropologisch , d.h. im Bereich des Menschlichen, untersucht werden kann, betrifft die Sublimierungen und Umgestaltungen dieser schöpferischen Kraft, während deren gesellschaftliche Regulierung sich schon bei den höheren Tieren durchsetzt. Es gibt dazu eine Füller einghender Studien; ich empfehle Ihnen, den zusammenfassenden, sehr präzisen Aufsatz von Robin Fox zu lesen: “Bedingungen der sexuellen Evoution”, den sie bei Ariès, Béjin, Foucault u.a.finden: “Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit”. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland. Fischer Taschenbuch Wissenschaft. Frankfurt a.M. 1993.

Die Erotik dagegen betrifft die Ausdrucksformen des Begehrens und Strebens, die Ausdrucksformen der suchenden Liebe, die wir Sehnsucht  nennen, nicht nur in geschlechtlicher Hinsicht, sondern auch in den sublimierten Verwirklichungen schöpferischer Kraft, in jedem Streben nach Erkenntnis und nach Gestaltwerdung: in der Kunst, in Dichtung und Philosophie, in der Wissenschaft. “Alles ist Übertreibung, nur die Sehnsucht ist wahr, die kann man nicht übertreiben”, schreibt Franz Kafka in einem Brief an Milena Jesenska am 14. September 1920. “Aber selbst die Wahrheit der Sehnsucht ist nicht so sehr ihre Wahrheit, als vielmehr der Ausdruck  der Lüge alles übrigen sonst. Es klingt verdreht, aber es ist so”, ergänzt Kafka.

CP  nimmt allerdings mehr wie eine “Verdrehung” vor, wenn sie behauptet, “die Feministinnen” würden das “Problem das Geschlechts auf eine Frage von sozialen Konventionen reduzieren“. Die jahrhundertelang zementierte Sprachlosigkeit und Rechtlosigkeit der Frauen ist mehr wie eine “Konvention”, mehr wie eine formale gesellschaftliche Regel (wie etwa nicht mit vollem Mund zu reden, oder sich die Hände vor dem Essen zu waschen oder ähnliches). Dem Feminismus ging es nie um eine “Beseitigung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern” – wie sollte dies realisierbar sein? -, sondern um die Korrektur der Rechtsungleichheit, der Überordnungs- und Unterordnungsstrukturen, um die Veränderung des Patriarchats durch die Schaffung von Parität im Eherecht, im übrigen Zivilrecht und in den politischen Rechten, sowie durch die Forderung und Förderung von Mündigkeit im Verhältnis der Geschlechter. Vor allem ging es dem Feminismus um das Recht auf Lust, das den Frauen durch Religionenen und Konventionen jahrhundertelang abgesprochen war.  Dass durch die “Klärung der Geschlechterrollen sich allenthalben Glück und Harmonie einstellten”, kann nicht einmal als konjunktivische Erwartung dem Feminismus unterschoben werden. Gerade die Frauen wissen, dass jede auf Harmonie und Ausschaltung der Widersprüche hintendierende Utopie sich zu einem neuen Unterdrückungs- und Herrschaftsmodell wandelt. Daher steht der Feminismus in seinen  wichtigsten Forderungen nicht im Erbe Rousseau’s und dessen Leugnung der bändigenden, der fortschrittlichen Funktion der Kultur, wie CP dies zu Unrecht behauptet, im Gegenteil. Er definiert sich in der Fortsetzung der unvollendeten Aufklärung, als Forderung nach Anerkennung der gleichen Subjekthaftigkeit aller Menschen, unabhängig von Geschlecht, Funktion und Stellung in der Gesellschaft. Diese Forderung hat jedoch nicht mit der von CP behaupteten “Leugnung der Kontingenz des Lebens, (der Leugnung) der Abhängigkeit der Menschen von der schicksalhaften Macht der Natur” zu tun. Vielleicht kommt es einmal so weit, aber dann wird dies nicht das Resultat des Feminismus sein, sondern der technologischen Entwicklung im Gebiet der Gentechnologie oder der virtuellen Realität, etwa des Cybersex.

Dass “sexuelle Freiheit, Befreiung der Sexualität moderne Illusionen” seien, möchte ich bestreiten. Wenn Freiheit als Autonomie, als Selbstbestimmung, als Gegensatz zu Heteronomie und Zwang verstanden wird, ist allein in meiner Generation ein – noch vor kurzem ungeahnter – Bewusstseinswandel erfolgt. Nicht dass durch diesen Wandel alle Abhängigkeitsstrukturen aufgehoben würden, das ist undenkbar. Sowohl in psychologischer wie vor allem in materieller, in wirtschaftlicher Hinsicht bestehen diese in breitem Mass weiter und sind mit ein Grund für Gewaltverhältnisse auf Kosten der Frauen. Dies festzustellen heisst jedoch nicht, die Forderung nach sexueller Selbstbestimmung der Frauen in Frage zu stellen.

Gewalt hat immer mit einem Ungleichgewicht der Verfügungs- und Handlungsmöglichkeiten zu tun, das auf Kosten des schwächeren, des diskriminierten Teils durch den stärkeren Teil zu dessen Gunsten ausgenützt wird. Dies trifft für nicht-emanzipierte Geschlechterverhältnisse ebenso zu wie für unterdrückerische Familienverhältnisse, für das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen Beamten und gewöhnlichen Bürgerinnen und Bürgern, zwischen Einheimischen und  Fremden. Dieses reale oder imaginierte Ungleichgewicht ist die Grundstruktur der sexistischen und rassistischen Gewaltverhältnisse. Es ist nicht zuletzt Ausdruck fixierter Identitätsvorstellungen, d.h. von Vorstellungen eines genau definierten Soseins und nicht Andersseins, das durch – quasi ontologische – Abgrenzungen, Ausgrenzungen und Selbstdefinitionen zustandekommt. Im Sinn der Existenzphilosophie wie der meisten psychoanalytichen Theorien aber kann Identität nur als Selbstbefragung im Prozess des Werdens auf ein – wohl erst im Tod erreichbares – Ziel hin verstanden werden. Wenn CP daher schreibt, “die Feministinnen, die sich bemühen, der Sexualität Gewaltverhältnisse auszutreiben, wenden sich gegen die Natur. Sexualität ist Macht. Identität ist Macht. In der westlichen  Kultur gibt es keine Beziehungen ohne Ausbeutung. Jeder hat getötet, um zu leben. Schöpfen durch Zerstören – dies bestimmt als universales Naturgesetz den Geist und die Materie. Wie Freud als Erbe Nietzsches versichert, ist Identität gleichbedeutend mit Konflikt. Jede Generation pflügt die Gräber früherer Generationen um” (S. 13) – da wird mir, gelinde gesagt, vor lauter Durcheinander schlecht.

Der Feminismus wendet sich nicht gegen die Natur, sondern gegen gewaltimmanente Abhängigkeitsverhältnisse. Macht und Gewalt sind nicht dasselbe. Der Satz “Sexualität ist Macht” ist richtig, da Macht – potere, potentia, Potenz – die Fähigkeit bedeutet, etwas zu bewirken. “Identität” dagegen ist keine Macht, sondern eine mathematische Formel (a = a), die fälschlicherweise und  auf verhängnisvole Weise in psychologischen, in  gesellschaftlichen und in politischen Zusammenhängen gebraucht wird. Deren falsche Anwendung, deren Trugcharakter  führt zu Konflikten, die weit über Rollenkonflikte zwischen den Geschlechtern hinausgehen. Nationalismus, Chauvinisnus, Antisemitismus und Rassismus sind nicht zuletzt Folgen verfehlter kollektiver Identitätskonstruktionen. CP demaskiert allerdings nicht den Trugcharakter der Identität. Auch ihre Gleichsetzung des naturimmanenten Kreislaufes von Tod und Leben mit der Tötung von Leben zum Zweck der Schöpfung erachte ich als absurd, ja sogar als Anlehnung an nationalsozialistische Gewaltverherrlichung.

Es ist schwierig, Seite für Seite mit apodiktischen Aussagen konfrontiert zu werden, die Widerspruch wecken müssen: etwa Sätze wie “Die tragische Frau ist nicht moralisch wie der Mann, Ihr Wille zur Macht ist unverhüllt. Ihre Taten sind von chthonischer Düsterkeit überschattet” (S.19): Und was ist mit Iphignie, mit Kassandra, mit Jeanne d’Arc, mit Rosa Luxemburg etc? Oder: “Die Zentriertheit der Frau verleiht ihrem Selbstsein Stabilität. Die Frau muss nicht werden, sie braucht nur zu sein. Ihre Zentriertheit ist ein wesentlicher Stein des Anstosses für den Mann, dessen Streben nach Identität sie durchkreuzt” (S.22): Auch hier wieder eine dichotomisierende Geschlechterontologie, von der ich annahm, sie sei endlich vor fünfzig Jahren mit anderen ontologisierenden Ideologien abgelegt worden. Ebenso merkwürdig finde ich die pauschalierenden “wir”-Aussagen wie etwa: “Wir empfinden einen entwicklungsgeschichtlich bedingten Abscheu gegen Schleim” (S. 24), oder “Das Bewusstsein macht Feiglinge aus uns allen” (S. 29-30) etc.

Es ist von Seiten der Autorin ein konstanter Selbsthass spürbar, der zur grundlegenden weiblichkeitsherabsetzenden Werthierarchie – und zu Sätzen wie jener auf S. 25 führt: “Der historische Widerwille gegen die Frau hat eine rationale Grundlage: Er ist die ureigene Reaktion der Vernunft auf die Rolle des Fortpflanzungsgeschäfts der Frau. Vernunft und Logik sind die angstgeborene Domäne Apollons, des ersten Gottes des Himelskults. Das Apollinische ist schroff und phobisch in der Art und Weise, wie es sich kraft übermenschlicher Reinheit kalt von der Natur abschneidet. Ich werde zeigen, dass westliche Persönlichkeit und westliche Leistung im Guten wie im Bösen weitgehend apollinischen Charakters sind. Apollons grosser Gegenspieler Dionysios ist Herrscher über den chthonischen Bereich, dessen Gesetz die fortpflanzungszentrierte Weiblichkeit ist. Wie wir sehen werden, ist das Dionysische flüssiger Natur, ein fauliger Morast, dessen Urform das tiefe Gewässer des Schosses ist“.

Wie ich eingangs sagte, gilt es, die von CP verfochtenen Theorien mit einer kritischen Brille zu lesen und den Widerspruch dazu nicht als Infragestellung des Diskurses, sondern als dessen Ermöglichung zu verstehen. Ich habe ihn eingeleitet und möchte Sie nun bitten, ihn offen weiterzuführen. Als Überleitung möchte ich Michel Foucault zitieren, der das Vorwort zum ersten Band seiner dreibändigen Geschichte der Sexualität in der deutschen Ausgabe mit der folgenden Feststellung abschliesst  (Der Wille zum Wissen. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1977).: “Bei den Begriffen ‘Sex’ und ‘Sexualität’  handelt es sich um intensive, überladene, ‘heisse’ Begriffe, die benachbarte Begriffe leicht in den Schatten stellen. Darum möchte ich hier unterstreichen, dass die Sexualität hier nur ein Beispiel für ein allgemeines Problem ist (…): wie ist in den abendländischen Gesellschaften die Produktion von Diskursen, die (zumindest für eine bestimmte Zeit) mit einem Wahrheitswert geladen sind, an die unterschiedlichen Machtmechanismen und -institutionen gebunden?”

Dieser Machtmechanismus und diese Machtinstitution ist im Fall des Diskurses, in den wir heute einsteigen, die Religion: nicht im Sinn von “Glaube”, sondern im Sinn der komplexitätsvermindernden, zugleich jedoch komplexitätssteigernden Autoritäs-, Regel- und Verbotsinstanz. Dass zum Beispiel im ganzen Diskurs, wie ihn CP führt, die Frage der Lust – und des Lustverbots durch die Religion, vor allem den Frauen gegenüber – nie thematisiert wird, erachte ich als Weiterführung einer konservativen Tabuisierungs-, Kontroll- und Verbotstradition. Zu fragen ist, womit gerade diese Tabuisierungs- und Verbotstradition der Religion begründet wird, wie die damit verbundenen Spracherschwernisse bis heute aufrechterhalten blieben, trotz einer langen, über Beicht-, Beratungs- und Erziehungslitertur – d -pflege geschaffene Thematisierung der Sexualität; zu fragen ist auch, wie  die bürgerliche Erziehung und die bürgerliche Gesellschaft es schaffen konnten, das Sprechen über Sexualität zu einer tour de force werden zu lassen – trotz der über Medizin, Psychologie  und Psychiatrie intensivierten Thematisierung der damit verbundenen Fragen.

Da Sie sich jedoch hier eingefunden haben, um über die “Masken der Sexualität” zu diskutieren, freue ich mich, dass wir gemeinsam versuchen werden, die Sprache zu finden, die einen weiterführenden Diskurs erst möglich macht.

 

  1. November 1995

Der heutige Abend soll der Erforschung des von Camille Paglia thematisierten apollinischen und dionysischen Prinzips gelten. Wir wollen uns dabei zuerst einmal grundsätzlich fragen, was diese beiden Prinzipien bedeuten..

Wir wenden uns, indem wir uns auf Dionysios und Apoll konzentrieren, damit von den Bedingungen unserer Kultur ab, in der die Religion mit einem geistigen, erhabenen Gottesbild verknüpft ist, sowie mit Regeln der Sittlichkeit, welche die komplexen Geschehnisse der Natur – Leben und Tod, Paarung (resp. Heirat), Fortpflanzung, Geburt, Krankheit, Alter und Sterben – als Sinngeschehnisse in Hinblick auf Erlösung, auf Entrückung ins Göttliche hin erklären, kontrollieren und determinieren. Wir wenden uns auch ab von den Vorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft, in der ursprünglich und während langen Jahrhunderten selbst die Sexualität in Rechtsstrukturen eingebunden wurde, nämlich in die dem Sachenrecht verwandten Eigentumsstrukturen, in denen die Verfügungszuständigkeit über die Sexualität (zum Beispiel im Rahmen des Eherechts) klar definiert war. Wir wenden uns der griechischen Kultur zu, in der das Göttliche, in der die Götter, sowohl Apoll wie Dionysos, ganz und gar menschliche Züge aufweisen, und in der die Natur und damit alles Lebendige und alles Menschliche als ganz und gar mit dem Göttlichen verwoben gelten. Walter F.Otto, einer der Erforscher der altgriechischen Religion, hielt dazu fest (in: Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes. Verlag G. Schulte-Bulmke, 6. Auflage. Frankfurt a.M. 1970: “Diese Religion ist so natürlich, dass die Heiligkeit keinen Raum in ihr zu haben scheint. (…) Auch den sittlichen Ernst, der uns ein echter Begleiter aller echten Religion ist, vermissen wir bei diesen Göttern wie in der Gesinnung ihrer Verehrer: man darf sie nicht unmoralisch nennen, aber sie sind viel zu natürlich und naturfroh, um dem Moralischen den höchsten Wert zuzuerkennen. (…) Solche Götter sind weit davon entfernt, den Menschen aus der Welt zu erlösen und zu sich hinaufzuziehen”. An anderer Stelle: “Es hat nie einen Glauben gegeben, für den das Wunder, im eigentlichen Sinn des Wortes, das heisst die Durchbrechung der Naturordnung, eine so geringe Rolle unter den göttlichen Offenbarungen gespielt hätte wie für den altgriechischen. (Aber) (…) aus allen grossen Formen und Zuständen des Lebens und des Seins blickt (den Menschen) das ewige Gesicht einer Gottheit an”. Und weiter: “Statt des engen Begriffs vom Natürlichen haben wir den weitesten. (…) Daher kann hier das Natürliche selbst in der Glorie des Sublimen und Göttlichen stehen”. Soweit Walter F. Otto.

Wenn das Heilige nicht auf bestimmte Orte konzentriert wurde, sondern allgegenwärtig war, war auch das Unheilige nicht auf bestimmte Orte konzentriert, etwa auf die Sexualität. Im Gegenteil, gerade die erotische Ansziehungskraft, das Umwerben und Begatten, Geburt und Neubeginn des Lebens, kurz alles, was mit Sexualität zu tun hat, war ebenso den Göttern wie den Menschen eigen, als Wiederspiegelung der Erneuerung in der Natur, die nur durch die Verschmelzung des Männlichen und des Weiblichen zustande kommen kann. So war Apoll der Gott, der mit dem Frühling, mit dem Spriessen der ersten Pflanzen, in Erscheinung trat, und Dionysos derjenige, der mit der Fülle der Früchte, mit der Ernte, mit der Weinlese, gefeiert wurde.

Ich will kurz die Charakteristika der beiden Götter schildern, wie sie in der Mythologie überliefert werden. Anschliessend will ich auf die Deutung Friedrich Nietzsches eingehen und am Schluss auf Camille Paglia’s Darstellung.

Apollon, Sohn des Zeus und Zwillingsbruder der Artemis, der als der edelste Repräsentant des Olymp und des ganzen Hellentums erscheint, stammte ursprünglich aus Kleinasien, aus Lykien (im Süden der heutigen Türkei, etwas östlich gegenüber der Insel Rhodos gelegen), ebenso wie seine Mutter Leto, eine Titanentochter, die für die Niederkunft ihrer Zwillinge auf Veranlassung der eifersüchtigen Hera nirgendwo Obdach fand, bis schliesslich die damals noch im Meer herumtreibende Insel Ortygia (die Wachtelinsel) ihr dieses gewährte. Zur Belohnung für ihr Entgegenkommen hiess sie in der Folge Delos (die Berühmte) und wurde fest im Meer verankert. Spuren des Apollokults lassen sich von Lykien her in ältesten Beziehungen bei den Hethitern und über diese bei den Babyloniern nachweisen.

Auf Grund der kleinasiatischen Herkunft des Gottes verwundert es nicht, dass dieser im Trojanischen Krieg laut der Ilias auf Seiten Trojas und nicht der Griechen steht, in deren Lager er Pest und Tod sendet. Er soll, gemeinsam mit Poseidon, auch der Gründer der Stdt Troja sein. Die Mythologie sagt ihm fast von Geburt an heldisch-göttliche Taten nach. So soll er, erst wenige Tage alt, den Python-Drachen von Delphi getötet und das Orakel – das Traumorakel der Erdgöttin Gaia – übernommen haben, das darauf durch Pythia, die Priesterin des neuen Gottes, verwaltet wurde. Um den Dreifuss des Orakels musste er mit Herakles kämpfen. Seine Waffe waren, wie bei seiner Zwillingsschester Artemis, Pfeil und Bogen, mit denen er u.a. die sieben Söhne der Niobe tötete (während Artemis die sieben Töchter tötete), weil Niobe seiner Mutter Leto gegenüber mit ihrem Kinderreichtum geprahlt hatte. Auch die Kyklopen tötete Apoll mit seiner Waffe, weil diese dem Zeus Donnerkeile und Blitze geschmiedet hatten und Zeus mit einem dieser Blitze Apollons Sohn Asklepios getötet hatte, der sich erfrecht hatte, mit seiner Heilkunst selbst die Toten wieder zum Leben zu erwecken. Apollon muss ein furchterregender Gott gewesen sein, heisst es doch im Mythos, dass die Nymphe Daphne, die er liebte und der er nachstellte, die Flucht vor ihm ergriff und auf ihr Gebet hin in einen Lorbeerbaum verwandelt wurde. Seither ist der Lorbeer dem Apoll heilig, und haben Lorbeerzweige und Lorbeerkränze kultisch-festliche Bedeutung. Der Mythos bringt ihn auch in Verbindung mit der Musik. Von Hermes, seinem Halbbruder (Sohn des Zeus und der Nympfe Maia), soll Apoll die Kithara, die Leier als Ersatz für die Rinderherden erhalten haben; mit der Leier besiegt er in einem musikalischen Wettstreit den unglücklichen Satyr Marsyas, der mit der von Athene weggeworfenen Flöte  es gegen Apoll aufnehmen wollte. Apoll lässt den Unterlegenen an einem Baum aufhängen und lässt ihm die Haut abziehen. (Schon in der Antike war die Verwandtschaft von Bogen und Leier, d.h. die Doppelfunktion des gleichen oder ähnlichen Instruments zum Töten und zur Erquickung ein Thema).

Sie sehen, die Mythologie weist Apoll unterschiedliche Funktionen zu: als Gott der Traumdeutung (Orakel), als Heilgott (Vater des Asklepios), als Städtebauer und Torwächter, als Beschützer der Herden, als Sühne- und Rachegott, als Beschützer der schönen Künste. Nach und nach verdrängte Apoll viele ältere Gottheiten; der Besuch der Orakelstätten hatte eine einigende Funktion für die verschiedenen Stadtstaaten des zersplitterten alten Griechenlands. Sowohl die athenische Demokratie wie die spartanische Aristokratie stellten sich unter den Schutz Apolls. Etwa vom sechsten vorchristlichen Jahrhundert an wird er von den Griechen auch als Lichtgott und als Gott des Masses und der Sittlichkeit verehrt, etwa vom fünften Jahrhundert an ebenso von den Römern. Kaiser Augustus baut zu seinen Ehren im Jahre 28 v. Chr. einen  prachtvollen Tempel auf dem Palatin.

Dionysos, auch Bakchos genannt, ist ebenfalls ein Halbbruder Apollons, Sohn des Zeus und Semeles, der Tochter des thebanischen Königs Kadmos. Auch bei der Geburt dieses Kindes versucht die eifersüchtige Hera zu intervenieren. Da zeus seiner Geliebten die Erfüllung eines Wunsches versprochen hat, suggeriert Hera Semele, sie möge von ihrem Geliebten verlangen, dass er ihr in seiner wahren Gestalt erscheine. Wie Zeus sich jedoch in seiner Göttlichkeit, in Feuer und Blitz sich offenbart, verbrennt die sterbliche Semele. Zeus aber näht den sechsmonatigen Embryo in seinem Schenkel ein und trägt ihn dort aus. Nach der Geburt übergibt Hermes das göttliche Kind den Nymphen zur Betreuung, später übernimmt dessen Erziehung der Silen, ein zweibeiniger Pferdemensch, ein wildes Naturwesen. Dionysos, auch er seiner Mutter treu verbunden, wird in die Unterwelt hinuntersteigen und seine Mutter in den Olymp empor führen, wo sie den Namen Thyone annimmt. Die göttliche Abstammung des Knaben Dionysos zeigt sich im Zusammenhang mit seiner Gefangennahme durch italieniche Seeräuber anlässlich seiner Überfahrt von Ikaria nach Naxos. Die Fesseln fallen von selbst, Efeu- und Weinranken schlingen sich um den Mast des Schiffes, das mitten im Meer stille steht. Die Seeräuber, die den Knaben als Sklaven erkaufen wollten, erkennen dessen Göttlichkeit, stürzen sich ins Wasser und werden in Delphine verwandelt. Auf Naxos vermählt sich Dionysos mit der kretischen Königstochter Ariadne, die von Theseus verlassen worden war.

Die Wein- und Efeuranken auf dem Seeräuberschiff  versinnbilden die Bedeutung von Dionysos überhaupt. Er ist die Schutzgottheit der Vegetation, der Fruchtbarkeit und der Wiederkehr des Lebens; seine eigene Wiedergeburt wird alle zwei Jahre auf dem Parnass gefeiert. In Delphi, wo sein Grab verehrt wird und wo er das Heiligtum – nicht das Orakel – mit Apollo teilt, finden zu seinen Ehren mehrtägige, zum Teil ausgelassenen Feierlichkeiten und Prozessionen statt, bei denen der Gott in Tiergestalt erscheint, von Nymphen, Silenen und Satyrn begleitet, und wo regelmässig auch Phallussymbole mitgeführt werden. In seiner Verehrung zeichnen sich vor allem Frauen aus, die Bakchai (auch Bakchantinnen, Mänaden oder Thyiaden genannt), die an den dionysischen Festen  als “Verzauberte”, in rauschhaften Zuständen, mit Tierfellen und Efeukränzen bekleidet, über die Berge und durch die Wälder streifen. In Athen fanden die Dionysien im Februar und März statt, um den Beginn der Schifffahrt zu feiern, auf dem Land dagegen im herbst, zur Zeit der Weinlese. Der Kult des Dionysos breitete sich im Westen nach Italien, im Osten über die ganze Ägäis , ja bis nach Indien aus. In der späteren Orphik verwandelte sich der von den Titanen zerrissene Zagreus in Dionysos, respektive Zegerus und Dionysos vermischen sich zu einer einzigen Gestalt. (Zagreus, ein Sohn des Zeus und Persephone’s, wird von den Titanen zerrissen, das noch zuckende Herz verschlingt Zeus, resp. er lässt es Semele verschlucken, die dadurch mit dem jungen Dionysos schwanger wird, womit wiederum die Geschichte des Dionysos beginnt).

Für Simone Weil war die Zagreus-Dionysos-Gestalt eine der mytischen Vorankündigungen des christlichen Erlösergottes, dessen Tod und Wiederauferstehung sie im Zagreus-Dionysos-Mythos vorgebildet fand. Sie interpretierte dessen Lebenszuwendung und Lebensverhaftetheit nicht im Sinn der – nach christlicher Umdeutung – sündhaften Sexualität, sondern im Sinn der symbolhaften Versicherung der Auferstehung und des “ewigen” Lebens – dies obwohl Simone Weil selbst auf Grund ihrer eigenen neurotischen Sexualitätsscheu ebenso gut Zugang zur traditionellen Deutung hätte finden können.

Bei Friedrich Nietzsches Auseinandersetzung mit dem dionysischen Prinzip- von der “Geburt der Tragödie” an in einem nicht abbrechenden Veränderungsprozess durch alle späteren Werke hindurch – geht es, zusammengefasst, auch um das Axiom der ewigen Wiederkehr des Lebens, um den Sieg des Lebens über den Tod, um die “Negation der Negation”, um mit Hegel zu sprechen, wobei Nietzsche eben kein Dialektiker war, sondern die Dialektik als “Sklavenhaltung”, als Ergebnis einer christlichen Dichotomisierung von Sünde und Erlösung, vom Einen und vom Anderen, gänzlich ablehnte. Aber bis Nietzsche zur umfassenden Bejahung des Vielen kam, damit zur Bejahung des Zufalls als der wahren und unausweichlichen Notwendigkeit, der gegenüber nur der Spieler, der Künstler und das Kind eine Bejahung  realisieren können, die nicht von Zielsetzungen noch von moralisierenden Vorstellungen des Versagens oder der Schuld und des schlechten Gewissens verfälscht ist, bis er zu diesem Bild des Dionysos und zum Bild der ewigen Wiederkehr kam, dem gegenüber nur eine Haltung des “amor fati”, des Bejahens des Lebensspiels zu vertreten ist, musste er verschiedene Stadien des Gegensätzlichen durchgehen. Den Gegensatz zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen zuerst, vor allem in der “Geburt der Tragödie”, wo es zuerst um die Schmerzen der Individuation im Gegensatz zum dionysisch Allgemeinen geht (S. 97), um Mass und Übermass, um den Gegensatz von Drama und Tragödie, von Schein und Sein.

Doch so wie Apoll und Dionysios in Delphi im selben Heiligtum verehrt werden, so löst sich das Apollinische nach und nach im Dionysischen auf; “das Drama ist die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen”, wie Nietzsche schreibt, oder, an einem anderen Ort, “der tragische Mythus ist nur zu verstehen als eine Verbildlichung dionysischer Weisheit durch apollinische Kunstmittel; er führt die Welt der Erscheinungen an die Grenzen, wo sie sich selber verneint und wieder in den Schoss der wahren und einzigen Realitäten zurückzuflüchten sucht”. Eigentlich geht es in Nietzsches “Geburt der Tragödie” – etwa vom 12. Kapitel an – zunehmend weniger um den Gegensatz zwischen Apoll und Dionysos, als um denjenigen zwischen Dionysos und Sokrates, das heisst um die Auseinandersetzung zwischen dem Leben und dessen rückhaltloser Bejahung und der Idee vom Leben, resp. der Theorie vom Leben. Doch auch dieser Gegensatz hebt sich in der Gestalt des Sokrates wiederum selbst auf, da dieser, zuerst selbst apollinisch formgebend, zum Ende seines Lebens hin selbst dionysisch wird, “musiktreibend” und tragisch. (In dieser Verbindung, die er “sokratische Kultur” nennt, erkennt Nietzsche die “Kultur der Oper”, die er als die “Geburt des theoretischen Menschen” bezeichnet). Am Ende von Kap. 21 stellt Nietzsche fest: “So wäre wirklich das schwierige Verhältnis des Apollinischen und des Dionysischen in der Tragödie durch einen Bruderbund beider Gottheiten zu symbolisieren: dionysos redet die sprache des apoll, Apoll aber schliessliche die Sprache Dionysos’: wmit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist”.

Das Apollinische und das Dionysische werden bei Nietzsche in keiner Weise zur Konstruktion einer Geschlechterdifferenz benützt, im Gegenteil. Das Weibliche findet sich in der Gestalt der Ariadne, die Braut und Gefährtin,  die mit Dionysos in der Kraft der Bejahung, selbst des äussersten Schmerzes, komplementär ist (s. Dionysos-Dithyramben). Für Nietzsche spitzt sich die Phase der Durcharbeitung der Gegensätze im Gegensatz Dionysos-Christus / Christentum zu – noch nicht in der “Geburt der Tragödie”, sondern vor allem in “Umwertung aller Werte”, dann in der “Genealogie der Moral”, im “Ecce homo”, im “Antichrist” etc.: “Hat man mich verstanden? – Dionysos gegen den Gekreuzigten” – mit diesen Worten endet “Ecce homo”. Diesen – für die christliche Vorstellung blasphemischen – Gegensatz erklärt Nietzsche einerseits selbst durch seine Ablehnung der nur mit Sünde, Schuld und Erlösung operierenden christlichen Moral (eigentlich schon die Moral Anaximanders), die durch die Schaffung des schlechten Gewissens den Menschen in ständige innere Schmerzen treibt, andererseits durch Zarathustra, den er als “ersten Psychologen des Guten und damit, folglich, als Freund des Bösen bezeichnet, der für ihn “Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit” bedeutet, für den der Mensch vor allem ein Werdender ist. Das Werden aber, auch das Sein des Werdens, ganz existenzphilosophisch, kann nur bejaht werden (in der griechischen Antike ist diesbezüglich für Nietzsche der Rekurs auf Herkalit massgebend).

Camille Paglia’s Unterscheidung des Apollinischen und des Dionysischen lässst die beiden Prinzipien als unvereinbare Gegensätze nebeneinander stehen, auch wenn sie die Androgynie und das Transvestitentum erwähnt – doch nicht im Sinn der Partizipation des einen Geschlechts am anderen, sondern als irgendwie lächerlichen Übergriff oder als missglückte Imitation.

Doch ich möchte auf den Text selber eingehen, den Sie vorbereitet haben. Als Zusammenfassung den Absatz, der im ersten Drittel von S. 127 beginnt: Lektüre und Diskussion.

 

 

  1. November 1995

 

Der heutige  Abend  soll der Erforschung des von Camille Paglia thematisierten apollinischen und dionysischen  Prinzips gelten.  Wir wollen uns dabei zuerst  einmal grundsätzlich fragen,  was diese beiden Prinzipien bedeuten ..

Wir wenden uns, indem wir uns aufDionysios und Apoll konzentrieren, von scheinbar unveränderbaren Bedingungen unserer Kultur  ab, in der die Religion mit einem ganz und gar geistigen, erhabenen  Gottensbild verknüpft ist, sowie mit Regeln  der Sittlichkeit,  welche  die komplexen Geschehnisse  der Natur – Leben und Tod, Paarung  (resp. Heirat), Fortpflanzung, Geburt, Krankheit,  Alter und Sterben – als Sinngeschehnisse  in Hinblick auf Erlösung,  auf Entrückung ins Göttliche  hin deuten, kontrollieren und determinieren.  Wir wenden uns auch ab von den Vorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft,  in der ursprünglich und während  langen Jahrhunderten selbst die Sexualität  in Rechtsstrukturen eingebunden wurde,  nämlich in die dem Sachenrecht  verwandten Eigentumsstrukturen, in denen die Verfügungszuständigkeit über  die Sexualität (zum Beispiel im Rahmen  des Eherechts) klar definiert war.  Wir wenden uns der griechischen  Kultur  zu, in der das Göttliche, in der die Götter,  sowohl Apoll wie Dionysos, ganz und gar menschliche Züge  aufweisen, und in der die Natur  und damit alles Lebendige  und alles Menschliche  als ganz und gar mit dem Göttlichen verwoben gelten.  Walter F. Otto,  einer der grossen  Erforscher der altgriechischen Religion, hielt dazu fest (in: Die Götter Griechenlands.  Das Bild des Göttlichen  im Spiegel des des griechischen Geistes. Verlag G.Schulte-Bulmke,  6. Auflage.  Frankfurt  a.M.  1970:  “Diese Religion ist so natürlich,  dass die Heiligkeit keinen Raum in ihr zu haben scheint.  (…) Auch den sittlichen Ernst,  der uns ein echter Begleiter  aller echten Religion ist, vermissen  wir bei diesen Göttern wie in der Gesinnung ihrer Verehrer:  man darf sie nicht unmoralisch nennen,  aber sie sind viel zu natürlich und naturfroh, um dem Moralischen den höchsten  Wert zuzuerkennen.  ( … ) Solche Götter sind weit davon entfernt,  den Menschen aus der Welt zu erlösen und zu sich hinaufzuziehen”. An anderer  Stelle: ”Es hat nie einen Glauben gegeben,  für den das Wunder, im eigentlichen  Sinn des Wortes, (das heisst  die Durchbrechung der Naturordnung, eine so geringe Rolle unter  den göttlichen  Offenbarungen gespielt hätte wie für den altgriechischen.  (Aber)( … ) aus allen grossen Formen und Zuständen des Lebens und des Seins blickt (den Menschen) das ewige Gesicht einer Gottheit  an”. Und weiter:”  Statt des engen Begriffs vom Natürlichen haben wir den weitesten.  ( … ) Daher  kann    · er das Natürliche selbst in der Glorie des Sublimen und Göttlichen stehen”.  Soweit Walter  F.  Otto.

Wenn das Heilige nicht  auf bestimmte  Orte konzentriert wurde,  sondern  allgegenwärtig war, war auch das Unheilige nicht auf bestimmte  Orte konzentriert, etwa  auf die Sexualität.  Im Gegenteil,  gerade  die erotische  Ansziehungskraft, das Umwerben und Begatten, Geburt und Neubeginn des Lebens,  kurz  alles, was mit Sexualität  zu tun hat, war ebenso den Göttern wie den Menschen  eigen, als Wiederspiegelung der Erneuerung in der Natur,  die nur durch die Verschmelzung des Männlichen  und des Weiblichen zustandekommen kann.  So war Apoll der Gott,  der mit dem Frühling,  mit dem Spriessen der ersten Pflanzen,  in Erscheinung trat, und Dionysos  derjenige,  der mit der Fülle der Früchte,  mit der Ernte,  mit der Weinlese,  gefeiert wurde.

Ich will kurz  die Charakteristiken der beiden  Götter  schildern, wie sie in der Mythologie überliefert werden.  Anschliessend will ich auf die Deutung  Friedrich Nietzsches eingehen und am Schluss kommen wir auf Camille Paglias Darstellung zurück.

Apollon,  Sohn des Zeus und Zwillingsbruder der .Attemis, der als der edelste Repräsentant des Olymp und des ganzen Hellentums  erscheint, wurde aus Kleinasien überliefert (im Süden der heutigen Türkei,  etwas östlich gegenüber der Insel Rhodos  gelegen),  ebenso wie seine Mutter Leto,  eine Titanentochter,  die für die Niederkunft ihrer Zwillinge auf Veranlassung der eifersüchtigen Hera nirgendwo Obdach fand, bis schliesslich die damals noch im Meer herumtreibende Insel Ortygia (die Wachtelinsel) ihr dieses gewährte.  Zur Belohnung für ihr Entgegenkommen hiess  diese in der Folge Delos (die Berühmte) und wurde  fest im Meer verankert.  Spuren  des Apollokults lassen sich von Lykien her in ältesten Beziehungen bei den Hethitern und über  diese bei den Babyloniern  nachweisen.  Auf Grund der kleinasiatischen Herkunft des Gottes  verwundert es nicht,  dass dieser im Trojanischen Krieg laut der Dias auf Seiten Trojas und nicht  der Griechen steht, in deren Lager  er Pest und Tod sendet.  Er soll, gemeinsam mit Poseidon,  auch der Gründer  der Stadt Troja sein.  Die Mythologie sagt ihm fast von Geburt  an heldisch-göttliche Taten nach.  So soll er, erst wenige  Tage alt, den Python- Drachen von Delphi getötet und das Orakel – das Traumorakel der Erdgöttin Gaia – übernommen haben,  das darauf durch Pythia, die Priesterin  des neuen  Gottes, verwaltet wurde. Um den Dreifuss des Orakels musste er mit Herakles  kämpfen.  Seine Waffe waren, wie bei seiner Zwillingsschester Artemis,  Pfeil und Bogen, mit denen er u. a. die sieben Söhne der Niobe tötete (während Artemis  die sieben Töchter vernichtete), weil Niobe seiner Mutter Leto gegenüber mit ihrem Kinderreichtum geprahlt hatte.  Auch die Kyklopen  tötete Apoll mit seiner Waffe, weil diese dem Zeus Donnerkeile und Blitze geschmiedet hatten und Zeus mit einem dieser Blitze Apollons  Sohn Asklepios  getötet hatte,  der sich erfrecht hatte,  mit seiner Heilkunst  selbst die Toten wieder  zum Leben zu erwecken.  Apollon muss ein furchterregender Gott gewesen  sein, heisst  es doch im Mythos,  dass die Nymphe  Daphne,  die er liebte und der er nachstellte,  die Flucht vor ihm ergriff und auf ihr Gebet hin in einen Lorbeerbaum verwandelt wurde.  Seither ist der Lorbeer dem Apoll heilig, und haben Lorbeerzweige und Lorbeerkränze kultisch-festliche Bedeutung.  Der Mythos  bringt ihn auch in Verbindung mit der Musik.  Von Hermes, seinem Halbbruder (Sohn des Zeus und der Nymphe Maia),  soll Apoll  die Kithara,  die Leier als Ersatz  für die Rinderherden erhalten haben; mit der Leier besiegt  er in einem musikalischen Wettstreit den unglücklichen Satyr Marsyas, der mit der von Athene weggeworfenen Flöte es gegen Apoll aufnehmen wollte.  Apoll lässt den Unterlegenen an einem Baum  aufhängen  und lässt ihm die Haut  abziehen.  (Schon in der Antike war die Verwandtschaft von Bogen und Leier, d.h. die Doppelfunktion des gleichen oder ähnlichen Instruments zum Töten und zur Erquickung ein Thema).

Sie sehen, die Mythologie weist Apoll unterschiedliche Funktionen zu:  als Gott der Traumdeutung (Orakel), als Heilgott (Vater des Asklepios), als Städtebauer und Torwächter, als Beschützer  der Herden, als Sühne- und Rachegott,  als Beschützer der schönen Künste.  Nach und nach verdrängte Apoll viele ältere Gottheiten; der Besuch der Orakelstätten in Delphi und Delos  hatte eine einigende Funktion für die verschiedenen Stadtstaaten  des zersplitterten alten Griechenlands. Sowohl die athenische Demokratie wie die spartanische Aristokratie  stellten sich unter den Schutz Apolls.  Etwa vom sechsten vorchristlichen Jahrhundert an wird er von den Griechen auch als Lichtgott und als Gott des Masses und der Sittlichkeit verehrt, etwa vom fünften Jahrhundert  an ebenso von den Römern.  Kaiser Augustus baut zu seinen Ehren im Jahre 28 v.  Chr.  einen prachtvollen Tempel auf dem Palatin.

Dionysos, auch Bakchos genannt, ist ebenfalls ein Halbbruder Apollons, ein Sohn des Zeus und Semeles, der Tochter des thebanischen Königs Kadmos. Auch bei der Geburt dieses Kindes versucht die eifersüchtige Hera zu intervenieren. Da Zeus seiner Geliebten die Erfüllung eines Wunsches versprochen hat, suggeriert Hera Semele, sie möge von ihrem Geliebten verlangen, dass er ihr in seiner wahren Gestalt erscheine. Wie Zeus sich jedoch in seiner Göttlichkeit, in Feuer und Blitz sich offenbart, verbrennt die sterbliche Semele. Zeus aber näht den sechsmonatigen Embryo in seinem Schenkel ein und trägt ihn dort aus. Nach der Geburt übergibt Hermes das göttliche Kind den Nymphen zur Betreuung,  später übernimmt dessen Erziehung der Silen, ein zweibeiniger Pferdemensch, ein wildes Naturwesen.  Dionysos, auch er seiner Mutter treu verbunden, wird in die Unterwelt hinuntersteigen und seine Mutter in den Olymp emporführen, wo sie den Namen Thyone annimmt. Die göttliche Abstammung des Knaben Dionysos zeigt sich im Zusammenhang  mit seiner Gefangennahme durch italienische Seeräuber anlässlich seiner Überfahrt von Ikaria nach Naxos. Die Fesseln fallen von selbst, Efeu- und Weinranken schlinken sich um den Mast des Schiffes,  das mitten im Meer stille steht.  Die Seeräuber,  die den Knaben als Sklaven verkaufen wollten,  erkennen dessen Göttlichkeit, stürzen sich ins Wasser und werden in Delphine verwandelt.  Auf  Naxos vermählt sich Dionysos mit der kretischen Königstochter Ariadne, die von Theseus verlassen wroden war.

Die Wein- und Efeuranken auf dem Seeräuberschiff versinnbilden die Bedeutung von Dionysos überhaupt. Er ist die Schutzgottheit der Vegetation,  der Fruchtbarkeit und der Wiederkehr des Lebens; seine eigene Wiedergeburt wird alle zwei Jahre auf dem Parnass gefeiert.  In Delphi, wo  sein Grab verehrt wird und wo er das Heiligtum – nicht das Orakel – mit Apollo teilt, – finden zu seinen Ehren mehrtägige, zum Teil ausgelassenen Feierlichkeiten und Prozessionen statt, bei denen der Gott in Tiergestalt erscheint, von Nymphen, Silenen und Satyrn begleitet, und wo regelmässig auch Phallussymbole mitgeführt werden.  In seiner Verehrung zeichnen sich vor allem Frauen aus, die Bakchai (auch Bakchantinnen, Mänaden oder Thyiaden genannt), die an den dionysischen Festen  als “Verzauberte”, in rauschhaften Zuständen, mit Tierfellen und Efeukränzen bekleidet, über die Berge und durch die Wälder streifen.  In Athen fanden die Dionysien im Februar und März statt, um den Beginn der Schifffahrt zu feiern,  auf dem Land dagegen im Herbst, zur Zeit der Weinlese.  Der Kult des Dionysos breitete sich im Westen nach Italien, im Osten über die ganze Ägäis , ja bis nach Indien aus.  In der späteren Orphik verwandelte  sich der von den Titanen zerrissene Zagreus in Dionysos, respektive Zagreus und Dionysos vermischen sich zu einer einzigen Gestalt. (Zagreus, ein Sohn des Zeus under Persephone, wird von den Titanen zerrissen,  das noch zuckende Herz verschlingt Zeus, resp. er lässt es Semele verschlucken,  die dadurch mit dem jungen Dionysos schwanger wird, womit wiederum die Geschichte des Dionysos beginnt) .

Für Simone Weil war die Zagreus-Dionysos-Gestalt eine der mytischen Vorankündigungen  des christlichen Erlösergottes, dessen Tod und Wiederauferstehung sie im Zagreus-Dionysos-Mythos vorgebildet fand.  Sie interpretierte dessen Lebenszuwendung und Lebensverhaftetheit nicht im Sinn der – nach christlicher Umdeutung – sündhaften Sexualität, sondern im Sinn der symbolhaften Versicherung der Auferstehung und des “ewigen” Lebens – dies obwohl Simone Weil selbst auf Grund ihrer eigenen neurotischen  Sexualitätsscheu ebenso gut Zugang zur traditionellen Deutung hätte finden können.

Bei Friedrich Nietzsches Auseinandersetzung  mit dem dionysischen Prinzip – von der “Geburt der Tragödie” an in einem nich abbrechenden Veränderungsprozess durch alle späteren Werke hindurch – geht es, grob zusammengefasst,  auch um das Axiom der ewigen Wiederkehr des Lebens, um den Sieg des Lebens über den Tod, um die “Negation der Negation”, um mit Hegel zu sprechen, wobei Nietzsche eben kein Dialektiker war,  sondern die Dialektik als “Sklavenhaltung”,  als Ergebnis einer christlichen Dichotomisierung von Sünde und Erlösung, vom Einen und vom Anderen,  gänzlich ablehnte.  Aber bis Nietzsche zur umfassenden Bejahung des Vielen kam, damit zur Bejahung des Zufalls als der wahren und unausweichlichen Notwendigkeit, der gegenüber nur der Spieler,  der Künstler  und das Kind eine Bejahung  realisieren können,  die weder von Zielsetzungen noch von moralisierenden Vorstellungen des Versagens oder der Schuld und des schlechten  Gewissens verfälscht  ist, bis er zu diesem Bild des Dionysos  und zum Bild der ewigen Wiederkehr kam, dem gegenüber nur eine Haltung  des “amor fati”,  des Bejahens des Lebensspiels zu vertreten ist, musste  er verschiedene Stadien des Gegensätzlichen durchgehen.  Den Gegensatz zwischen  dem Apollinischen und dem Dionysischen zuerst, vor allem in der “Geburt der Tragödie”,  wo es zuerst um die Schmerzen  der Individuation im Gegensatz zum dionysisch Allgemeinen  geht (S. 97), um Mass und Übermass,  um den Gegensatz von Drama und Tragödie,  von  Schein und Sein.  Doch wie Apoll und Dionysios  in Delphi im selben Heiligtum verehrt  werden,  so löst sich das Apollinische nach und nach im Dionysischen auf; “das Drama ist die apollinische Versinnlichung  dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen”, wie Nietzsche schreibt,  oder, an einem anderen  Ort, “der tragische  Mythus ist nur zu verstehen als eine Verbildlichung dionysischer Weisheit  durch apollinische Kunstmittel; er führt  die Welt der Erscheinungen an die Grenzen, wo  sie sich selber verneint  und wieder in den Schoss der wahren  und einzigen Realitäten  zurückzuflüchten sucht”. Eigentlich  geht es in Nietzsches “Geburt der Tragödie” – etwa vom  12.  Kapitel  an – zunehmend  weniger um den Gegensatz zwischen  Apoll und Dionysos, als um denjenigen zwischen  Dionysos  und Sokrates,  das heisst um die Auseinandersetzung zwischen  dem Leben und dessen rückhaltloser Bejahung und der Idee vom Leben, resp.  der Theorie vom Leben.  Doch  auch dieser Gegensatz  hebt sich in der Gestalt  des Sokrates  wiederum selbst auf  da dieser,  zuerst  selbst apollinisch formgebend, zum Ende  seines Lebens hin selbst dionysisch wird,  “musiktreibend” und tragisch.  (In dieser Verbindung,  die er “sokratische Kultur”  nennt,  erkennt Nietzsche die “Kultur der Oper”,  die er als die “Geburt des theoretischen Menschen” bezeichnet).  Am Ende von Kap. 21 stellt Nietzsche fest:  “So wäre wirklich das schwierige  Verhältnis  des Apollinischen  und des Dionysischen in der Tragödie durch einen Bruderbund beider  Gottheiten zu symbolisieren:  Dionysos redet  die Sprache  des Apoll, Apoll aber schliesslich die Sprache Dionysos’:  womit das höchste  Ziel der Tragödie  und der Kunst überhaupt erreicht  ist”.

Das Apollinische und das Dionysische  werden  bei Nietzsche in keiner Weise zur Konstruktion einer Geschlechterdifferenz benützt,  im Gegenteil.  Das Weibliche findet sich in der Gestalt  der Ariadne,  die Braut und Gefährtin,   die mit Dionysos  in der Kraft  der Bejahung,  selbst des äussersten  Schmerzes,  komplementär ist (s. Dionysos-Dithyramben).  Für Nietzsche spitzt sich die Phase  der Durcharbeitung der Gegensätze im Gegensatz Dionysos-Christus / Christentum zu – noch nicht in der “Geburt der Tragödie”,  sondern vor allem in “Umwertung aller Werte”, dann in der “Genealogie der Moral”, im “Ecce homo”,  im “Antichrist”  etc.:  ‘Hat man mich verstanden? -Dionysos gegen den Gekreuzigten” – mit diesen Worten  endet “Ecce homo”. Diesen – für die christliche  Vorstellung blasphemischen – Gegensatz erklärt Nietzsche einerseits selbst durch seine Ablehnung der nur mit Sünde,  Schuld und Erlösung operierenden christlichen Moral (eigentlich  schon die Moral Anaximanders), die durch die Schaffung  des schlechten  Gewissens  den Menschen in ständige innere  Schmerzen treibt, andererseits durch Zarathustra, den er als “ersten Psychologen des Guten und damit, folglich,  als Freund  des Bösen bezeichnet,  der für ihn “Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit” bedeutet, für den der Mensch vor  allem ein Werdender ist. Das Werden  aber,  auch das Sein des Werdens, ganz existenzphilosophisch, kann nur bejaht werden  (in der griechischen Antike ist diesbezüglich  für Nietzsche der Rekurs  auf Herkalit massgebend).

Camille Paglias Unterscheidung des Apollinischen  und des Dionysischen lässst die beiden Prinzipien als unvereinbare Gegensätze nebeneinander stehen,  auch wenn  sie die Adrogynie und das Transvestitentum erwähnt  – doch nicht im Sinn der Partizipation des einen Geschlechtes am anderen,  sondern  als irgendwie  lächerlichen  Übergriff oder als missglückte  Imitation.  Doch ich möchte  auf den Text selber eingehen,  den Sie vorbereitet haben. Als Zusammenfassung den Absatz,  der im ersten Drittel von  S. 127 beginnt:  Lektüre  und Diskussion.

 

  1. Dezember 1995

Unter dem Titel “Wiederkehr der grossen Mutter – Rousseau versus de Sade” thematisiert Camille Paglia erneut das dionysische Naturverständnis, wie sie es einerseits in seiner hegenden-mütterlichen Ausgestaltung bei Jean Jacques Rousseau, andererseits in seiner verschlingenden-dämonischen Seite beim Marquis de Sade vorfindet, dessen pervertiert orgiastischen Vorstellungen sexueller Praktiken und Überschreitungen sie viel Platz einräumt. Bevor wir dieses Kapitel diskutieren, möchte ich zuerst einige Ergänzungen zu CP’s Rousseau-Darstellung machen, sodann – im Zusammenhang mit de Sade – auf die erste der drei Abhandlungen zur Sexualtheorie Sigmund Freuds von 1905 eingehen, auf die Abhandlung über die “Sexuellen Abirrungen”.

Zuerst zu Jean Jacques Rousseau: 1749 hatte die Akademie von Dijon die Preisfrage ausgeschrieben, ob die Erneuerung der Wissenschaften und der Künste dazu beigetragen habe, die Sitten zu verbessern oder zu reinigen. Bei der Frage ging es darum zu wissen, ob der zivilisatorische Fortschritt  die Menschen besser  gemacht habe. Rousseau nahm dazu Stellung in seinem “Discours sur les sciences et les arts” von 1750, dem er 1755 einen weiteren “Discours sur l’origine et les fondements e l’inégalité parmi les hommes” folgen liess. Er verneinte die Frage der Akademie und begründete seinen Standpunkt durch eine radikale Zivilisations- und Fortschrittskritik. Wissenschaften und Künste hätten vor allem Privilegien geschaffen und die Konzentration von Macht begünstigt; auch sei die Gesellschaft in ihrer Entwicklung zu Privateigentum, Unter- und Überordnung eine Geschichte der menschlichen Entfremdung und der gegenseitigen menschlichen Versklavung. Seither formuliert er seine Forderung des “retour à la nature”, der Rückkehr zum Naturzustand. Zwar weiss er, dass diese Forderung unrealistisch ist, doch er versteht sie als eine Aufforderung zur Reflexion auf Erziehungs- und Gesellschaftsgrundsätze, die eine Aufhebung der Entfremdung bewirken könnten.

In dieser Absicht schreibt Rousseau seinen Erziehungsroman “Emile ou de l’éducation” von 1762, in dem er Erziehungsgrundsätze entwickelt, die ganz seinem idealisierten Menschenbild entsprechen: “L’homme est né bon, c’est la société qui le déprave”. Diesem Grundsatz zufolge soll Erziehung nur in der Förderung der guten Anlagen des Kindes bestehen. Um seine eigenen fünf Kinder, die ihm Thérèse le Vasseur gebirt (er heiratet sie 1768), kümmert er sich allerdings nicht;  er überlässt sie der öffentlichen Fürsorge. Doch sein Glaube an den “natürlich guten Menschen” ist das tragende Fundament auch seiner Gesellschaftstheorie  –  ein romantisches Fundament, das vor allem Distanz zu seiner eigenen Zeit schaffen sollte. Rousseau versetzte sich träumend-moralisierend in einen Urzustand der Menschen, den er zu rekonstruieren versucht. Mit seinem – vor allem gegen Montesquieu gerichteten -,  im gleichen Jahr wie “Emile” erschienenen “Contrat social ou principes du droit politique” baut er dieses optimistische Menschenbild weiter aus, indem er es auch im Zusammenleben, in der Vergesellschaftung zu erhalten sucht. Wie? – durch die Zustimmung des Menschen zu einer “volonté générale”, einem “allgemeinenWillen”, der gesetzgebende Funktion hat, eine Zustimmung, die er als “freiwillige” Unterordnung unter das Gemeinwohl postuliert. Dass dieser “unteilbare Gemeinwille” zum totalitären Instrument, zum antifreiheitlichen “Volkswillens” werden sollte, konnte Rousseau nicht ahnen. Sein Einfluss auf die Gesellschafttheorien der Französischen Revolution, Fichtes und Marxens war in der Tat bedeutend. Die von CP besonders thematisierten “Confessions” und “Rêveries d’un promeneur solitaire” sind Spätschriften (1781- 86) des schon unter Verfolgungswahn leidenden, zurückgezogenen Rousseau, die dieser im Sinn einer Selbstverteidigung schrieb.

Rousseaus Forderung des “retour aux sources”, des “retour à la nature” durchzieht als Leitmotif sein ganzes Werk bis zu den “Bekenntnissen”, mit Hilfe derer er den Widersprüchlichkeiten seines Charakters auf den Grund gehen will. CP ist zuzustimmen, dass dadurch eine ganze Tradition der Autobiographie und der Selbstsuche begründet wird. Es muss jedoch ergänzt werden, dass Rousseau ständig den Einfluss der Gesellschaft mitbedenkt, ja dass seine Bedeutung nicht in der ausschliesslichen Introspektion, sondern in der Gesellschaftstheorie liegt, die er in der Auseinandersetzung mit den den älteren Theoretikern formuliert, etwa mit Hugo Grotius, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts das neuere Naturrecht und Völkerrecht begründet hat, oder mit Montesquieu, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts  mit seinem Hautpwerk “De l’esprit des Lois” die gesellschaftliche, politische Erfassung der Völker aus ihrer Geschichte zu erklären suchte und der nach dem Vorbild der englischen Verfassung eine klare Gewaltentrennung auch für Frankreich forderte. Dieser Meinung (nämlich dass Rousseaus grösste  Bedeutung in der Gesellschaftstheorie liegt) sind auch Jean Starobinski oder Bronislaw Baczko, bedeutende Kenner von Rousseaus Philosophie. Baczko schreibt: “‘Sein Selbst suchen’ heisst (bei Rousseau) übrigens nicht, sich in den Grenzen des Individuums abkapseln; was der Mensch in seinem Inneren finden sollte, finden muss, ist jene ‘urspüngliche Offenkundigkeit'”. Damit ist das Bestreben gemeint, alle “Denaturalisierungsprozesse”, welche die ursprünglichen Anlagen und Bedürfnisse, verfälschen oder zudecken, offen zu legen und zu durchschauen. Es ging Rousseau dabei auch weniger um die Kritik an bestimmten Institutionen, an dieser oder jener, sondern um die Analyse der tiefgreifenden moralischen Krise, die er in seiner Epoche feststellte. Diese hing, Rousseau zufolge, vor allem mit dem falschen Zusammenleben der Menschen untereinander zusammen, durch welches Ungleichheit in immer stärkerem Mass zur Regel wurde, während im “Naturzustand” die Menschen sich gleich waren. Die Wiederherstellung der Gleichheit – ein utopisches Ziel – ist daher die Bedeutung des “Zurück zur Natur”. – Der grosse Fehler, der philosophische Fallstrick der Rousseau’schen Theorie liegt in der nicht-beachteten Differenz zwischen der idealen Konstruktion und der Faktizität.

Mit der Faktizität, insbesondere mit jener der menschlichen Verschiedenheit, setzte sich auf besondere Weise Sigmund Freud auseinander. Ich denke, dass es von Nutzen ist, vor der Besprechung von CP’s de Sade-Kapitel Sigmund Freud’s Untersuchungen zu den sexuellen “Abirrungen” kennenzulernen. Der 1856 geborene Freud verfasste sie 1905, also im Alter von 49 Jahren, nachdem er schon etwa seit zehn Jahren seine psychoanalytische Theorie zu entwickeln begonnen hatte, an der er sein ganzes Leben lang weiterarbeitete. Er starb 1939 im Exil in London.

Die Abhandlung beginnt mit einer Definition. Freud hält fest, dass die Tatsache geschlechtlicher Bedürfnisse bei Mensch und Tier in der Biologie durch die Annahme eines ‘Geschlechtstriebs’ ausgedrückt werde, in Analogie mit dem Trieb zur Nahrungsaufnahme, dem Hunger. Da in der Volkssprache eine dem Wort ‘Hunger’ entsprechende Bezeichnung fehle, gebrauche die Wissenschaft dafür den Begriff “Libido”.

Freud nimmt somit für den Sexualtrieb die gleiche Kategorie an wie für den Überlebenstrieb, und so wie sich der zweite im Hunger zeigt, äussert sich der erste in der Libido. Er geht zuerst auf Vorurteile ein, die es auszuräumen gelte: etwa auf jenes, dass der Geschlechtstrieb in der Kindheit fehle und sich erst in der Pubertät einstelle, dass er sich nur in der Anziehung zwischen dem einen und dem anderen Geschlecht mit dem Ziel der geschlechtlichen Vereinigung äussere. “Diese Angaben”, hält er dann fest, gäben ein “ungetreues Abbild der Wirklichkeit” wider, das “überreich an Irrtümern, Ungenauigkeiten und Voreiligkeiten” sei. Um diese auszuräumen, resp. um der pauschalen Verurteilung aller nicht auf Reproduktion ausgerichteten Sexualität entgegenzuwirken, führt er zwei Begriffe ein: den Begriff des Sexualobjekts, mit dem er die Person bezeichnet, von der eine geschlechtliche Anziehung ausgeht; und den des Sexualziels, womit er die Handlung bezeichnet, nach deren Vollzug der Trieb drängt.

Gemäss Freud weist die wissenschaftliche Erfahrung eine grosse Anzahl von Abweichungen in Bezug auf beides – auf Sexualobjekt und Sexualziel – nach. Die ersten Untersuchungen bezüglich des Sexualobjekts beziehen sich auf die gleichgeschlechtliche Liebe (bei Freud “Inversion”). Dabei kommt Freud zum Schluss, dass die gleichgeschlechtliche Liebe nicht eine Degenerationserscheinung sei; sie finde sich bei Personen, die (1) “keine sonstigen schweren Abweichungen von der Norm zeigen”, (2) deren “Leistungsfähigkeit nicht gestört sei, sondern die sich durch besonders hohe intellektuelle Entwicklung und ethische Kultur auszeichnen”, (3) dass sie eine “häufige Erscheinung, fast eine mit wichtigen Funktionen betraute Institution bei den alten Völkern auf der Höhe ihrer Kultur war”, schiesslich (4)  dass sie auch “beiwilden und primitiven Völkern ungemein verbreitet” sei. In Bezug auf das Sexualobjekt korrigiert Freud die irrige Auffassung, die sei die Vereinigung mit dem gleichen Geschlehct; er stellt fest, dies sei vielmehr die “Vereinigung beider Geschlechtscharaktere”, damit sei die Inversion eine Spiegelung der eigenen bisexuellen Natur. So sei auch festzustellen, dass etwa die anale Libidobefriedigung nicht mit der Inversion zusammenfalle, diese sei bei der zweigeschlechtlichen Liebe ebenso häufig. Freud kommt dann zum Schluss, dass “der Geschlechtstrieb zunächst unabhängig von seinem Objekt bestehe und seine Entstehung auch nicht den Reizen des Objekts verdanke.

Als zweite “Abirrung” hinsichtlich des Sexualobjekts untersucht Freud die Erscheinungen des Geschlechtsverkehrs mit geschlechtsunreifen Personen, gar mit Kindern, oder mit Tieren. Er stellt fest, dass mit wenigen Ausnahmen Kinder nicht die ausschliesslichen Sexualobjekte solcher Personen sei, sondern ” dass sie zumeist in diese Rolle gelangen, wenn ein feige und impotent gewordenes Individuum sich zu solchem Surrogat versteht oder ein impulsiver (unaufschiebbarer) Trieb sich zur Zeit keines geeigneteren Objektes bemächtigen kann”. Er fügt bei, “eine ähnliche Bemerkung gilt für den besonders unter dem Landvolk gar nicht seltenen  Verkehr mit Tieren, wobei sich etwa die Geschlechtsanziehung über die Artschranke hinwegsetzt” Freud kommt zum Schluss, dass man “aus ästhetischen Gründen diese wie andere schwere Verirrungen gern den Geistskranken zuweisen möchte, dass dies aber nicht angehe. So finde sich etwa sexueller Missbrauch von Kindern mit unheimlicher Häufigkeit bei Lehrern und Wartepersonen, bloss weil sich diesen die beste Gelegenheit dazu biete. Bei Geisteskranken zeige sich die betreffende Verirrung nur etwas gesteigert, oder, was besonders bedeutsam sei, zur Ausschliesslichkeit erhoben (…)”.

Auch “Abirrungen” hinsichtlich des Sexualziels werden von Freud untersucht. Als “normales Sexualziel” bezeichnet er die Vereinigung der Genitalien, die zu einer Befriedigung analog zur Sättigung beim Hunger führe. Diesbezüglich unterscheidet Freud zwischen (1) anatomischen Überschreitungen und (2) Verweilungen bei intermediären Relationen zum Sexualobjekt. Bei den anatomischen Überschreitungen – ob es dabei um den oralen oder analen Sexualverkehr gehe – habe es vor allem mit der Überwindung des Ekelgefühls zu tun. “Die Stärke des Sexualtriebes liebt es, sich in der Überwindung dieses Ekels zu bestätigen”. Dabei würden die Mund- und Afterschleimhaut den Anspruch erheben, selbst als Genitalien betrachtet und behandelt zu werden. In einem besonderen Kapitel geht Freud auf den Fetischismus ein, den er, bis zu einem gewissen Stadium, als Ausdruck aller Verliebtheit versteht. Eine pathologische Entwicklung stelle sich erst ein, “wenn sich das Streben nach dem Fetisch (…) anstelle des normalen Sexualzieles setze und zum alleinigen Sexualobjekt werde”.

Bei der zweiten Abirrung bezüglich des Ziels, bei der Fixierung von vorläufigen Sexualzielen,  unterscheidet Freud wiederum vor allem zwei Formen: einerseits das Betasten und Beschauen, das, wie er sagt, bis zu einem gewissen Grad bei den meisten “Normalen” vorkomme; zur “Perversion wird die Schaulust, (a) wenn sie sich ausschliesslich auf die Genitalien beschränke, (b) wenn sie sich mit der Überwindung des Ekels verbinde (etwa bei “Voyeurs” von Exkretionsfunktionen), (c) wenn dadurch das normale Sexualziel nicht vorbereitet, sondern verdrängt werde (etwa bei Exhibitionisten). Freud stellt fest, dass bei der Schaulust weniger der Ekel, sondern die Scham  sich entgegenstelle.

Wie beim Voyeurismus und beim Exhibitionismus sich eine passive und eine aktive Form der Schaulust abzeichnet, stellt Freud beide Formen auch bei den mit dem Beifügen von Schmerz verbundenen Abirrungen fest, beim Sadismus und beim Masochismus. Streng genommen könne nur die ausschliessliche Bindung der Befriedigung an Unterwerfung und Misshandlung als Perversion bezeichnet werden. Bei diesen beiden Formen reihe sich der Schmerz in die Linie von Ekel und Scham, um der Befriedigung der Libido Widerstand zu bieten.

In einem dritten Kapitel stellt Freud allgemeine Feststellungen zu allen Perversionen zusammen: die Tatsche, dass die meisten der “Überschreitungen” bei den “Gesunden” in einem bestimmten Grade auch vorkommen, d.h. einen Zusatz zum “normalen” Sexualziel bilden; ferner die Tatsache, dass “Personen, die sich sonst normal verhalten, auf dem Gebiet des Sexuallebens allein unter der Herrschaft des ungezügeltesten aller Triebe sich als Kranke dokumentieren”. Als krankhaftes Symptom seien die Ausschliesslichkeit und die Fixierung zu bezeichnen. Freud räumt dann ein, dass “gerade bei den abscheulichen Perversionen die ausgiebigste psychische Beteiligung anerkennen müsse. (…) Die Allgewalt der Liebe zeigt sich vielleicht nirgends stärker als in diesen ihren Verirrungen. Das Höchste und das Niedrigste hängen in der Sexualität überall am innigsten aneinander”.  Gerade darin zeigt sich, laut Freud, dass der Sexualtrieb nichts Einfaches ist, sondern sich aus Komponenten zusammensetzt. Freud geht dann in der Folge auf die klinischen Untersuchungen genauer ein, die gewissermassen den Nachweis seiner immer wieder vertretenen Entfremdungstheorie erbringen. Die Einleitung muss für heute genügen.

Bei Camille Paglia finden Sie ein grosse Auswahl an Exzerpten aus den Schriften de Sade’s. Auch wer diese nicht kennt, kann sich ein Bild vom Ausmass der wohllüstigen  Überschreitungen machen, die sich darin finden. Wie ist diese Literatur zu verstehen? Der Marquis de Sade lebte und schrieb an einer bedeutenden Zeitenwende. Noch war er Repräsentant des feudalen Systems, demzufolge er nach dem Motto des “tout faire” lebte, d.h. der ihm selbst zugebilligten Allmacht über Menschen, damit auch des selbst gesetzten Masses oder Übermasses seiner sexuellen Ausschweifungen. Das, was alle tun, genügte ihm nicht, das war das gewöhnliche Untertanenmass; er aber verlangte nach mehr.  Nun aber setzte sich im 18. Jahrhundert gegen die Willkür der Feudalherren der Geist der Aufklärung durch, der als sittlich erklärte, was zum allgemeinen Gesetz ernannt werden konnte. Der Marquis de Sade wurde eingekerkert, zur Untätigkeit und zu einem Überleben verurteilt, das ihm schlimmer erscheinen mochte als der Tod. Dabei hat er für sich sein ehemaliges Motto des “tout faire” umgebildet zum “tout imaginer” und zum “tout dire”, womit er gerade damit wiederum ein Postulat der Aufklärung erfüllte, das mit der Offenheit und Unverhülltheit der Sprache zu tun hatte.

Simone de Beauvoir geht in einem Essay dieser skandalumwitterten, hochkomplexen Gestalt nach. “Können wir unser Streben nach Universalität befriedigen, ohne auf unsere Individualität zu verzichten? Oder müssen wir aufgeben, was uns unterscheidet, wenn wir uns in die Gemeinschaft einordnen wollen? Dieses Problem geht uns alle an. Was ihn von seiner Umwelt unterscheidet, ist bei de Sade zum Skandal gesteigert; andererseits beweist uns der Umfang seines gewaltigen literarischen Oeuvre, dass er sehnlichst danach verlangte, in die mesnchliche Gemeinschaft aufgenommen zu werden: der Konflikt, den kein aufrichtiger Mensch ausweichen kann, findet sich bei ihm in extremster Form. Es ist das Paradoxe und, in gewisser Weise, der Sieg Sade’s, dass er, weil er hartnäckig an seinen Besonderheiten festhielt, uns dazu verhelfen kann, das menschliche Drama allgemein zu definieren”.

Wer war der Marquis de Sade? Es gibt kein Bildnis von ihm, auch nur ungenaue Hinweise auf seine Kindheit und Jugend. Es ist bekannt, dass er 1740 geboren wurde, dass er als Kind schon Hass und Gewalt kennen lernte, da er gleichzeitig mit dem französischen Prinzen Joseph-Louis de Bourbon im finsteren Schloss Saumane und später im erfallenen Kloster Ebreuil aufgezogen wurde, dass er sich gegen die Arroganz des Prinzen durch Zornausbrüche und Schläge so gewehrt hat, dass er vom Hof entfernt wurde, dass eine kurze Studienzeit der Eintritt in die Armee und ein Leben als “jeune agréable” – als junger Playboy – folgten. Er muss eine konfliktuöse, schwierige Beziehung zu seiner Mutter gehabt haben, doch weshalb diese so konfliktuös war, ist unbekannt; in seinen Schriften kommen nur immer wieder hasserfüllte Tiraden auf seine Mutter vor. Allerdings wird durch die Intrigen und Eingriffe seiner Schwiegermutter, gegen die er sich schonungslos zur Wehr setzte, unklar, ob nicht diese den Mutterhass begründete.  Mit 23 Jahren hat er sich dem Gebot seines Vaters gebeugt und Renée-Pélagie de Montreuil, eine von ihm überhaupt nicht geliebte, sehr tugendhafte, reiche junge Frau geheiratet. Nun beginnt das Drama. Im Mai 1763 verheiratet, wird er im Oktober wegen Ausschweifungen in einem Haus verhaftet, in das er sich schon im Juni begeben hatte. Die Gründe für die Verhaftung müssen schwerwiegend gewesen sein, de Sade schreibt an den Gefängnisdirektor inständige wirre Briefe, diese geheimzuhalten. Ein Jahr später  wies ein Inspektor Marais die Zuhälterinnen an, dem Marquis de Sade keine Mädchen mehr zuzustellen.

Die Situation war mehr als kompliziert: gleichzeitig war de Sade Gatte, wurde dreifacher Vater, war Marquis, Hauptmann bei der Armee, schliesslich Generalleutnant, er besass einige Schlösser und ausgedehnte Ländereien. Er will also jemand sein, der im öffentlichen Leben Ansehen geniesst und Bedeutung hat. Gleichzeitig aber will er seine sexuellen Träume ungezügelt ausleben können. Dies ist bei seiner züchtigen Gattin nicht möglich, sondern nur im Bordell. Gleichzeitig aber macht er seine Frau nach und nach zur Komplizin seiner Ausschweifungen; mehrmals steht sie für seine Ehre ein und deckt seine Untaten. Er selbst ist sich über den Reiz und die Gründe der Überschreitungen voll im klaren. “Was wünscht man, wenn man geniesst?” fragt er, und fährt fort: “Dass sich alles ringsum nur um einen kümmert, nur an einen denkt, sich nur mit einem beschäftigt. Es gibt keinen Menschen, der nicht ein Despot sein will, wenn er fickt”. Der Rausch der Despotie führt unmittelbar zur Grausamkeit, da in der Rolle des zudienenden Objekts durch dieses keine Grenzen gesetzt werden.

Wenn Sade schreibt, dass “die Genusssucht alle anderen Leidenschaften gleichzeitig unterordnet und vereint”, so traf dies für ihn zu und erklärt zugleich, dass der Skandal unausweichlich war. Er verführt die Schwester seiner Frau, eine junge Nonne, die seine Schwiegermutter eigentlich zum Zweck der Versittlichung des bösen Schwiegersohns in sein Haus gebracht hatte, erlaubt sich gleichzeitig erschreckende Ausschweifungen in Marseille, muss mit der Schwägerin nach Italien fliehen, diese zieht sich in ein französisches Kloster zurück, wo sie bis zum Lebensende bleibt, während Sade und sein Diener Latour in Aix in Abwesenheit zum Tod verurteilt werden. Von nun an lebt er ein gehetztes Leben, versteckt sich in Italien, wird in Savoyen aufgegriffen, im Schloss Miolans eingekerkert, woraus ihm seine Frau zur Flucht verhilft, doch dies bedeutet keine Rückkehr  in die Gesellschaft, auch wenn er sich auf seinem Schloss La Coste, gedeckt und unterstützt durch seine geduldige Renée-Pélagie, eine Art von privatem Harem einrichtet. Doch dieser fliegt auf, wieder muss Sade fliehen, sich verstecken, er wagt sich nach Paris, seine Schwiegermutter lässt ihn in Vincennes festnehmen, 1777, er kommt wieder frei, wird von neuem verhaftet und von 1778 an zuerst in Vincennes, dann in der Bastille eingekerkert, elf Jahre lang. Sade wird zum Vielfrass und zum masslosen Schreiber. Hier entstehen “Das Zwiegespräch zwischen einem Priester und einem Sterbenden”, die “Hundertzwanzig Tage von Sodom”, “Die Unglücke der Tugend” und “Aline und Valcour”. 1988 soll er 35 Theaterakte, ein halbes Dutzend Erzählungen und fast das ganze “Tagebuch eines Literaten” geschrieben haben.

Am Karfreitag des Jahres 1790 wird der nun Fünfzigjährige aus der Bastille entlassen. Seine Frau will sich von ihm trennen lassen, der eine Sohn ist dran auszuwandern, der andere ist Malteserritter, seine Tochter bezeichnet er als “gute dicke Bäuerin” – seine Herkunft und Familie sind ihm fremd geworden, er versucht, ein Bürger im Sinn der Revolution zu sein. Er gebärdet sich als Republikaner, vertritt einen radikalen Sozialismus, die Abschaffung des Privateigentums, legt jedoch Wert darauf, sein Schloss und seine Ländereien behalten zu können. Von der Schreckensherrschaft der Revolution ist er entsetzt, distanziert sich davon, dass durch Gesetze die begangenen Bluttaten legitim sein sollen. Als er zum Staatsanwalt ernannt wird, weigert er sich, im Namen des Gesetzes Rache zu üben; alle Prozesse schlägt er nieder. Selbst an der von ihm so gehassten Mme de Montreuil, seiner Schwiegermutter und ihrer Familie, will er nicht Rache nehmen. Die Folge ist, dass er im Dezember 1793 selbst eingesperrt wird, 375 Tage lang, ständig die Guillotine vor Augen. Die durch die Statthalte r der Revolution “mit gutem Gewissen ausgeübte Schreckensherrschaft ist die radikale Verneinung der dämonischen Welt Sades”, schreibt Simone de Beauvoir  (s. S.23). Mit grossem Verlust muss er sein Schloss La Coste Verkaufen, vergeudet und verdummt den Erlös, verdient schliesslich beim Théâtre de Versailles 40 Sous am Tag, wird auf den Tod krank, schliesslich wird er ein letztes Mal eingesperrt, da er die Unvorsichtigkeit – oder die Absicht – hat, “Justine” in Umlauf zu bringen sowie “Zoloé”, ein Buch, in welchem er Barras, Bonaparte, Joséphine und andere wichtige Persönlichkeiten angreift. Von Sainte-Pélagie, wo er am 5. April 1801 eingesperrt wird und weiter an seinem gewaltigen schriftstellerischen Werk arbeitet – hier entstehen “Die Tage Florabelles” oder “Die enthüllte Natur”, dann die beiden Bände “La Marquise de Granges”, wird er später in die Irrenanstalt von Charenton verlegt, wo er seine Tage beendet, indem er mit “Sensible”, seiner Altersliebe, im Garten spaziert, für die Kranken Komödien schreibt und aufführen lässt, an Ostern das geweihte Brot reicht und Almosen sammelt, höflich war bis zu Unterwürfigkeit. Am 2. Dezember 1814 stirbt er an einer “Lungenkongestion in Form von Asthma”, wie es in der Todesurkunde hiess.

Wenn noch Zeit bleibt: Simone de Beauvoir’s Beurteilung ab S. 26 (ev. Die Erklärung, warum Sade Frauen zu Täterinnen machte S.32, Erklärungen zu Sade’s anales Sexualität, zur Koprophilie S.33/34, eine Art Quintessenz S. 40, S.47

Anschliessend zur Diskussion dieser Einleitung sowie des Paglia-Textes übergehen.

 

  1. Dezember 1995

Kult um Sexus und Schönheit  (Kap.15/16):

Camille Paglia widmet sich in diesen beiden Kapiteln einer in den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts beginnenden, etwa fünfzig Jahre dauernden Periode der französischen Literatur – mit einigen Einsprengeln englischer und österreichischer “Verwandter” -, die als Periode der Dekadenz gilt. Was heisst “Dekadenz”?  – wörtlich abgeleitet von “de-cadere”, ab-fallen, also Niedergang. Niedergang aber in Hinblick worauf? – resp. auf welche andere Periode? – oder in Hinblick auf welchen Höhepunkt? CP definiert einleitend, was sie unter Dekadenz versteht: “An die Stelle der Natur tritt die Kunst. Das ‘objet d’art’ wird zum Mittelpunkt fetischistischer Kennerschaft. Die Person verwandelt sich  in ein aller Gesetzlichkeit entzogenes, schönes Ding. In der Dekadenz erreichen die Masken der Sexualität äusserste Strenge und Künstlichkeit. Alles ist durchtränkt mit Sexualität, aber die Sexualität gehört für die Dekadenz eher auf dei  Seite des Denkens als des Handelns. Die Dekadenz ist ein apollinischer Angriff auf das Dionysische” (S.479).

Soweit ist CP beizupflichten. Die Ästhetisierung, die in den dreissiger und vierziger Jahren in der Literatur, in der Kunst und im Lebensstil eingeleitet und zelebriert wird, bedeutet Erholung vom Trauma der Revolution, von Sieyès’ Verabschiedung des Erbschaftssystems und damit vom Verlust der Privilegien, von der Gleichschaltung der Eliten und deren Bedürfnissen mit jenen des Tiers Etat. Daher erwähnt CP zu Recht, es ginge hier um einen Rückgriff auf die Welt des Ancien Régime. Zu ergänzen sind die politischen Konnotationen: dass mit der politischen Restauration zuerst der Bourbonen  (Louis XVIII wird 1814 aus dem Exil in Verona zurückgeholt und regiert bis 1824, gefolgt von  Charles X bis 18230), die von Racheakten gegen die Jakobiner und Bonapartisten begleitet ist, anschliessend, nach der Juli-Revolution von 1830, des Herzogs von Orléans, des “Bürgerkönigs” Louis Philippe I, der zwischen liberalen und konservativen Kräften zu lavieren versucht, gleichzeitig aber ein autoritäres Regime nach Innen führt, das jede Art von Korruption begünstigt (- die Regierung gleicht, sagt Alexis de Tocqueville, einer korrupten Aktiengesellschaft, die ihre Mitglieder mit materiellen Vorteilen an sich zu binden sucht (“Enrichissez-vous” soll Louis Philipp I dem Finanzbürgertum geraten haben), zugleich nach Aussen sich mit mit der Erweiterung des Kolonialbesitzes in Afrika und in Ozeanien und Prestigeerfolgen vor allem im Norden Afrikas einen Anflug von Stärke gibt: 1840 finden Eroberungen in Ägypten statt, 1843 wird die Eroberung Algeriens abgeschossen, im selben Jahr findet der Staatsbesuch der Königin Viktoria von England in Frankreich statt  Zwischendurch (1836 von Strassburg, 1840 von Boulogne aus) versuchte der napoleonische Prätendant Louis Napoléon, an die Macht zu gelangen, erfolglos; es gelingt ihm, aus der Haft zu fliehen und sich nach England abzusetzen.

Gegen die Missbräuche des neuen – wiederum aristokratischen – Machtapparats bildet sich wohl Opposition, vor allem von Seiten der Repuplikaner und Bonapartisten, die auch von einigen bedeutenden Literaten – Dichtern und Schriftstellern, darunter zum Beispiel Lamartine -, gestützt werden, etwa durch die Einführung und Durchführung der berühmt gewordenen “Banquets républicains”, Opposition jedoch zunehmend auch vom hungernden, arbeitslosen Volk her in den sich – im Lauf der Wirtschaftskrise in den Jahren 1846/47 – radikalisierenden frühsozialistischen Bewegungen, denen, unter anderen,  Louis Blanc oder Flora Tristan eine Stimme geben.  Wie im Februar  1848 die Durchführung eines “Banquet républicain” verboten wird, kommt es zur Februarrevolution, wenig später, nach der Schliessung grosser Nationalwerkstätten, im Juni zur Junirevolutioon, bei der auf Befehl des Kriegsministers Eugène Cavaignac die “rote Gefahr” brutal zusammengeschossen wird. Es werden unter den Aufständischen an die 10’000 Tote gezählt.. Im Dezember 1848 wird der Enkel Napoléons, der 40jährige Prinz Louis Napoléon, Päsident der zweiten Republik, im Dezember 1852 wird  das erbliche Kaisertum Napoléons III eingeführt.

Von all diesen Wirren, vor allem von der so unästhetischen Not des hungernden Volkes distanzieren sich die Ästheten. Was für sie zählt ist, was sie selbst zelebrieren ist, dass, Hand in Hand mit der politischen Restauration, die Restauration der individualisierten und auch privilegierten Definition von Lebensformen und Lebensnormen einhergeht. Hierin, meine ich, liegt die eigentliche Bedeutung der Dekadenz. Interessant ist, dass, gleichzeitig mit der  Absage an alle universalisierbaren Codices von Gut und Schlecht/Böse, auch eine Absage an die Dualismen von Weiblich und Männlich erfolgt. Hermaphroditentum resp. Androgynität sind die, mit CP’s Begriff, “Masken” der Sexualität, die  dem Bedürfnis nach “Zweckfreiheit” des Eros entsprechen: keine Reproduktion, kein “gesellschaftlicher Nutzen oder sittlicher Gehalt” (CP S.503), sondern Sexualität um der Sexualität willen, wie “l’art pour l’art”, daher, um wiederum auf CP zurückzukommen, Idealisierung oder Verdinglichung des Sexualobjekts. Dieses kann sich engelgleich verflüchtigen oder kann zerstört, getötet werden – eben wie ein Ding. In der Glorifizierung gerade dieser letalen Disposition sind Kitsch und Kunst nahe beisammen (cf. Saul Friedländer. Kitsch und Tod. Bei Friedländer allerdings geht es um Studien zur Todesverherrlichung im Nationalsozialismus).  Selbstkult, Narzissmus, Kult des vollkommen schönen Körpers sind sterile Variationen der Dekadenz.

Die wichtigsten Fragen, die sich in diesem zusammenhang, wie mir scheint, stellen, sind:

(1) die Frage, die CP S.513 stellt, ob das Verhältnis der Geschlechter zueinander verbessert werden könnte, wenn Androgynität allgemein verbreitet wäre, resp. Ob das Verhältnis der Geschlechter paritätischer und herrschaftsfreier wäre. (Eigentlich schon durch die zitierten Literaturbeispiele bestritten, bei denen es zumeist um Unterwerfungsmodelle geht, sodass die Frage nach der Konstitution von Herrschaft gestellt werden muss).

(2) Inwiefern zeigen sich in den zitierten Beispielen der Dekadenz Präfigurationen des Faschismus?

(3) Worin unterscheiden sich die Sade’schen “Überschreitungen” von denen bei Balzac und Gauthier?

(4) Wie verhalten sich der religiöse Sexualitätsdiskurs und Androgynität?

 

  1. Januar 1996

Wir kommen zum Abschluss einer gemeinsamen Arbeit:

Eros: Schöpferische Kraft, Verlangen, auch feschlechtliches Verlangen, Anziehungskraft über die – nicht nur – sinnliche Ausstrahlung und Wahrnehmung, besonders das Auge, aber auch über den Geruchssinn, den taktilen Sinn usw. Subjektive Bestimmung des Schönen als des Zustimmungsfähigen und Zustimmungswürdigen, als eines Objekts des Verlangens, wobei die sekundären Eigenschaften vielfätig und unterschiedlich sein können. Für kant ist das Schöne die Gestalt des Wahren. Wenn das “Wahre” auch als eine subjektive Kategorie verstanden wird, als dasjenige, was das Subjekt als wahr erkennt, mag damit auch die rückhaltlose Zustimmung und Übereinstimmung erklärt werden, die der Liebe, auch in ihrer geschlechtlichen Komponente der Vereinigung, eine ganz aussergewöhnliche, möglicherweise sogar absolute Qualität verleiht. Zu fragen ist, welche Rolle der Vorstellungskraft bei diesem zugleich epistemologischen, aesthetischen und sexuellen Akt zukommt. Die Vorstellungskraft verbindet und überhäht die verschiedenen Elemente der Zustimmung.

Zu fragen ist abschliessend auch, ob uns klarer wurde, welche Rolle Körper und Geschlecht spielen, welche Rolle der Geschlechterdifferenz (ev. der Gleichgeschlechtlichkeit) zukommt. Sind “männlich” und “weiblich” biologisch und psychologisch genau bestimmte Kategorien mit genau bestimmbaren Eigenschaften? Oder sind es – kulturell bedingte und sozial intendierte – Vereinfachungskonstrukte, die in erster Linie Machtdispositive legitimieren sollen, wie dies u.a. Michel Foucault und zahlreiche feministische Wissenschafterinnen (s. Bibliographie) nachweisen? Ist daher auch der Begirff des “Geschlechterkampfes”, wie er von der Mitte des letzten Jahrhunderts an bis etwa ins erste Drittel dieses Jahrhunderts die Literatur, die darstellende Kunst und die Musik bestimmte, ein kulturelles Konstrukt, das in starkem Mass von Theorien des evolutionären Leidens, des glücklosen Willens zur Durchsetzung und Fortsetzung dessen, was Leben und Welt bedeutet, letztlich frauenfeindlichen Theorien, insbesondere durch die Philosophie Arthur Schopenhauers (1788-1860) und in dessen Nachfolge Nietzsches und Wagners beeinflusst wurde.

Zu fragen ist, ob wir Fragen der Lust (Libido) und der Sexualität (der genitalen und nicht-genitalen Sexualität, die Zusammenhänge der Libido und deren Befriedigung mittels der primären und sekundären Geschlechtsorgane, aber auch der differenten Lustbefriedigungen, früher “Abirrungen”) und des Diskurses über Sexualität  besser zu unterscheiden vermögen. Diesbezüglich haben wir ja immer wieder versucht, die Rolle der regelsetzenden Religionen mitzubedenken (insbesondere die Einschränkung der Funktion der Sexualität auf die Prokreation), die Funkton des Sündebegriffs und der damit verbundenen Schuldgefühle. Weitere Fragen hatten – und haben wohl noch immer – mit den Zusammenhängen von Sexualität und Gewalt zu tun, mit Fragen der Lustunterdrückung, der Lustunfähigkeit oder der kommpensatorischen Lustbefriedigung mit Schadenfolgen für das Sexualobjekt. Zu fragen ist, welches die Rolle des Sexualstrafrechts ist. Was wir bisher nicht besprochen haben sind Fragen der ehelichen Sexualität sowie Fragen im Zusammenhang mit Sexualität und Alter.

Zum Diskurs über Sexualität gehört auch die Darstellung des Erotischen, des Geschlechtlichen, der Geschlechterdifferenz, der Liebesspiele, der geschlechtlichen Vereinigung, aber auch des Gewalttätigen in der Sexualität in Kunst, Literatur, Musik, Tanz und Spiele, z.B. Gymnastik, wie sie in einer Auswahl durch Camille Paglia vorgestellt wird, wie sie sich u.a. in der grossen Ausstellung im Münchner Lehnbachhaus und in der sorgfältigen Dokumentation von Barbara Eschenburg findet.

Zum Schluss ist zu fragen, wie das eigene Verhältnis zur eigenen Sexualität determiniert wurde und sich entwickelt hat, welches die Rolle von Aufklärung (Emanzipation), Säkularisierung, von grösserer Verhaltensfreiheit und von Information (Beziehung zum Körper, Körpererkundung, Masturbation/Onanie, Verhütungsmittel, Rolle von Prostitution und/oder Drogen) sind. Wessen es bedarf, um Fragen der Sexualität klären zu helfen (Rolle der Medien, der Kunst und der Literatur, Video und Film, der verschiedenen Therapieangebote von der religiösen Beratung zu Gesprächen mit erfahrenen Freundinnen/Freunden, medizinisch/organischer/venerischer/urologischer Beratung, Psychotherapie, Pychoanalyse, Paartherapien, z.B. Orgasmustherapien nach Masters & Johnson s. Ariès. Béjin, Foucaualt u.a.).

Beurteilung des Textbuchs / des Kurses.

 

 

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