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Museum für Kommunikation Bern  1. März 2016

Altwerden im Gegenlicht

Was bedeuten Lebenswert und Eigenentscheid für Menschen in Alters- und Pflegeheimen?

Ein Untersuchungsbeitrag zu ethischen und psychotherapeutischen Fragen betreffend Alterssuizid unter Beihilfe von „Exit“

Als Ende Mai 2014 im Alters- und Pflegezentrum unter den Bewohnern und Bewohnerinnen durchsickerte, dass ein noch rüstiger Mitbewohner unter Beizug von „Exit“ von einem Tag auf den anderen nicht mehr unter ihnen war, äusserten sich Ratlosigkeit, Erschrecken und ein deutliches Aufbegehren, das in Einzelgesprächen sowie in mehreren Gruppengesprächen zum Ausdruck kam. Um Einzelgespräche hatten mich in diesem Zusammenhang zum Beispiel ein ungefähr gleichaltriger Bewohner gebeten, der unter fortgeschrittenen Parkinson- Belastungen leidet, diese jedoch tapfer akzeptiert und nicht resigniert, ferner eine um beinah dreissig Jahre ältere, noch sehr denkfähige und urteilsbewusste, körperlich aber vielfach geschwächte Bewohnerin, die in der darauf folgenden Woche das Thema auch der Gruppe von acht Frauen und einem Mann vorlegte, die sich wie üblich zum „Salongespräch“ zusammenfanden. Weitere Gespräche zum gleichen Thema wurden von der Gruppe mehrmals aufgegriffen, das letzte Mal am 10. Juni im Anschluss an eine TV-Sendung, nachdem im Rahmen der Generalversammlung von „Exit“ am 24. Mai 2014  die Legitimation der Beihilfe zu Alterssuizid beschlossen worden war.

Eine ähnliche Reaktion des Erschreckens und der Ratlosigkeit erlebte ich etwa gleichzeitig bei einer halbseitig gelähmten und sprachbehinderten Frau in einem anderen Alters- und Pflegeheim, als auch dort der von „Exit“ begleitete Tod einer Mitbewohnerin bekannt wurde, die offenbar nicht zu den schwer Geschwächten und Kranken gehört hatte.

Ich werde zuerst die Fragen und Überlegungen wiedergeben, die von Menschen, die in einem der  Alters- und Pflegezentren leben, zum Thema des von „Exit“ unterstützten Todes geäussert wurden,  anschliessend werde ich auf grundsätzliche Aspekte eingehen, die in den Gesprächen tangiert wurden.

  1. Wie viel Recht bleibt mir zu leben?

Die Fragen und Überlegungen von Bewohnerinnen und Bewohnern aus einem der Alters- und Pflegezentren, die sich in den Gruppengesprächen und in Einzelgesprächen ergaben, habe ich gebündelt und zusammengefasst. Sie widerspiegeln drei unterschiedliche emotionale und ethische Bereiche: einerseits die Ängste, die infolge des in den Medien breit vertretenen, neoliberalen Abbaus sozialethischer Verantwortung für hilfe- und pflegebedürftige Menschen in diesen geweckt werden und sie belasten, andererseits das klare Bedürfnis, im Fall nicht mehr tragbarer Schmerzzustände selber über Sterben und Tod bestimmen zu können, zusätzlich die Forderung, zwischen dem je persönlichen Entscheidungsrecht und der Verantwortung gegenüber den Mitbewohnern und Mitbewohnerinnen zu unterscheiden und letztere ebenso zu achten wie erstere.

Hier die Zusammenfassung der unterschiedlichen Gesprächselemente, zum Teil als klare Meinungsäusserungen, zum Teil als Fragen:

– Wie viel Recht bleibt mir zu leben, wenn ich nichts mehr leisten kann und Tag für Tag Summen von Geld koste? Ist es die finanzielle Schraube der Gesellschaft, die hinter dem Angebot von „Exit“ steht, den Alterssuizid zu begleiten?

– Kann man so überhaupt noch frei entscheiden? Es heisst doch bei den „Exit“-Bedingungen, man dürfe beim Entscheid zum eigenen Tod nicht beeinflusst werden, doch ist dies überhaupt möglich? Die ganze Presse ist voll von Klage, dass die Leute zu alt werden und die Versicherungen – oder die Familien – belasten. Ich frage mich, ob man so noch unbeeinflusst entscheiden kann.

– Warum lässt die Kirche dies zu? Haben wir nicht die Pflicht, auch leidvolle Momente  des Lebens, überhaupt das Leben zu ertragen? Die vielen Pflichten! Ist es nun auch unsere Pflicht, rechtzeitig zu sterben?

– Ist tatsächlich unser Leben nicht mehr schützenswert, weil wir alt sind und nichts mehr leisten können?

– Bedeutet das Eindringen von „Exit“ ins Pflegezentrum, dass auch von mir – von uns – erwartet wird, quasi „freiwillig“ zu gehen und Platz zu machen, weil wir überflüssig sind?

– Hat sich der ehemalige Mitbewohner hier im Haus nicht überlegt, dass uns sein Entscheid verunsichert, mehr noch, in unseren Gefühlen verletzt? Sind wir nicht alle auf dem gleichen Boot?

– Ja, das ist es, darf ein Pflegezentrum, in dem wir ohnehin sterben werden, ein Haus sein, in dem zwar nicht auf „höheren“ Befehl „getötet“ wird,  wo aber der Selbstmord medizinisch unterstützt wird, einfach aus Altersgründen?

– Ab wann überhaupt ist ein Menschen in der Gesellschaft „überflüssig“? Als ich noch jünger war, da gab es Zeiten, in denen ich fast nicht mehr leben mochte und immer wieder einige Zeit in einer Klinik verbringen musste. Aber mir scheint, dass es damals nicht die Gesellschaft war, die mich unter Druck setzte, es hatte andere Gründe, ich war selber entmutigt und einsam, ohne Zweifel depressiv. Erst mit dem Älter- und Altwerden geht es mir besser, insbesondere seit ich hier im Zentrum lebe.

– Bei mir ist es anders, ich hasse die Zahl 90, ich hasse es, alt zu sein, ich bin neidisch auf diejenigen, die jünger sind. Ich möchte noch Glück erleben können.

– Das Recht auf Freiheit stelle ich nicht in Frage, es ist wichtig, selber über das Sterben entscheiden zu können, wenn das körperliche Leiden nicht mehr ertragbar ist, zum Beispiel bei schweren Krebserkrankungen. Aber ist hier der angemessene Ort fürs Verabreichen von Sterbegift? Der natürliche Tod wartet immer um die Ecke. Braucht es da noch den befohlenen Tod?

– Kann man überhaupt wissen, ob Sterben und Tod nach Einnahme von Pentobarbital leicht geschieht? Es ist trotz allem ein künstlicher Tod, der zugefügt wird, nicht ein natürlicher. Mich schaudert‘s beim Gedanken daran.

– Tatsächlich, wie frei sind wir überhaupt? Wie kann man wissen, ob ein solcher Entscheid nicht auf Grund einer momentanen Depression getroffen wird, die nach einiger Zeit wieder vorbei sein kann? Auch ich war früher manchmal schwer depressiv und hatte ans Sterben gedacht, doch heute bin ich froh, noch zu leben, obwohl ich unter zahlreichen körperlichen Beschwerden leide. Irgendwann wird der Tod selber zu mir kommen.

– Mir scheint jetzt oft, mein Leben habe keinen Sinn mehr, ich könne nichts mehr leisten, doch soll ich deswegen das Gift trinken? Eigentlich lebe ich trotzdem immer wieder gern.

– Was meinst du, dein Leben habe keinen Sinn mehr? Ich bin froh, dass du auch hier bist und dass wir uns noch sehen können. Wir sind wirklich auf dem gleichen Boot, wie eben gesagt wurde.

– Wer religiös ist, hat es ein wenig leichter. Die Religion hilft mir, auf den Tod warten zu können und die Zeit vorher zu akzeptieren, auch wenn vieles schwieriger geworden ist. Dank der Religion macht letztlich alles noch Sinn.

– Mir liegt viel an der Freiheit, ich meine an der Möglichkeit, selber über Leben und Tod entscheiden zu können.

– Die Freiheit wird aber eingeschränkt. Andere bestimmen mit, insbesondere die Familienmitglieder. Ich kenne ein Beispiel, das mich beschäftigt. Eine Verwandte von mir, die in einem Alters- und Pflegeheim lebte, wollte nicht mehr leben und wollte mit ilfe von Exit sterbenHilfe von „Exit“ sterben. Sie hatte alles unterschrieben. Die Bedingung der dortigen Heimleitung war, dass sie in der Wohnung ihres Sohnes das Barbiturat zu sich nehme. Dieser aber wollte auf keinen Fall zum Tod seiner Mutter Hand bieten und lehnte „Exit“ ab. So lebte sie noch über zwei Jahre im Altersheim, nun eher leichter als vorher, bis sie eines natürlichen Todes starb.

– Mir scheint, die palliative medizinische Methode sei vorzuziehen. Ich habe diese Lösung mit meinem Hausarzt vereinbart. Auch meine Söhne sind damit einverstanden. Das heisst, obwohl ich eigentlich mit meinem Leben abschliessen kann, trage ich mir weiter Sorge und tue nichts, was mein Leben verkürzt, aber ich lehne alle Massnahmen ab, die das Leben verlängern würden. Das gilt auch für den Fall, dass ich in einem Zustand wäre, in welchem ich nicht mehr selber entscheiden könnte. Gewiss, es werden auch hier Fehler gemacht, trotzdem, es ist eine feste Abmachung, mit der ich mich wohl fühle. Das heisst, die vielen Beschwerden kann ich besser akzeptieren, sie gehören zum Alltag. Operationen, die nicht dringlich sind, lasse ich bleiben, aber wenn ich mir wegen eines Sturzes einen Knochen breche, lasse ich ihn flicken. Sorgfältige Pflege, liebe Besuche, gute Gespräche, Momente der tiefen Ruhe in mir, den Blick in die Natur oder in glückliche Momente der Vergangenheit, all dies kann ich geniessen. So hat das Leben noch Sinn. Ob ich meine Pflichten erfülle oder nicht, das überlasse ich Gott.

  1. Was bedeutet unter den Bedingungen des späten Zusammenlebens im Alters- und Pflegezentrum die von „Exit“ angebotene Begleitung von Suizid?

Die offene Auseinandersetzung und Meinungsäusserung  dieser Gruppe von Bewohnern und Bewohnerinnen eines der Alters- und Pflegezentren ermöglicht, zu wichtigen Aspekten um Leben und Tod im hohen Alter Stellung zu nehmen, aus Zeitgründen so knapp wie möglich.

II 1. Für den begleiteten Suizid setzt „Exit“ fünf Bedingungen:

– Urteils- und Entscheidungsfähigkeit,

– frei sein von Affekten,

– frei sein vom Einfluss Dritter,

– dauerhafter Sterbewunsch und

– die Bereitschaft, die nicht mehr korrigierbare Handlung selber vorzunehmen, das

heisst, sich selber die tödliche Menge Pentobarbital zuzuführen, die von  „Exit“ zur Verfügung gestellt wird.

Ob die Bedingungen erfüllt werden oder nicht, wird von Ärzten oder Ärztinnen abgeklärt. Von Seiten von „Exit“ wird betont, das Abklärungsverfahren brauche grösste Sorgfalt. Das Rezept für das Sterbemittel könne im Sinn medizinischer Verantwortung nur ausgestellt werden, wenn bezüglich der Erfüllung dieser Bedingungen bei einem Patienten oder einer Patientin keinerlei Ambivalenz bestehe.

II 2. Die drei ersten  Bedingungen beruhen auf der Voraussetzung innerer Freiheit.
Gedankenfreiheit sowie Freiheit im Sinn eigener Wahlmöglichkeit im Entscheiden und Handeln ist ein menschliches Grundrecht, das einem Grundbedürfnis entspricht.

Die Grundrechte finden sich verankert in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK von 1950 /53, von der Schweiz ratifiziert 1974) verankert wurden und die sich zum Teil auch in der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV von 1999) bestätigt finden. Sie betreffen die menschliche Würde jedes Individuums und das Recht auf Schutz dieser Würde (BV Art. 7), das Recht auf Leben und persönliche Freiheit  (BV Art. 10), das Recht auf Gedankenfreiheit (EMRK Art. 9) sowie das Recht auf Schutz der Privatsphäre (BV Art. 13).

Diese Grundrechte, auch das Recht auf freies Entscheiden und Handeln bezüglich des eigenen Lebens und Sterbens, gilt für die meisten der in der „Hochweid“ lebenden Frauen und Männer, die sich dazu geäussert haben, als hoher Wert, der dem Recht auf menschliche Würde gerecht wird, somit als ein zentrales Grundrecht, vor allem wenn es infolge schwerer, unheilbarer Schmerzbelastungen nicht mehr ertragbar erscheint, weiter zu leben. Die meisten möchten dieses Grundrecht auf keinen Fall in Frage stellen. Es beruht auf der Gedanken- und Entscheidungsfreiheit, die unter allen Grundrechten als von höchstem Wert erachtet wird.

Doch was vom Begriff her einleuchtend und einfach erscheint, erweist sich als komplex.

Als von hohem Wert empfinden Menschen das, was sie als richtig und als gut beurteilen, mithin was in moralischer Hinsicht ihrem „guten Gewissen“ entspricht. Was dem „guten Gewissen“ entspricht, bewirkt ein Gefühl innerer Sicherheit, dadurch ein Wohlbefinden. Was dem „guten Gewissen“ nicht entspricht, wird als unrichtig oder als falsch beurteilt und empfunden, es verunsichert und weckt Gefühle der Unruhe, eventuell der Bedrohung und der Angst. Wenn es somit um ein Beurteilen des eigenen Lebenswertes und  um wichtige Entscheide geht, sind stets Gefühle die massgeblichen Kräfte. Dies war schon Immanuel Kant bewusst, als er mit 66 Jahren, für damalige Verhältnisse im hohen Alter, noch die „Kritik der Urteilskraft“ schrieb.

Doch ist der gefühlsmässig gesteuerte Impuls, der das Entscheiden beeinflusst, nicht gerade ein „Affekt“, der gemäss der Bedingungen von „Exit“ beim Entscheid eines begleiteten Suizids ausgeschlossen sein müsste? Und werden die Gefühle, die in starkem Mass das Entscheiden beeinflussen, nicht zutiefst  durch die Macht der Beziehungen und Abhängigkeiten geschaffen, die das Umfeld derjenigen darstellen, die über das eigene Leben und Sterben entscheiden? Ist nicht der Einfluss der Medien ein massgeblicher Faktor bei der Meinungsbildung? Kann somit die Bedingung, frei von Affekt und frei vom Einfluss Dritter zu entscheiden, überhaupt erfüllt werden?

II.2.  Ein weiterer Aspekt, der die am Gesprächsaustausch Beteiligten beschäftigte, betrifft die Forderung von „Exit“, dass der Todeswunsch von Dauer sein müsse. Dauer ist ein Aspekt der Zeit, der ganz unterschiedlich verstanden wird. Ab welchem Zeitrahmen kann von Dauer gesprochen werden? Können Denken und Entscheiden überhaupt von Dauer sein? Wird nicht beides vorweg beeinflusst von aktuellen Einflüssen, von Bedürfnissen und Wünschen, die sich infolge neuer Erfahrungen möglicherweise ändern, sich möglicherweise aber auch wiederholen und vertiefen. Es kann tatsächlich ein gedankliches oder emotionales Anhalten des Zeitablaufs  geschehen, manchmal durch wirkliche oder durch träumerische Erfahrungen des Glücks, häufiger aber infolge sich zusammenballender Angst und Verzweiflung. Insbesondere im Zustand schwerer Depression wird der gestalterische, offene Blick auf die Zukunft blockiert, es ist kein Planen und kein Vorwärtsschauen mehr möglich, keine neuen Impulse werden zugelassen, mit welchen Änderungen zum Guten ins Auge gefasst werden könnten. Es ist ein Dauerzustand dunkler Trostlosigkeit. Wir diese „Dauer“ von „Exit“ gemeint? Allerdings kann von Entscheidungsfreiheit in diesem Zustand nicht die Rede sein.

Für die meisten Menschen aus der Gesprächsgruppe gab es im Lauf des Lebens Passagen, in denen das Leben schwer erträglich erschien und der Tod gewünscht wurde. Nun, in der letzten Passage des Älter- und Altwerdens, die sie aus eigener Wahl im Alters- und Pflegezentrum erleben, wird für diejenigen, für welche die Möglichkeit der Erinnerung, des Denkens und Erlebens erhalten bleiben konnte, die Zeit in ihrer vielschichtigen Bedeutung bewusster erlebt: einerseits die geregelte, gezählte und berechnete Zeit, die aus Zahlen und Namen besteht, die von der Gesellschaft, von Ämtern und Versicherungen kontrolliert wird und die zumeist belastet, da sie in erster Linie mit Forderungen nach Genauigkeit und Ordnung erlebt wird. Jener Ausruf , den eine Frau wagte, dass sie die Zahl „90“ hasse, die ihr seit ihrem letzten Geburtstag anhafte, dass sie noch glücklich sein wolle, widerspiegelt einen Teil des Widerstands gegen diese Bedeutung der Zeit, gleichzeitig den Wunsch, die innere Zeit anhalten zu können, die dem kindlichen Träumen von Glück entspricht, oder sie bewusster zu erleben und mit grösserer Ruhe zu nutzen, da in ihr das Geschenk des Lebens, auch des späten Lebens liegt.

III. Stehen Freiheit und Pflichterfüllung im Widerspruch zueinander?

In den meisten Fällen gelten für Frauen und für Männer, die im Alters- und Pflegezentrum leben, die  religiösen und gesellschaftlichen Wertekriterien, nach welchen sie erzogen wurden und gelebt haben. Selten weichen sie davon ab und wagen es, ganz andere Entscheide als die gewohnten zu treffen. Wie es in den Aussagen, die ich zitiert habe, deutlich wird, steht für die meisten die Pflichterfüllung im Vordergrund.

Trifft dies auch für diejenigen aus der Gesprächsrunde zu, die dem individuellen Recht zur Selbstbestimmung von Sterben und Tod zustimmen? Es ist interessant, dass für diese Menschen die Entscheidungsfreiheit nicht der Pflicht widerspricht, sich um das eigene Leben zu sorgen, mithin auch der Pflicht,  fürs Sterben die volle Verantwortung zu tragen, wenn wegen nicht mehr ertragbarer Schmerzen der Tod nach eigenen Erwägungen als sinnvoll bewertet wird. Das „gute Gewissen“ wird dabei von ihnen nicht in Frage gestellt, d.h. „Exit“ ist für sie ein akzeptierbares Angebot auf der Basis der persönlichen Verantwortung.

Ein anderer Teil kann aus religiösen Gründen die Selbstbestimmung über Sterben und Tod nicht mit dem „guten Gewissen“ in Übereinstimmung bringen, wohl aber ist die Verringerung von Leiden und der Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen von hohem Wert, wenn das Lebensende ohnehin  bevorsteht. Für diesen Teil der Bewohnerinnen und Bewohner ist nicht „Exit“ ein akzeptierbares Angebot, sondern die palliative Medizin und Pflege.

Beim einen wie beim anderen Teil findet jedoch ein klares Unbehagen Ausdruck, wenn das Alters- und Pflegezentrum als Ort für den Vollzug des von „Exit“ begleiteten Suizids in Betracht gezogen wird. Die Tatsache des plötzlichen Fehlens eines Mitbewohners bleibt mahnend in der Erinnerung aller Beteiligten wach.

Spürbar geht es dabei um ein sozialethisches Empfinden, das ebenfalls einen hohen Wert tangiert: Das Alters- und Pflegezentrum gilt gesamthaft als Ort oder Raum kollektiver Verantwortung.

Kollektive Verantwortung betrifft das Wohlergehen derjenigen, die Entscheide treffen wie das Wohlergehen derjenigen, die nicht selber entscheiden, die aber ebenfalls zu diesem Ort oder in diesen Raum gehören und deren Gefühl von Lebenswert davon abhängig ist. So sind diejenigen, die nicht entscheiden, als Kollektiv ebenso schutzbedürftig wie derjenige oder diejenige, der/die für sich privat entscheidet, den eigenen Tod mit Unterstützung von „Exit“ zu veranlassen. Das Unbehagen, das in den Gesprächen deutlich Ausdruck findet, lässt den Schluss zu, dass es für den privaten Entscheid des privaten Ortes bedarf. Wie das von einer der Gesprächsteilnehmerinnen geschilderte Beispiel verdeutlicht, das ihre Tante, jedoch auch die Heimleiterin  und den Sohn betraf,  hängt auch der private Ort wieder von einem privaten Entscheid ab, der in jenem Fall infolge der Mitverantwortung der Heimleiterin wie des Sohnes mit der Verweigerung der einen wie des anderen einherging.

Gewiss lässt sich privatrechtlich das eine Zimmer, das in der Regel zum letzten Wohnort der Menschen in Alters- und Pflegeheimen wird, auch als deren Sterbeort verstehen. Das wird von den Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern in keiner Weise in Frage gestellt, wenn es um ein natürliches „Ableben“ geht, im Gegenteil, da ist Sterben Teil des Lebens, das von ihnen  mit Wissen und Verstehen begleitet wird, oft mit Bangen und Trauer. Wenn aber der Tod medizinisch organisiert wird und „mit Hilfe zur Selbsttötung“ geschieht (entsprechend Art. 115  STGB), wenngleich diese, wie es bei „Exit“ der Fall ist, als „freier Entscheid“ legitimiert wird, so ist die Reaktion des Kollektivs sehr viel komplexer und geht mit Erschrecken und Furcht einher, wie die geschilderten Reaktionen in den Gesprächen deutlich werden lassen.

Es erscheint mir wichtig, zum Abschluss daran zu erinnern, dass im Vordergrund der Auseinandersetzung die Befürchtung ausgesprochen wurde, dass sich aus Kostengründen eine kalt berechnete Legitimation des Alterssuizids ausbreite, die in den Medien einen zunehmend breiten Platz als ökonomisch und medizinisch begründeter „vernünftiger Entscheid“ einnehme.  Möglicherweise verbindet sich das Erschrecken, das in Zusammenhang dieser Erwägung in den Gesprächen mitschwingt, mit dem Vergleich der aktuellen Legitimation medizinischer Empfehlung zur pränatalen Tötung von Kindern mit genetisch bedingten Schäden, deren Leben ebenfalls als kostenbelastend und als nutzlos qualifiziert wird, möglicherweise auch in befürchteter Fortsetzung der vom Nationalsozialismus hunderttausendfach umgesetzten Euthanasie, der Tötung „lebensunwerten Lebens“, die als gesellschaftlich entlastender, sinnvoller „Gnadentod“  von Ärzten und medizinischem Personal vollzogen wurde. Diese Befürchtungen bleiben offen, sie sind berechtigt.

Der primäre Zweck des Alters- und Pflegezentrums, sowohl dem Respekt vor der je individuellen Persönlichkeit mit den besonderen Wünschen und Ängsten wie dem kollektiven Wohlbefinden der dort lebenden Menschen gerecht zu werden, bedarf der sorgfältigen Beachtung der thematisierten Fragen. Zusammenfassend ist meines Erachtens der von „Exit“ unterstützte Alterssuizid als Angebot freier individueller Wahlmöglichkeit nicht abzulehnen. In den Gesprächen mit den Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern erweist er sich jedoch als unzumutbar innerhalb des Zentrums. Dagegen wird die Palliativmedizin und die palliative Pflege begrüsst, die dem Leben einen unaustauschbaren Wert zugesteht, ohne dass es unnötig verlängert wird, wenn infolge nicht mehr heilbarer Krankheit oder altersbedingter körperlicher Beschwerden, Behinderungen und Mängel eine besondere Achtsamkeit Dritter nötig ist.

Es erscheint mir dringlich, dass diese klare Stellungnahme Betroffener beachtet wird. Dass der beängstigend wachsenden Entwicklung einer kalten ökonomischen Entmenschlichung innerhalb der sozialen Strukturen die Stirn geboten wird.

Copyright:  Maja Wicki-Vogt, Zürich

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