Ein Plädoyer für das Unvollkommene

 Ein Plädoyer für das Unvollkommene

 

Vor fünf Jahren, im Jahr 1995,  hat auch die Schweiz sich verpflichtet, nicht nur auf 1945, sondern auf die ganze Vorkriegs- und Kriegszeit zurückzuschauen und schwerwiegende poltische Fehlentscheide in der damaligen  Flüchtlingspolitik, aber auch in der Aussen- und Innenpolitik zu bedauern. Gleichzeitig zeigen aktuelle Entwicklungen in der Ausländer- und Flüchtlingspolitik von neuem eine erschreckende Bedenkenlosigkeit, “rechte” Modelle des politischen Entscheidens und Handelns wieder gutzuheissen. Welches sind die Motive der Handelnden?Wie sind diese zu verändern?

Noch zu Beginn des jüngsten Krieges erfuhr ich, dass eine Gruppe bosnischer Flüchtlinge – eine Familie mit Kindern -, an der Grenze in Chiasso durch Grenzbeamte zurückgewiesen worden seien. Ich wurde gefragt, ob ich wüsste, wohin sie gehen, wo sie leben sollten. Einer sogenannt “ethnisch zu säubernden” Volksgruppe angehörend,  waren sie aus ihrem Haus durch bewaffnete Soldaten und Nachbarn vertrieben worden. Es mutet schon wie ein Wunder an, dass es ihnen gelang, durch das Kriegsgebiet hindurchzukommen, sich nach Kroatien, dann nach Italien zu retten, von wo sie versuchten, auf legale Weise in die Schweiz zu gelangen Hier arbeiten und leben seit Jahrzehnten Verwandte. Der Versuch gelang nicht, auch ein zweites Mal wurden die Flüchtlinge zurückgewiesen. Ein “passeur” führte sie in der Folge auf einem Bergpfad über die Grenze. Einige Zeit lebten sie versteckt, als Illegale, in einem Wochenendhaus von Bekannten der Verwandten, die sie auch mit dem Nötigsten versorgten, in vorläufiger Sicherheit, aber in krankmachender Abhängigkeit und Isolation, immer mit der Angst, entdeckt und abgeschoben zu werden. Sie meldeten sich schliesslich bei der Fremdenpolizei, um der Angst ein Ende zu setzen.

Eine Geschichte von heute, von hier. Nicht gleichzusetzen der Situation der von Erschiessung und von Deportation in die nationalsozialistischen Vernichtungslager bedrohten jüdischen Verfolgten, nicht gleichzusetzen der Erfahrung tiefster individueller und kollektiver Verhöhnung und Entwertung, mit dem Leiden von Millionen von Menschen, denen durch andere Menschen das Menschsein abgesprochen wurde. Die Schweiz und ihre Behörden hatten in den schlimmsten Jahren der Verfolgung Tausende jüdischer Flüchtlinge an den Grenzen zurückgewiesen oder hatten sich geweigert, Einreisevisa auszustellen. Auch heute sind unter den Einlasssuchenden häufig Menschen, die alles verloren haben, die nur ihr nacktes Leben gerettet haben. Auch wenn die Abweisung oder Rückschaffung nicht unausweichlich den Tod nach sich ziehen würde wie in den Dreissiger- und frühen Vierzigerjahren, so bedeuten sie doch Ausweglosigkeit und unzumutbare Verzweiflung.

Warum muten Menschen anderen Menschen Leiden zu? Warum lassen sie sich dazu bewegen? Ist es möglich, eine Antwort zu finden, die erlaubt, für Ungleiches nach dem Vergleichbaren zu suchen, d.h. nach Erklärungsmöglichkeiten, die unabhängig von den Zeitzusammenhängen gelten? – also zugleich der Besonderheit des nationalsozialistischen Antisemitismus wie den heutigen ethnischen Säuberungen im Jugoslawienkrieg wie dem latenten und offenen Rassismus, insbesondere in den Überfremdungstheorien in der Schweiz, den pauschalen Ausschaffungslegitimationen und anderen kaltblütigen Effizienzen gerecht werden? Gibt es eine Erklärung, die es erlaubt, anschliessend auf spezifische Weise weiterzufragen?

Es muss nach den Motiven der Handelnden gefragt werden. Keine noch so menschenverachtende Ideologie kann Erfolg haben, wenn nicht Menschen sie zum Massstab ihres Handelns machen, wenn nicht die ideologischen Vorgaben ins Verhalten einzelner Menschen als Tugenden, als Bürgertugenden integriert werden.

Theodor Adornos “Studien zum autoritären Charakter”, bald nach Kriegsende als Auswertung einer grossen Anzahl von Befragungen publiziert, weisen nach, dass bei Menschen, die offen rassistisch und antisemitisch handeln, ein Potential an Wünschen, Bedürfnissen und gefühlsmässigen Impulsen vorhanden ist, das zwar Resultat persönlicher Prägungen und eigener sozialer Erfahrungen ist, das sich jedoch bei aller individuellen Verschiedenheit auf ähnliche Weise äussert. Es äussert sich in erster Linie als Anlehnungsbedüfnis an einfache dualistische Strukturen von Gut und Böse, von Freund und Feind, auch von Befehlenden und Gehorchenden, äussert sich damit als Einordnungs- und Unterordnungsbedürfnis in und unter autoritäre Strukturen. Diese Strukturen bieten den Vorteil, für das individuelle Handeln, selbst für primitive Triebhandlungen und für mitleidlose Grausamkeit eine Art Legitimationsfolie liefern zu können, welche die  Gewissensfunktion ersetzt. Adorno belegt mit seinen Studien, dass diesem Anlehnungsbedürfnis an Autorität nicht zuletzt Kompensationsbedürfnisse für Frustrationen und für Minderwertigkeitserfahrungen zugrunde liegen, die gekoppelt sind mit – häufig unbewussten  – Rachebedürfnissen, für deren Erfüllung stellvertretend Sündenböcke herhalten müssen.

Hannah Arendt stellte 1960 im Rahmen des Prozesses gegen Adolf Eichmann fest, in welchem Mass sich diese Erkenntnisse bewahrheiteten. Sie kam zum Schluss, dass Eichmann, dieser wegen seiner tadellosen Amtsführung zu höchster Verantwortung aufgestiegene perfekte Organisator der Massentransporte in die Vernichtungslager, kein besonderer “Abenteurer oder Zyniker oder Nihilist” gewesen sei, dass sich “sein Gewissen umso leichter beruhigen konnte als er ja sah, mit welcher Befliessenheit und mit welchem Eifer die ‘gute Gesellschaft’ allenthalben genauso reagierte wie er. Er brauchte nicht, wie es im Urteil hiess, ‘sein Ohr der Stimme des Gewissens zu verschliessen’; nicht, weil er keines gehabt hätte, sondern weil die Stimme des Gewissens in ihm genauso sprach wie die Gesellschaft, die ihn umgab”[1]. Auf Grund dieser Einsicht kam Hannah Arendt dazu, von der “Banalität des Bösen” zu sprechen. Die “gute Gesellschaft” – vielleicht nicht einmal Hitler selbst – war für Adolf Eichmann und für viele der zudienenden und ausführenden Einzelnen im grossen Getriebe der so gut funktionierenden Entrechtungs- und Vernichtungsstruktur die Autorität, deren Normen genügten, um das Handeln zu rechtfertigen. Dieses bedurfte daher keiner weiteren Prüfung, und sei es nur vor dem inneren Spiegel der Vorstellungskraft, in welchem der lebendige, angstgepeinigte Blick der “Juden”, die aus Wohnungen und Kellern geprügelt, in Waggons gepfercht, auf Rampen gejagt, mit Nummern tätowiert, durch Schläge oder Gas oder Hunger oder Gewehrkugeln getötet, als Blick von Menschen erkannt und wiedererkannt worden wäre, von Menschen nicht anders als der oder als die sich Befragende selber  – was ja zwingend zum inneren Verbot des Handelns im Sinn der Gesellschaft hätte führen müssen. Denn in diesem Spiegel wäre der Schutz des gleichen Menschseins – und nicht dessen Verhöhnung und Preisgabe oder gar die Vernichtung – gefordert gewesen.

Adornos “Studien” finden eine aufrüttelnde Ergänzung in Walter Benjamins Reflexionen zum “Destruktiven Charakter”, einem kurzen Text des nach Paris geflohenen Denkers[2]. Wenn gemäss Adorno Bürgertugenden wie Zuverlässigkeit in der Amtsführung, Unauffälligkeit in der Gesetzesbefolgung, emotionslose und widerspruchslose Durchführung von Befehlen näher befragt werden müssen, insofern sie immer zugleich auch Ausdruck defizienter Mündigkeit sein können, nimmt Walter Benjamin den Ordnungs- und Sauberkeitswahn unter die Lupe. Für den „destruktiven Charakter” gilt, nach Benjamin, nur eine Parole: Platz schaffen und räumen. Dabei will der „destruktive Charakter” nicht wissen, was an Stelle des leeren Raums tritt, wo das Ding gestanden oder das Opfer gelebt hat. Der destruktive Charakter sei jung und heiter, hält Benjamin fest. Denn Zerstören verjünge, weil es die Spuren unseres eigenen Alters aus dem Weg räume. Der destruktive Charakter tue seine Arbeit, er vermeide nur schöpferische Tätigkeit. So wie der Schöpfer Einsamkeit suche, müsse der Zerstörende fortdauernd sich mit Leuten, mit Zeugen seiner Wirksamkeit umgeben. Auch stehe der destruktive Charakter in der Front der Traditionalisten. Er habe das Bewusstsein des historischen Menschen, dessen Grundaffekt ein unbezwingbares Misstrauen in den Gang der Dinge und die Bereitwilligkeit sei, mit der er jederzeit davon Notiz nehme, dass alles schief gehen könne. Daher sei der destruktive Charakter die Zuverlässigkeit selbst.

Benjamins und Adornos Feststellungen erscheinen heute auf erschreckende Weise vertraut. Finden nicht auch bei uns Menschen mit sogenannt “hoher Durchschlagskraft”, mit “kompromissloser Effizienz” im “Räumen” und im “Entfernen” von “Störfaktoren” und “Störenfrieden” breiteste Anerkennung und Zustimmung? Gehören sie nicht zum Kern der “guten Gesellschaft”, da sie ja für eine “saubere” Stadt, für eine “saubere” Schweiz, für “Ruhe und Ordnung” sorgen? – ob es um die Entfernung der Drogensüchtigen, um die Ausschaffung von Fahrenden oder von sogenannten “illegalen” Asylsuchenden gehe, ob um die Internierung verdächtiger, eventuell andersfarbiger, andersgläubiger, eventuell krimineller Ausländer und Ausländerinnen oder um die Internierung auffälliger und störender „Spinner” oder „Spinnerinnen“, ob um die Ausschaltung überflüssig gewordener Arbeiter und Arbeiterinnen, ob um die Verhinderung der Pflege von aufwendig zu betreuenden, schwer behinderten Kindern oder um die Ghettoisierung der alten Menschen? Werden nicht einseitig und daher bedenkenlos Mittel für neue Gefängnisse und Internierungsanstalten, für Repression, Ausschaffung und Ausmerzung des und der sogenannt “Störenden” bereitgestellt? – dagegen immer weniger für die Korrektur der Ursachen von Kriminalität und Migration oder für die Integration der scheinbar Störenden? Ist ferner nicht auch hier bei uns das “Kompagniegefühl” und der Gruppenapplaus eine geläufige Handlungsverstärkung, wenn es ums “Durchgreifen” und “Räumen” geht? Geschehen die bei uns bekanntgewordenen Angriffe auf Fremde und deren Unterkünfte, oder auf Einheimische, die sich für Menschenrechte einsetzen, nicht auch im Rekurs auf traditionalistische Werte?

Weder Benjamins noch Adornos Reflexionen bieten einen Schlüssel zu allen rassistischen und menschenverachtenden Gewaltakten. Sie erlauben jedoch, die aktuellen Zusammenhänge der Ausgrenzung von Menschen anders zu befragen, anders zu untersuchen und eventuell zu korrigieren. Sie können zur genauen Prüfung dessen auffordern, was scheinbar zwingend zu tun gefordert ist: zur Prüfung vor dem inneren Spiegel der Vorstellungskraft, in welchem die Konsequenzen für das Menschsein – für die Menschheit in jedem einzelnen Menschen – erkennbar werden. Dazu gehört die Einsicht, dass nur in der wechselseitig zugestandenen Unvollkommenheit eine Chance besteht, das eigene Anderssein, die eigene Besonderheit als ebenbürtig, als gleich glücksberechtigt, als gleich lebensberechtigt respektiert zu wissen.

Nicht wenige möchten vielleicht einwenden, der Sprung von der kritischen Befragung dieser Bürgertugenden zur Anklage der eventuellen Beihilfe zur Verfolgung und zur Tötung von Menschen sei unverhältnismässig. Ich fürchte, dass dies nicht so ist, dass dieser Gedankensprung im Kopf gemacht werden muss, auch wenn er “stört” (resp.verstört). Ich fürchte, dass das widespruchslose und bedenkenlose Ja-Sagen zu irgendwelchen autoritär geforderten Handlungen ebenso wie das bedenkenlose Wegräumen, das ungeduldige und kompromisslose Entfernen und zum Verschwindenbringen all dessen, was scheinbar im Wege steht, tatsächlich  eine vorbereitende oder abgeschwächte Form des Ausmerzens, des Tötens und Vernichtens sein kann. “Befehl ist Befehl”, einen “sauberen Tisch” machen, “klare, saubere  Verhältnisse schaffen”, dem “Gesetz zum Durchbruch” verhelfen, “internieren”, “ausschaffen” –  das Vokabular war sowohl während des letzten Kriegs geläufig und salonfähig, als bekannt war, dass das Zurückweisen und Ausschaffen den sicheren Tod bedeutete. Es ist es auch heute, wie die eingangs erzählte, alltägliche Geschichte es belegt. Dieses Vokabular findet sich in politischen Programmen der Vergangenheit wie unserer Gegenwart, und sogenannte “Objektivität” und Zuverlässigkeit im Vollzug, Härte, unbeirrbare Gesetzestreue werden tatsächlich auch heute als Bürgertugenden hochgehalten.

Die Ästhetik der “sauberen Verhältnisse” setzt eine mit Sicherheitsgründen legitimierte Grammatik der systematischen Kontrolle voraus, damit definiert werden kann, was und wer stört. Diese Kontrolle ist der kalte Firnis aller rechtsradikalen Politik, die vor der Eliminierung von Menschen letztlich kaum zurückschreckt: die Erschütterung über den von der Schweiz geschaffenen J-Stempel, über den vor einigen Jahren eingeführten R-Stempel (“refoulé”, ein Eintrag in die Pässe abgewiesener Asylsuchender), das Ausmass des Fichen-Skandals sitzen noch in den Knochen. Unsere Gegenwart und das, was morgen sein wird, ist zugleich voll von Vergangenheit. Dass die Spuren antimenschlichen Handelns nicht verwischt werden dürfen, dass sie erinnert werden müssen, muss als Aufgabe verstanden werden: einerseits im Sinn des Protests, andererseits als Ansatz für ein anderes Modell des Zusammenlebens. Sichtbar- und Hörbarmachen und Sichtbar- und Hörbarsein sind für den Menschen wichtigste Voraussetzungen für die Wahrnehmung und Anklage von Rechtsverletzungen wie fürs Geltendmachen von Rechten.

Erinnerung ist die subjektive Abrufbarkeit und Benennbarkeit von Erfahrungen, von Erlebnissen und Geschehnissen, von Tun und Leiden. Erinnern können sich jedoch nur Menschen, die selbst erlebt haben, was geschehen und was vergangen ist, nur die Lebenden. Die Toten können es nicht mehr. Für die Nachlebenden ist das Gedenken die Aufgabe: Gedenken mit Hilfe der Spuren und Zeugnisse, die von den Toten erhalten sind. Erinnern und Gedenken  sind Formen der Besinnung auf die Motive des Handelns, letztlich auf die Freiheit, auch andere Handlungsentscheide als die der “guten Gesellschaft” zu treffen. Ist ein Wandel möglich? Wo beginnen? Zwei Vorschläge:

  • In den Erziehungs- und Bildungsbelangen muss erste Priorität die Förderung der Vorstellungskraft und des schöpferischen Gestaltens haben, bei den Auszubildenden wie bei den Ausbildenden. Lernen und Lehren, Lehren und Lernen müssen diesbezüglich in einer ständigen und unabschliessbaren Wechselwirkung, in einem nicht hierarchisch gebremsten Austausch stehen. Dieser setzt den ungeschmälerten Respekt der Erwachsenen vor den Kindern, der Kinder vor den Erwachsenen, den Respekt zwischen den Erwachsenen und zwischen den Kindern voraus und zieht diesen nach sich. Wenn es für den gegenseitigen Respekt keine andere Begründung als die Notwendigkeit der Gegenseitigkeit gibt, folgt daraus, dass Herkunft oder Religion, Geschlecht oder Alter, Aussehen, Hautfarbe oder welche Eigenschaften auch immer kein Diskriminierungsgrund sein können. Allzu lange wurde das Hauptgewicht auf ausschliessliche Verstandesschärfung, auf Unter- und Überordnungsfähigkeiten, auf Präzision und genauen Nachvollzug, auf widerspruchslosen Gehorsam und Befehlsvollzug, auf Anerkennung von autoritärer Hierarchie auch ohne Prüfung deren menschlichen Kompetenz, auf abschliessbare Lernprozesse und damit auf nicht mehr hinterfragbare Perfektion gelegt.

Dies alles hat ja seit Generationen in immer engere, immer kontrolliertere und lebensfeindlichere Strukturen und Engpässe geführt, in denen die Kategorien des Zulässigen und Nichtzulässigen immer noch genauer und einschränkender definiert wurden und werden. Denken wir nur an die Entwicklung des nun europaweiten Systems der sogenannten “inneren Sicherheit” mit ihrem Katalog von Kennzeichnungen, Identifikationen, Zwangsmassnahmen, Ausschlüssen, Ausgrenzungen  und Entrechtungen, oder an die Entwicklung der Gentechnologie oder an jene der durchdigitalisierten Produktion, Telekommunikation etc. Ich plädiere für die Förderung des Gewährenlassens und Duldens alles Unvollkommenen, des eigenen wie des fremden, und für die Förderung der schöpferischen, der vorstellungsbedingten Möglichkeiten, die es Menschen erlauben, sich einerseits in die Bedürfnisse anderer Menschen so einzufühlen wie in die eigenen, sich andererseits in der Unvollkommenheit dieser Welt vorweg einzurichten und zuzulassen, dass auch die anderen Menschen dies tun.

(2) Angesichts der ins Uferlose anwachsenden Spezialethiken, der Berufsethiken, Standesethiken usw., die zu einer zunehmenden Verwirrung in Bezug auf das richtige Handeln führen, plädiere ich für eine Rückbesinnung auf die Massstäbe des eigenen Gewissens, respektive auf die eigene Mündigkeit, die ja nur in der  Spiegelbefragung des eigenen Menschseins vorweg entsteht und sich vorweg bewährt. Die Förderung der Vorstellungskraft, für die ich eben eintrat, ist die Grundbedingung für die Entwicklung der persönlichen Urteilsfähigkeit, die dasselbe bedeutet wie Mündigkeit. Sie setzt voraus, dass der begründete Widerspruch, das begründete Neinsagen zugelassen, geübt, ja sogar gefordert wird, auf allen Ebenen. Nur so nämlich kann das Nein zum menschenverachtenden Handeln so eindeutig werden, dass dessen letzte Konsequenz, die Tötung von Menschen, mit dem eigenen Selbstverständnis, d.h. mit dem Verständnis des eigenen Menschseins, unvereinbar wäre. In einem kurzen Text Theodor W. Adornos von 1966 [3]heisst es: “Die einzige wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie (…), die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen”. Ich gehe mit dem ungarischen Denker György Konrad einig, der festhielt, dass “eine kohärente Ethik sich nur auf einer bedingungslosen Achtung vor dem Leben und auf einer bedingungslosen Ablehnung  des Tötens aufbauen lässt”[4], eine Einsicht, die der deutsch-belgische Schriftsteller Jean Améry, ein Überlebender von Verfolgung, Folter und KZ, ähnlich formulierte. “Würde”, schrieb Jean Améry, “ist das von der Gesellschaft vergebene Recht auf Leben”[5]. Ich würde sogar sagen: Würde ist das von der Gesellschaft ausnahmslos zu garantierende Recht auf Leben: auf das in seiner Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit unverfügbare Leben. Letztlich lassen sich alle – im Judentum, Christentum und im Islam bedeutungsvollen – zehn Gebote und alle komplizierten zivilen und penalen Codices in diesem einen Gebot zusammenfassen, sofern darin auch alle vorbereitenden und verwandten Handlungen eingeschlossen sind, im Sinn der oben gemachten Überlegungen. Und falls eine – ebenso unbedingte – Ausnahme sich aufdrängen würde, etwa der Tyrannenmord, würde die Rechtfertigung eben gerade in der unbedingten Ausnahme liegen. Die Regel aber muss sein, dass kein Mensch wegen seiner persönlichen Besonderheiten und Unvollkommenheiten, geplagt, verfolgt und gejagt werden darf, dass niemand in Rechtlosigkeit und Todesnot versetzt oder in die Illegalität gezwungen werden darf. Kein einzelnes Menschsein ist keinen Augenblick des Schutzes der Gesellschaft sicher, wenn dieser Schutz von bestimmten Konditionen – etwa von einem bestimmten So- und Nichtanderssein, von einem bestimmten Pass, wovon auch immer –  abhängig gemacht wird, wenn er nicht auf unbedingte Weise universal garantiert ist.

Diese Einsicht, denke ich, müsste Konsequenzen haben – nicht zuletzt für unser Ausländer-, Asyl- und Migrationsrecht, nicht zuletzt für unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, nicht zuletzt für das je einzelne alltägliche Handeln – indem wir das Unvolkommene gewähren lassen.

 

2 Hannah Arendt. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Pieper Verlag, München 1986

[2]  Walter Benjamin. Illuminationen. Verlag Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1977

[3] Theodor W. Adorno. Erziehung nach Auschwitz, in: Erziehung zur Mündigkeit. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 1970

[4] György Konrad. Der Srandpunkt des Opfers. In: Stimmungsbericht.  Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 1988

[5] Jean Améry. Jenseits von Schuld und Sühne. Verlag Klett-Cotta. Stuttgart 1977

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