Leben in Würde – ein Menschenrecht – Armut in philosophischer und psychoanalytischer Hinsicht
Leben in Würde – ein Menschenrecht
Armut in philosophischer und psychoanalytischer Hinsicht
„… und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen“
Das Recht, Rechte zu haben
Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften / Soziale Arbeit
Verehrte Anwesende
Ich werde über die Armut aus der Perspektive der in Armut lebenden Menschen sprechen, insbesondere aus der Perspektive der in Armut lebenden Kinder und Frauen, ich werde sie selbst zu Wort kommen lassen. Die UNO hatte das Jahr 1996 zum Internationalen Jahr der Armut erklärt. Was sollte dadurch bewirkt werden? Eine Verringerung der Armut? Eventuell gar eine Überwindung der Armut? Wurde diese Zielsetzung erreicht? Sie wurde nicht erreicht, im Gegenteil. Die Armut wurde nicht geringer, sondern sie breitete sich in Folge einer vom Neoliberalismus überrollten Sozialethik weiter aus, dem sich die bürgerlichen Parteien, ja selbst die Linke immer mehr anpassen. Der Staat wurde zur Firma, die allein ihren Gewinn anstrebt und sich um das Wohl der Menschen, die im Staat leben, nicht mehr kümmert. War 1996 somit eine Utopie gewesen, ein Traum, für den es keinen Ort (u-topos) der Verwirklichung gibt? Trotzdem ist die Menschenrechtserklärung von 1948 noch immer Teil der auch in der Schweizer Verfassung verankerten normativen Leitplanken. Wie gehen wir mit der wachsenden Kluft um?
Meine These ist, dass Armut eine tatsächliche Menschenrechtsverletzung ist, wenn sie Lebenswert und Freiheit der in Armut lebenden Menschen, resp. die Optionen des Handelns, insbesondere die Möglichkeiten der Bildung sowie der politischen und kulturellen Partizipation auf diskriminierende Weise einschränkt. Menschen, die in Not leben, haben das Recht des Ausstiegs aus der Not. Sie bedürfen nicht des Mitleids, sondern einer verlässlichen, festen und offenen Basis, auf welcher sich Wege öffnen, um aus den diskriminierenden Lebensbedingungen frei werden zu können.
Dass Armut nicht naturgegeben oder gottgewollt ist, mag abgedroschen klingen. Dass Armut keine unvermeidbare gesellschaftliche Notwendigkeit ist, wirkt nach wie vor als Provokation. Armut wurde und wird von der Welt geschaffen, von jedem Land und von jeder Gesellschaft. Ökonomisch gesprochen ist sie das Resultat eines bestimmten Verteilungs- und Investitionsschlüssels des gesellschaftlichen Mehrwerts. Moralisch gesprochen ist sie die Schuld jenes Teils der Welt, der im Überfluss lebt, der diesen Überfluss vergeudet und verschwendet, ob für private oder für militärische und andere öffentliche Zwecke, die nicht das Gemeinwohl fördern; es ist die Schuld jenes Teils der Welt, der eifersüchtig und schlau sein Eigentum verteidigt und die Augen verschliesst vor jenem anderen Teil der Welt, vor jenen Menschen, “die im Dunkeln leben”, wie Bertold Brecht schrieb, welche die Chancen der Freiheit nur in der Theorie haben, tatsächlich aber weder die Möglichkeit zu lernen und sich Wissen anzueignen noch so zu arbeiten, dass sie sich und ihre Angehörigen ohne Not ernähren können, die keinen Ort haben, wo sie sich wirklich erholen können, keinen Ort, wo es schön ist, die auch keine Aussicht auf echte Erleichterung und nachhaltige Veränderung ihrer Situation oder jener ihrer Kinder haben. Sie sehen, ich werde nicht von jener Armut sprechen, die als Erfahrung eines geringeren Einkommens und einer Verknappung der Mittel über kürzere oder längere Zeit viele Menschen als befristete Erfahrung kennen. Ich werde von jener Armut sprechen, die als “grande pauvreté”, als “grosse Armut” bezeichnet wird und von den Menschen selber wie eine ungerechte, lebenslängliche Verurteilung empfunden wird.
Gleich zu Beginn will ich Ihnen sagen: Ich hoffe immer wieder von neuem, dass eine Veränderung – eine nachhaltige Veränderung – tatsächlich erfolgt, dass eine breite Bewegung entsteht, welche die Unerträglichkeit der Armut aufdeckt und sich zu deren menschenrechtskonformen Bekämpfung verpflichtet – eine Bewegung wie in den siebziger Jahren Black Power in den USA zur Bekämpfung der Rassendiskriminierung, oder wie Greenpeace zur Bekämpfung der Zerstörung der Weltressourcen. Armut bedeutet die Zerstörung der Hoffnungsressourcen eines Teils der Menschheit. Ich erhoffe daher
(1) ein verstärktes Bewusstsein bei immer mehr Menschen, ja eine wachsende Beunruhigung, dass Armut weltweit der am meisten verdrängte und zugleich der grösste und ständig sich noch vergrössernde Menschenrechtsskandal ist, eine Verletzung der körperlichen und seelischen Integrität von Milliarden von Menschen. Und ich erhoffe
(2) eine Aktivierung des gemeinsamen Kampfs der Armen sowie der Nicht-Armen und Weniger-Armen für eine Beseitigung der Ursachen und der Folgen der Armut, eines gewaltfreien, moralisch und politisch überzeugenden Kampfs. Ich werde auf praktische Aspekte dieser Hoffnung gegen Ende meine Überlegungen eingehen.
Hoffnungen, im Gegensatz zu Träumen, verbinden sich mit Zielsetzungen. Diese Zielsetzungen will ich nun begründen. Ich werde in einem ersten Teil erklären, warum ich von der Unerträglichkeit der Armut spreche, warum Armut eine Verletzung fundamentaler Menschenrechte ist. In einem zweiten Teil werde ich auf Möglichkeiten des Kampfs gegen Armut eingehen, die schon erfolgten. In einem dritten Teil werde ich versuchen darzustellen, wie ein Ausweg aus der heutigen Situation vorstellbar ist.
(1) Armut – ein Menschenrechtsskandal
Ich will mit ein paar eigenen Beobachtungen und Erfahrungen beginnen. Als ich selber noch Kind war, in den Jahren des zweiten Weltkriegs, waren Menschen in Not das tägliche Umfeld. Es waren einerseits Flüchtlinge, aus Ländern Europas, in denen kein Überleben gewährleistet war, insbesondere Kinder, die von Verwandten einer Hilfsorganisation übergeben worden waren, damit sie gerettet würden. Ausser den Kleidern, die sie auf der Flucht trugen, hatten sie nichts, vor allem hatten sie keine Kenntnis, ob Mutter und Vater oder ältere Geschwister noch lebten. Ein angsterfüllter Blick, Sprachlosigkeit, Stottern und Bettnässen waren in den ersten Wochen ihre erschütternde Sprache. Es bedurfte der fortgesetzten täglichen, nicht-ängstigenden Wärme, damit sie allmählich davon frei werden konnten.
Ähnlich wie die Flüchtlingskinder, die bei uns lebten, wirkten auf mich in den ersten vier Primarschuljahren Kinder aus der Strasse am Fuss der Felswand, in welcher nie ein Sonnenstrahl leuchtete, sowie Kinder aus dem Waisenhaus, das gleichzeitig Altersheim des Dorfes war, wo ich bis zum zehnten Altersjahr wohnte. Im Winter waren sie ohne Mantel und ohne Handschuhe, sie wurden vom Lehrer der ersten und zweiten wie von der Lehrerin der dritten und vierten Klasse zuhinterst im Schulzimmer platziert; kaum wurden sie gefragt oder gelobt, nie hörte ich sie lachen. Von einem Mädchen, das im Waisenhaus lebte, wusste ich, dass es sieben ältere Geschwister hatte, dass sie den Eltern weggenommen worden waren, weil weder Vater noch Mutter für sie sorgen konnten, dass sie im Altersheim in Waschküche und Küche arbeiten musste, dass sie immer Angst hatte, geschlagen zu werden, dass ihre Brüder bei Bauern untergebracht waren, wo sie frühmorgens arbeiten mussten, bevor sie zur Schule gingen.
Auch in der Stadt, wo ich in der fünften und sechsten Mädchenklasse die Primarschule abschloss, waren im Verhalten der Lehrerin grosse Unterschiede gegenüber den armen und den reichen Schülerinnen festzustellen; auch hier stotterten einzelne und wurden von der Lehrerin lächerlich gemacht, viele schwiegen. Sie hatten keine Chance, der Sekundarschule zugeteilt zu werden oder gar die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium zu machen.
Aus beiden Schulbereichen hatte ich vierzig oder fünfzig Jahre später einzelne Mitschülerinnen wieder treffen können. Die Erinnerungen, die mir geblieben waren, ermöglichten lange Gespräche und eine bessere Kenntnis über den Lebensmut, der für viele nötig war, um nicht aufzugeben. Einzelne hatten früh geheiratet, nachdem sie zuerst als Dienstmädchen oder als Büglerinnen gearbeitet hatten, andere nachdem sie trotz der schweren Kindheit dank der Hilfe einer Familie, bei der sie als Haushalthilfe begonnen hatten, noch eine Ausbildung als Krankenschwester oder als Verkäuferin machen konnten. Nicht bei allen war die Armut haften geblieben, auch nicht die Traurigkeit und Angst, die mir während der Schulzeit aufgefallen war.
Als ich siebzehn Jahre alt war, damals in der sechsten Klasse des Gymnasiums, meldete ich mich während der Sommerferien für einen Pro Juventute-Einsatz. Ich wurde in den Solothurner Jura in ein kleines Dorf geschickt, zu einer Familie mit neun Kindern und einem blinden, pflegebedürftigen Grossvater, deren Armut ich während fünf Wochen teilte, wobei ich versuchte, die übermüdete Hausfrau zu entlasten. Ich bewunderte sie: Sie klagte nie, sie hatte ihre Kinder und ihren Mann lieb, sie versuchte, trotz der Enge und Morschheit des Häuschens, wo sie lebten, trotz der ständigen Geldnot, trotz der Winterhilfe-Kleider, die verbraucht waren, bevor die Kinder sie trugen, trotz der kargen und stets gleichen Ernährung, trotz aller Mängel eine herzliche Stimmung zu schaffen. Immer versuchte sie, ihren Stolz zu wahren und etwas davon ihren Kindern mitzugeben.
Später, als Erwachsene, lernte ich die Armut in den Aussenbezirken und in den Schächten der Untergrundbahnen der grossen Städte kennen, in Barcelona zum Beispiel die Armut der arbeitslosen Landarbeiter, die mit ihren Familien aus Andalusien und Extremadura zugezogen waren, illegal am Rand der Stadt lebten und keine Chance hatten, irgend eine Arbeit zu finden, da sie weder lesen noch schreiben konnten. Ich war Studentin und gehörte einer kleinen Gruppe von gleichaltrigen und älteren Frauen und Männern an, die an den langen Sommerabenden auf dem offenen Feld Unterricht im Lesen und Schreiben erteilten. Oder in den nördlichen Banlieues von Paris war es insbesondere die Armut der illegalen Immigranten und Immigrantinnen aus Ländern des Maghreb und Ost-Europas, die mir begegnete; später baute eine meiner Schwestern in einem dieser Banlieues ein Haus für Kinder auf, die in gefährdeten Milieus lebten, die während einiger Wochen oder Monate der Betreuung und Pflege bedurften und deren Mütter dabei miteinbezogen wurden.
Auch in der Schweiz konnte ich der Armut nicht ausweichen, nicht in der Studienzeit noch später. Ende der achtziger Jahre begann das Schweizerische ArbeiterInnenhilfswerk SAH, Lese- und Schreibkurse für Erwachsene zu organisieren. Überall wurden diese Kurse angeboten, in den Städten und auf dem Land. In kurzer Zeit waren alle Kurse ausgebucht, die Nachfrage war unerwartet gross. Ich hatte im Sinn gesellschaftsanalytischer Arbeit beim SAH die Öffentlichkeitsarbeit für diese Lese- und Schreibkurse übernommen. So führte ich zahlreiche Gespräche mit Frauen und Männern, die sich für diese Kurse angemeldet hatten, mit funktionalen Analphabetinnen und Analphabeten, die von Kindheit an nur auf der Schattenseite der Gesellschaft gestanden hatten, Frauen und Männer meiner Generation, aus diesem Land, deren Biographien nicht anders lauteten als jene, die ich aus Fürsorgechroniken aus dem früheren Jahrhundert kannte, auch kaum anders als jene von Taglöhnerinnen und Taglöhnern aus Süditalien, aus Portugal oder aus einem anderen der vielen Armutsländer der Welt.
Was ich aus diesen Lebensgeschichten erfuhr, präzisierte meine Beobachtungen aus der Kindheit und Jugend: Da waren meist sehr beengte bis trostlose elterliche Verhältnisse gewesen, Überarbeitung von Vater oder Mutter oder Arbeitslosigkeit, Krankheit, manchmal Alkoholismus, Hilfsarbeit schon im Kindesalter von den frühen Morgenstunden bis in die Nacht hinein, Botengänge, Mitarbeit im Stall oder auf dem Hof, frühe Verantwortung für Geschwister oder fremde Kinder, eine enge Küche, in der die Schularbeiten nicht gut gemacht werden konnten, Unpünktlichkeit und Unregelmässigkeit des Schulbesuchs, Rückstände, Rügen und Schläge durch Lehrer und Lehrerinnen, Gespött der übrigen Kinder, Kleider von der Winterhilfe, die zu gross oder zu klein waren, nie neue gute Schuhe, eine ständige Erfahrung der Minderwertigkeit, Abkapselung, Scham, hilflose Wut, häufig Fremdplatzierungen, selten zum Guten des Kindes, manchmal schlimmste Ausnützung, selbst sexuelle Ausnützung. Eine Frau, zum Beispiel, lernte ich kennen, die als Verdingkind vom zwölften Altersjahr an täglich während des Kirchenbesuchs der Bäuerin durch den Bauern missbraucht wurde, und da war keine Möglichkeit der Abwehr oder Anklage, da der Bauer es eingerichtet hatte, dass sein eigener Bruder zum Vormund des Mädchens ernannt wurde, da gab es keine Möglichkeit, Freundschaften zu pflegen und einen Beruf zu erlernen, dagegen wurde sie, wie viele, weitergereicht von einer Hilfsarbeit zur anderen, wurde in neuen Haushalten platziert, wie viele, die als Mägde bei Bauern, als Hilfsarbeiterinnen in kleinen Fabrikationsbetrieben, als Hilfskräfte im Gastgewerbe, in Wäschereien für einen kleinen Lohn arbeiteten, so wie die Männer als Handlanger auf dem Bau und als Knechte in der Landwirtschaft. Dann kam es zumeist zur frühen Heirat im gleichen Milieu, zu frühen und zahlreichem Schwangerschaften, unversehens war die bedrängte Jugend in eine Ehe übergegangen, die sich kaum von jener der Eltern unterschied, und das Unglück nagte an ihnen, den eigenen Kindern, die sie nun in die Welt stellten, nicht ein besseres Leben bieten zu können, als sie es selbst erfahren hatten. Krankheiten stellten sich ein, Betreibungen und Pfändungen, immer wieder erfolglose Stellensuche, Fürsorgeabhängigkeit, Wut, Kraftlosigkeit, Demütigung um Demütigung. Kein bisschen Schönheit, keine Freude. Dann plötzlich, von irgend jemandem erfahren, bot sich diese Möglichkeit, noch lesen und schreiben zu lernen, und plötzlich keimte die Hoffnung auf, vielleicht doch noch aus dem immer gleichen Kreis heraustreten zu können, vielleicht doch noch eine Chance zu haben, eine Stelle, eine bessere Stelle finden zu können, sich wehren zu können, geachtet zu sein.
Das hat mich bei all diesen Menschen, die in Armut leben und deren Leben ich kennenlernte, am stärksten bewegt: der Mangel an Achtung, der Mangel an Anerkennung, der Mangel an Glück, vor allem aber das Leiden über diesen Mangel. Es gabe viele, die verloren ihre Würde nicht, im Gegenteil, sie schufen sich eine eigene Würde, so wie jene Familie im Solothurner Jura, die ich als Schülerin kennengelernt hatte. Andere aber erschienen mir gebrochen und ohne Hoffnung. Woher sollten sie die Kraft nehmen, ihrem Leben eine positive Wende zu geben? Ihre Auflehnung mündete häufig in Wut, wodurch sie nicht selten in Situationen gerieten, in denen sie straffällig wurden – ein Ausdruck ihrer Hilflosigkeit und eigenen Verletztheit.
Wenn ich sage, Armut sei ein Menschenrechtsskandal, so begründe ich dies mit der Nichterfüllung der Grundbedürfnisse. Menschenrechte, Grundrechte haben ihre Allgemeingültigkeit in der Tatsache der gleichen existentiellen Bedürftigkeit aller Menschen. Diese Bedürftigkeit ist dergestalt, dass sie nur durch die Aufmerksamkeit der anderen Menschen und durch ihre Bereitschaft, sie zu stillen, das heisst durch ihr Handeln, ertragen werden kann, ob es sich um den physischen Hunger handle oder um den geistigen, um das Bedürfnis nach Erhaltung und Förderung des körperlichen Leben oder um das Bedürfnis nach Erkenntnis, nach Bildung, nach Kommunikation, nach Respekt, nach Partizipation an den Entscheiden, deren Folgen viele betreffen, ein ganzes Dorf oder eine ganze Stadt, nach Partizipation an der politischen und sozialen Verantwortung, ob es sich um das Bedürfnis nach Schönheit, nach Erholung und nach sinnhafter Arbeit handle.
Niemand kann diese Bedürfnisse allein stillen, jedes Kind, jede Frau und jeder Mann ist dafür auf andere Menschen angewiesen. Auf Grund der wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen von einander, auf Grund der Tatsache, dass die Grundbedürfnisse der anderen anerkannt werden müssen, damit die eigenen beachtet und gestillt werden können, wird die Erfüllung der Grundbedürfnisse zum Menschenrecht. Von universellen Menschenrechten kann nur die Rede sein, wenn tatsächlich niemand davon ausgeschlossen ist: wenn der Gesellschaftsvertrag, den jede staatliche Verfassung darstellt, die Erfüllung der Grundbedürfnisse garantiert. Nun ist es jedoch so, als ob die universelle Menschenrechtserklärung von bloss rhetorischer Bedeutung sei, als ob der praktische Anspruch nur für Menschen gelte, die “im Lichte” stehen, die über Mittel, über Geld und Publizität verfügen, damit sie ihre Rechte geltend machen können, als ob der gleiche Anspruch bei Menschen, die in Armut leben, bei Asylsuchenden und Papierlosen ins Leere gehe. Sie verfügen weder über Publizität noch über andere Druckmittel. Es ist, als seien ihre Stimmen tonlos, obwohl sie einen grossen Chor darstellen. Sie erfahren Verachtung statt Achtung, abgewendete Blicke statt Aufmerksamkeit, höchstens Fürsorge statt Partizipation. Selbst die Fürsorgeleistungen werden unter den aktuellen neoliberalen Bedingungen auf erniedrigende Weise reduziert und von Bedingungen abhängig gemacht, die kaum erfüllt werden können.
Die aufwühlendste Tatsache ist, dass, wer in Armut lebt, kaum Freiheit wahrnehmen kann. Wer sich in ständiger Geldnot befindet, lebt allein nach dem Gesetz zwingender Notwendigkeiten, zwingender “Notdurft”, wie Hannah Arendt die blosse Subsistenzerhaltung nennt. Ein Leben ohne Freiheit ist ein Leben der Unterdrückung.
Was aber sind die Folgen eines Lebens in Unterdrückung, in Unfreiheit und in ständigem Gefühl des Minderwertes? Es sind zahlreiche körperliche Leiden, Bitterkeit und tiefe Depression, ein allmähliches Absterben der Lebenskräfte, oder es ist Auflehnung und Wut, die oft in Gewalt übergeht, wie sie von den Stärkeren den Schwächeren gegenüber in den Familien, in den vier Wänden, entladen wird, wie sie von Jugendlichen, die keine Diskriminierungen mehr ertragen wollen, immer wieder in grossen Städten öffentlich aufflammt, wie sie jedoch immer durch die viel mächtigere Gegengewalt des Staates, durch Polizeigewalt, durch Waffengewalt erstickt wird, ohne dass deren Ursachen verändert würden. Um die Veränderung der Ursachen von Armut und Gewalt muss es gehen. Die Folgen der Armut werden sich dann von selbst verändern, wie ich es auch erleben konnte.
(2) Aufstand gegen Armut und gegen Entrechtung
Seit Jahrhunderten setzten sich einzelne Menschen und ganze Bewegungen gegen Armut und Entrechtung zur Wehr. Schon im Mittelalter hatten sich mittellose, ausgebeutete Bauern gegen die Landbesitzer aufgelehnt oder hatten versucht, Gütergemeinschaften zu bilden; die Handwerker hatten sich untereinander verbündet, um sich gegenseitig zu unterstützen; Denker und Träumer hatten Entwürfe eines gerechten menschlichen Zusammenlebens verfasst, wie z.B. 1516 Thomas Morus mit seiner „Utopia“, einer Art frühkommunistischen Entwurfs (communis – gemeinsam), der sich der ungerechten Feudalherrschaft entgegenstellte. Mit Beginn und Aufstieg der Industrialisierung und der Ausnutzung mittelloser Menschen – selbst der Kinder – als Arbeiter und Arbeitrinnen setzten sich neue Widerstandsbewegungen um, in fast alles Ländern Europas, von England über Frankreich, Deutschland, Polen, Russland, Italien bis in die Schweiz und in weitere Länder. Schon zur Zeit der Französischen Revolution wie später gab es mutige Frauen – z.B. Olympe de Gouges, Mary Wollstonecraft, Flora Tristan, später Bertha Pappenheim, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Regina Kägi-Fuchsmann und viele andere mehr -, die sich insbesondere gegen die entwürdigenden Lebensbedingungen von Frauen und Kindern einsetzten, die für deren Recht auf Bildung und Selbstbestimmung, für die gleichen Rechte auch ausserehelicher Kinder, für gleiche Löhne und politische Rechte für Frauen wie für Männer, für den Frieden und gegen Gewalt und Krieg kämpften. Die frühsozialistischen Bewegungen, ob sie als „Geheimbünde“ (z.B. François Noël Baboeuf’s Gesellschaft der Gleichen“, Charles Fourier, Louis-August Blanqui, Henri de Saint-Simon „Bund der Geächteten“, Wilhelm Weitling’s „Bund der Gerechten“) oder mit Karl Marx und Friedrich Engels, mit Moses Hess bis Ernst Bloch, Antonio Gramsci, Fritz Brupacher und vielen anderen mehr als grossen politischen Anstoss verstanden wurden, alle hatten das Ziel, ein menschliches Zusammenleben mit mehr Gerechtigkeit und weniger Missbrauch zu realisieren. Doch was in Ideologien und Diktaturen ausartete, liess die Grundsätze grösserr Gerechtigkeit zerfetzt zurück.
Nach dem Ersten Weltkrieg hatte die grosse Armut im zerstörten Europa die arbeitslosen, hungernden Menschen verführbar gemacht; die nationalsozialistischen und bolschewistischen Ideologien mit ihren rassistischen Feinderklärungen und ihren Heilsversprechen wurden geglaubt, der technische Fortschritt in der Waffenindustrie boomte, die Menschen marschierten mit. Der Zweite Weltkrieg brach los und zerstörte mit der grenzenlosen Tötungsmaschinerie Millionen und Millionen von Menschen, wer immer als wertlos erklärt wurde. Als der Krieg zu Ende ging, als in den Gaskammern und auf der zerbombten Erde nichts mehr zu zerstören übrig blieb, wurden Asche und Staub so schnell wie möglich beiseite geräumt und eine neue Anpassung an die Forderungen der neuen Weltmacht – der Siegerweltmacht – folgte mit ähnlichem, kritiklosen Gehorsam, der sich fortsetzte bis heute. Globalisierung, Neoliberalismus, Terrorbekämpfung, Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung der Nutzlosen: die Kriege setzen sich fort, am schwersten gegen die Machtlosen. „Die Würde des Menschen ist wieder antastbar geworden“.
Es war Ulrike Meinhof, die dies 1962 für die Zeitschrift „konkret“ geschrieben hatte, damals 28 Jahre alt, eine mutige Journalistin, die mit ihrem kritischen Blick die flagranten Übertretungen des 1948 geschaffenen deutschen Grundgesetzes sowie der UNO-Menschenrechtserklärung aufs genaueste anprangerte. Dazu gehörte auch die gesellschaftliche Diskriminierung lernbehinderter Kinder aus armen Verhältnissen, die mit der Bezeichnung „doof, weil arm“ Sonderschulen zugeteilt wurden und sich fürs ganze spätere Leben gestempelt fühlten. Es ist eine der sorgfältigsten Untersuchungen über die psychischen Belastungen, denen Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind, die den gesellschaftlichen Scheinwerten nicht genügen können. Diese Untersuchungen erschienen 1969 in „konkret“, nachdem Ulrike Meinhof auch einen Dokumentarfilm über die Ängste und das Leiden der jungen Menschen gedreht hatte, die am Rand der Gesellschaft aufwuchsen. Sieben Jahre später, am 8. Mai 1976, wurde sie in ihrer Zelle im Hochsicherheitsgefängnis von Stuttgart-Stammheim tot aufgefunden, eine Philosophin, Pädagogin und Journalistin, eine Friedenskämpferin und Atomwaffengegnerin, die zur RAF-Terroristin wurde, für die Mächtigen eine Staatsfeindin, die es zu jagen und einzusperren galt, für viele Sprachlose und Machtlose eine Kämpferin für Demokratie und Menschenwürde, für viele ihrer linken Zeitgenossen und Zeitgenossinnen das tragische Opfer einer fundamentalistisch verhärteten und damit inhuman gewordenen eigenen Theorie des richtigen Handelns, einer Theorie, die sich nicht mehr über Sprache, sondern über Gewalt durchzusetzen versuchte und damit selbst zum Instrument von Unrecht wurde.
Ulrike Meinhof hatte öffentlich festgehalten, dass, wenn Menschen aus “Staatssicherheitsgründen”, ob aus Gründen der sogenannten “äusseren” oder der sogenannten “inneren Sicherheit” zu Feinden erklärt, verhaftet und gar zusammengeschossen werden dürfen, wenn der Staat jede Art von Gewalt gegen Menschen für legitim erklärt, die sich nach demokratischen Spielregeln organisieren, um nicht den Besitzstand einiger weniger, sondern das gerechte und friedliche Zusammenleben der vielen zu verteidigen, dass es dann keine institutionelle Garantie mehr gegen Menschenverachtung gibt. Letztlich benutzte der Staat die Hetze gegen die extremistische RAF, um die eigentliche Demokratiebewegung über Parteienverbote, Verbands- und Berufsverbote auszuschalten.
Die Würde der Menschen war wieder antastbar geworden. Und das Perfide war, dass all dies unter dem Anschein der Rechtmässigkeit daherkam, unter dem Anschein der biederen patriotischen Normalität.
Als Hannah Arendt im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozess von 1960 von der “Banalität des Bösen” sprach, mit der sie das perfekte Funktionieren der grossen Todesmaschinerie Hitlers, mit der ein ganzes Volk ausgerottet werden sollte, durch die Beihilfe ungezählter Einzelner erklärte, durch den häufig unspektakulären Teil, den diese unter dem Titel von Pflichterfüllung und Beamtengehorsam dazu beitrugen, so meinte sie dies: die Angewöhnung an Scheinerklärungen und Lügen, an machtgestützte Deklarationen, was “normal” und was “nicht normal” sei, mit denen Machtmissbrauch erklärt, Gehorsam gefordert und Gewissensbisse ausgeschaltet werden, unmerklich, Schritt für Schritt – die Angewöhnung an die Antastbarkeit der Würde, dann an die widerstandslose Unterwerfung unter das Unrecht.
(3) Was bedeutet “die Würde” der Menschen heute?
Wie steht es tatsächlich heute? Sind wir weiter gekommen? Ist die Statusdifferenz zwischen Armen und Reichen, zwischen Fremden und Einheimischen, zwischen Frauen, Kindern und Männern in Zusammenhang der menschlichen Rechte tatsächlich aufgehoben? Werden Kinder nicht mehr von Erwachsenen benutzt, um an ihnen die Wut ob der selber erlebten Herabsetzung auszutragen? Erleben Frauen keine sexistischen Herabsetzungen mehr? Werden Fremde, die in die Schweiz gelangen, um hier Schutz zu erfahren, nicht länger als Betrüger und als Profiteure feindselig abgewiesen? Erleben Familien und einzelne junge oder ältere Menschen, die der sozialen Unterstützung bedürfen, da die eigenen Mittel für den Lebensunterhalt, für Ausbildung und Weiterbildung nicht ausreichen, keine Erniedrigung mehr? Erleben sie in jeder Hinsicht den gleichen Respekt als Mensch wie diejenigen, die eine Funktion in diesem Land ausüben, die ihnen auf irgend eine Weise Macht verleiht? Haben diejenigen, die keine analoge Funktion haben, die gleichen Möglichkeiten menschenwürdig zu leben, sich zu erholen, von Krankheiten gut zu genesen und Zukunftspläne für die Kinder zu entwerfen, die diese realisieren können? Das Wort „Würde“ klingt formelhaft und abgenutzt. Es ist zur Hülse geraten.
Rechte beruhen auf der Tatsache, dass Menschen in Beziehungen leben, ja, dass es ohne die Tatsache der Beziehung zwischen Menschen keine Menschen gäbe. Wie aber spielen sich die Beziehungsverhältnisse im Zusammenhang der menschenrechtlichen Sicherheit aus? Hannah Arendt hielt in „Vita activa“ fest, dass durch die Gegenseitigkeit der menschlichen Anerkennung den Menschen das Recht zukommt, Rechte zu haben. Tatsache ist auch, dass unter Verletzung, Missachtung und gewaltsamer Zerstörung der menschlichen Würde in Beziehungen immer die Schwachen zu leiden haben, diejenigen, die sich hilflos fühlen, dass insbesondere Frauen und Kinder zu leiden haben, oft mit schwerwiegenden Folgen. Nach wie vor haben die Religionen und politische Ideologien, hat die Sprache und das Mass innerer Sicherheit einen mächtigen Einfluss auf das Beziehungsgeflecht und auf die Lebensqualität.
Letztlich haben nur kleine Widerstandsbewegungen grosse Glaubwürdigkeit, wenn sie ideologiefrei sind und von der Basis her arbeiten. Dazu gehört gewiss ATD Vierte Welt resp. “Aide à toute détresse – Quatrième monde”, 1956 von Josèphe Wrsinski als Vereinigung der Obdachlosen in Noisy-le-Grand, einer der Banlieues von Paris, gegründet und seither zu einem weltweiten Netzwerk angewachsen, das sich zum Ziel setzt, die Menschen aus ihrem Status der Absonderung und der Entrechtung zu lösen. Ich stiess darauf erstmals 1985, als ein “Schweizer ohne Namen. Die Heimatlosen von heute” (Verlag Science et Service, Pierrelaye, France)“, ein Buch von Hélène Beyeler-von Burg erschien., ein aufwühlendes Buch, das aus der Arbeit von ATD Vierte Welt heraus entstanden war.
Mit dem Namen ATD Vierte Welt verbindet sich ein ganzes Programm: das hierarchische System der Welten soll deutlich gemacht werden, es soll deutlich gemacht werden, dass zusätzlich zur Ersten, Zweiten und Dritten Welt die Vierte Welt besteht, die als unterste Welt betrachtet wird, die jedoch Teil aller anderen Kontinente und Welten ist. Mit der Unterstützung von Freiwilligen aus anderen gesellschaftlichen Schichten wird von Menschen, die selber in Armut leben, angestrebt, die Lebensverhältnisse zu verändern und zugleich eine öffentlich hörbare Stimme zu haben. So wurde am 17. Oktober 1987 auf dem Trocadéro in Paris, auf diesem zentralen Platz, eine Mahntafel enthüllt, die den Armutsopfern gewidmet ist und auf der die Überwindung der Armut als Menschenrechtsverletzung gefordert wird. Seit damals gilt der 17. Oktober als Mahntag der Überwindung von Armut. Ende der achtziger Jahre versammelten sich dann Delegationen von ATD Vierte Welt aus allen Ländern in Strasbourg beim Europarat, berieten, wie sie ihren Anspruch auf Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse und ihrer Rechte formulieren und beim Europarat vorbringen wollten. Es war ATD Vierte Welt sogar gelungen, beim Sitz der UNO in Genf und New York einen Beobachterstatus zu erlangen, bei verschiedenen UNO-Organisationen, so bei UNICEF oder bei UNHCR Einfluss zu nehmen und zu erreichen, dass das Jahr 1996 zum Jahr der Armut erklärt wurde: zum Jahr der Verringerung, ja der Überwindung der Armut. In der Schweiz hat ATD Vierte Welt ein Zentrum in Treyvaux im Kanton Fribourg. Vieles, was sonst utopisch erscheint, realisiert sich dort: Familienferien für Menschen, die in grosser Armut leben, die Ausbildung von Freiwilligen, Weiterbildung im Rahmen einer “4.Welt-Universität” und mehr.
Eine andere Bewegung, die auf religiös-ökumenischer Basis 1989 gegründet wurde, ist “Kairos Europa” resp. “Kairos Europa-Schweiz”. “Kairos” bedeutet “Zeitpunkt” oder “der richtige Moment. Die schweizerische Kairos-Europa Gruppe, zu welcher u.a. das Friedensdorf Flüeli-Ranft, das Ökumenische Friedensnetz Basel, das Romero-Haus in Luzern und viele weitere mehr gehören, ist Teil eines lockeren Netzes von Hunderten von Gruppen, das seit September 1993 in Bruxelles ein Europäisches Sekretariat hat.
1992 war ein bedeutendes Jahr gewesen, einerseits weil es das 500. Erinnerungsjahr an die “Entdeckung” resp. die Kolonisierung der sog. Neuen Welt war, die in Folge dieser Geschichte zur Dritten Welt wurde. Andererseits nahm 1992 in Westeuropa der EU-Binnenmarkt seinen Anfang. “Kairos Europa” machte es sich zur Aufgabe, den Blickpunkt der Benachteiligten dieser Markt- und Machtkonzentration, gemeinsam mit diesen selbst zu übernehmen und zu formulieren. Seither wird z.B. die Sozial-Charta der Europäischen Union mit den Augen und Interessen der Arbeitslosen und sozial Ausgegrenzten, mit den Augen der auf diesem Markt diskriminierten Frauen untersucht, das Schengener Abkommen mit den Augen von Asylsuchenden und Flüchtlingen, die Abkommen zur Europäischen Agrarpolitik mit den Augen der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern usw. An Pfingsten 1992 war daher in Strasbourg ein “Parlament von unten” gebildet worden, an dem rund 800 Frauen und Männer aus 52 Ländern teilnahmen, Langzeitarbeitslose, Obdachlose, Migrantinnen und Migranten, Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeiter, Asylsuchende, Kleinbauern und -bäuerinnen und weitere in grosser Armut lebende Menschen. Sie bildeten fünf Arbeitsgruppen, die je ein nicht erfülltes Grundbedürfnis ausleuchteten: Nahrung, Wohnung, Arbeit, freie Wahl des Wohnortes und kulturelle Identität. Die Arbeit dieser Arbeitsgruppen war, wie die Theologin und Journalistin Christine Voss, die am Treffen teilgenommen hatte, einmal festhielt, die “Aufarbeitung von Leidensgeschichten”. Unmittelbar nachher, ebenfalls im Juni 1992, trafen sich in Luzern wiederum die rund 300 Mitglieder von Kairos-Europa Schweiz, um eine Standortbestimmung vorzunehmen und Aktionen gegen die soziale Ausgrenzung zu erörtern. Diese sollten vor allem an der Basis organisiert werden, in den religiösen Gemeinden und Pfarreien. Wichtige Bewusstseinsarbeit sollte damit verbunden werden, etwa hinsichtlich der Vorurteile und des Verhaltens der einkommensstarken Bevölkerung gegenüber Menschen, die in Armut leben, hinsichtlich der Zusammenhänge von Ausgrenzung u.a.m.
Die beiden Bewegungen haben zwar religiöse Gründungsimpulse gehabt, sind jedoch in ihrer Ausrichtung sekuläre Bewegungen. Es ist den Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften nicht abzusprechen, dass sie sich heute für eine Veränderung der Gründe und Folgen der Armut einsetzen, im Gegenteil. Es gibt an vielen Orten diesbezüglich ein erfreuliches, längst nötiges Umdenken, hatten doch gerade die Kirchen während allzu langer Zeit den Armen die falschen Tugenden gepredigt, etwa Demut in der Annahme von “Gottes Willen”. Doch Ungerechtgkeit, Demütigung, wirtschaftliche und kulturelle Not können nicht “Gottes Wille” sein. Auch dienten die “mitleidvollen Gaben”, wie sie zum Habitus der Kirchen und der Gläubigen gehörten, ja kaum dazu, die Armut zu verändern, sondern eher, Menschen in ihrem “Stand” zu fixieren, resp. die ständische Hierarchie, zu der eben auch die Armut gehörte, aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig dienten sie der Gewissensberuhigung der mitleidvoll Gebenden. Aber Menschen, die in Armut leben, wollen kein Mitleid, sondern ein Ende der Ausgrenzung. Ich sage es nochmals: Sie wollen Gerechtigkeit und volle gesellschaftliche und politische Partizipation.
Dass die Bekämpfung der Armut Sache der Religionen ist, genügt nicht. Es genügt schon lange nicht, es genügt heute erst recht nicht mehr, wo Erfindergeist und Technologie es ermöglichen, die meisten Probleme zu lösen. Die Verringerung und Überwindung der Armut muss ein vorrangiges politisches Ziel sein, nicht nur einer linken Politik, sondern der Politik überhaupt. Eine Gesellschaft ist nur so stark wie ihre schwächsten Glieder es sind. Die Erfahrung und politischen Folgen der grossen allgemeinen Armut und Verelendung in den drreissiger Jahren infolge der enormen Inflation und Arbeitslosigkeit müsste genügen, damit nicht länger gezögert wird.
Es braucht
(a) dringend neue Arbeitszeitmodelle, damit Arbeit nicht zum seltenen Privileg von wenigen wird, damit nicht länger eine zunehmende Zahl von Menschen ihre Existenz als wertlos erleben,
(b) neue Partizipationsmodelle dank einer Verstärkung und von der öffentlichen hand übernommenen Erweiterung der Bildungs- und Weiterbildungsangebote,
(c) neue Verteilungsmodelle des kollektiven Mehrwerts und
(d) eine Verfassungsgarantie für die Erfüllung der Grundbedürfnisse aller Menschen, unabhängig von Herkunft, Einkommen, Geschlecht und Alter.
Es gibt genug Fachleute, die in der Lage sind, praktische Umsetzungsmöglichkeiten dieser Modelle zu erarbeiten. Was jedoch vorgängig zustande kommen muss, ist die Einsicht in die politische Dringlichkeit dieser Aufgabe. Das bedeutet, dass diejenigen, die nicht in Armut leben, bereit sein müssen, den Gürtel ein wenig enger zu schnallen, damit diejenigen, die in Armut leben, weniger eingeengt leben müssen. Diese politische Forderung kann jedoch nur verwirklicht werden, wenn das Menschenbild enthierarchisiert wird, d.h. wenn die Verschiedenheit der Menschen nicht länger als Wertverschiedenheit gilt, sondern als Varietät des gleichen Menschseins, der gleichen “Menschheit” in jedem einzelnen Menschen.
Meine Vorstellung ist, dass in allen Kantonen und auf Bundesebene zu diesem Zweck aus allen Schichten der Bevölkerung, mithin unter Einbezug von Vertreterinnen und Vertretern der aktiven Anti-Armutsbewegungen und Anti-Rassismusbewegungen, innovative “brain pools” geschaffen werden, welche die verschiedenen kurz- und längerfristigen Massnahmen zur Armutsbekämpfung untersuchen und ausformulieren, nicht zuletzt die Errichtung einer konjunkturunabhängigen Existenzsicherung – nicht eines Existenzminimums – , d.h. eines gesicherten Grundeinkommens für alle Menschen, die in unserem Land leben, d.h. auch der asylsuchenden, der arbeitslosen und kranken Menschen. Zusätzlich müssen, parallel zur Globalisierung des Marktes, Massnahmen zur Globalisierung von Kriterien der Lebensqualität und der Erfüllung der Grundbedürfnisse durchgesetzt werden, auf nationaler wie auf transnationaler Ebene, damit auch die Phänomene der Migration – zumeist Folgen von unerträglicher Armut – berücksichtigt werden. Sie müssen aufs dringlichste untersucht werden, damit jede Art von Menschenhandel, von Frauenhandel und Kinderhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung und sexuellen Missbrauchs, nicht fortgesetzt werden darf. Das Leiden, das damit einhergeht, ist unerträglich. Die Umsetzung dieser Massnahmen darf keinen Aufschub ertragen, soll das 21. Jahrhundert nicht infolge der Missachtung zentraler Menschenrechte zu einem Zeitalter der globalen Zerstörung menschlicher Würde werden..