Bildung – Technik – Zukunft

Bildung – Technik – Zukunft

 

Für die Entwicklung der über Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombombe wie für die Entwicklung und Produktion der chemischen Waffen hatten hervorragende Forscher ihr Fachwissen zur Verfügung gestellt, ohne dass sie sich Rechenschaft darüber gaben, dass ihre wissenschaftliche Erkenntnis – dass letztlich sie selber – zu unmenschlichen Zwecken instrumentalisiert wurden. Adorno mochte damit auch die Mitverantwortlichen in Biologie, Anthropologie, Medizin und weiteren Wissenschaften in den Labors des Dritten Reichs meinen, die zum Teil in die Konzentrations- und Vernichtungslager integriert waren, aber auch jene in den übrigen kriegführenden Ländern, welche das Ausblenden des kritischen Denkens, das Nichtzulassen des Zweifels, letztlich die Instrumentalisierung des Denkens zu destruktiven Zwecken mittrugen.

Dass denkende Menschen sich zu einem Zweck einsetzen liessen resp. einsetzen lassen, den sie nicht hinterfragten resp. nicht hinterfragen, macht nicht nur die inhumane Umsetzung von jeder Art von Forschung, von Fachwissen und beruflicher Tätigkeit möglich, sondern auch die scheinbare Unbeteiligtheit bis zur persönlichen Schuldloserklärung der verantwortlichen Beteiligten: sie wissen, was sie tun, aber sie wissen nicht – resp. wollen nicht wissen – was sie mit der durch ihre Ausbildung gesteuerten Arbeit bewirken, die sie auf Grund ihres Wissens oder ihrer Funktion tun.

Der heute übliche internationale „Handel“ mit begabten jungen Menschen aus allen naturwissenschaftlichen, kommunikations- und produktionstechnologischen Disziplinen, deren Ab- und Anwerben durch hochdotierte Industrielaboratorien ist nicht nur ein „brain-drain“ – ein “Denk-Abluss” – ihrer Herkunftsländer und geschieht gewiss nicht zu deren persönlichen Förderung, sondern ist zweck-, resultat- und profitgebunden. Die technologisch und fachspezifisch gut ausgebildeten jungen Frauen und Männer werden zu spezifisch einsetzbaren, austauschbaren „brain-tools“ gemacht, zu “Denk-Werkzeugen”, die, analog zu den Computern, hinter welchen sie sitzen, in einer virtuellen Welt und in virtuellen „networks“ für eine bestimmte Zeit eine bestimmte Funktion erfüllen. Alle ihre übrigen Bedürfnisse, alle konkreten Beziehungen, auch die Verpflichtungen, die daraus resultieren, kurz, die Tatsache, dass sie als Menschen in eine „Welthaftigkeit“ hineingeboren wurden, wie Hannah Arendt sagte, all dies wird sekundär. Indem sie sich zum „brain-tool“ machen lassen, werden sie – in Adornos Sprache – „verdinglicht“, instrumentalisiert, austauschbar gemacht, gleichgeschaltet und roboterisiert, wie gescheit und wie hervorragend ausgebildet sie auch seien, und ohne dass sie dagegen opponieren. Ihr beruflicher Erfolg geht tatsächlich einher mit der “Verdinglichung” ihrer selbst. „Sie errichten in sich eine mehr oder minder freiwillige Selbstkontrolle. Diese veranlasst sie zunächst dazu, nichts zu sagen, was den etablierten Spielregeln ihrer Wissenschaft nicht gehorcht; allmählich verlernen sie, es auch nur wahrzunehmen“. Widerstand zu leisten ist dringlich, Widerstand durch diejenigen, welche unter der Vorgabe ihres eigenen Erfolgs benutzt werden, Widerstand zu verunmöglichen. Wie lässt sich Freiheit zurückgewinnen, wenn sie nicht über das Denken eingeübt werden kann? Ist es nicht eine Frage der zugestandenen Zeit?

 

III. 2. Widerstand gegen den Verlust realer Zeiterfahrung

Als ich Adornos kritische Überlegungen und die ungelösten Fragen erwog, die uns heute bewegen, erinnerte ich mich an die langen Gespräche mit Paul Virilio[1], die ich 1995 in Paris als Ergänzung zur Auseinandersetzung mit seinen zeitkritischen Schriften[2] mit ihm führte. Virilio, der sich selber als “Dromologen” versteht, als Geschwindigkeitstheoretiker, ging nicht nur seit Anfang der Achtzigerjahre als luzider Analytiker auf die Folgen der masslosen Zerstörung und Vernichtung in der jüngsten Kriegs- und Nachkriegsgeschichte ein, in welcher die schrankenlos gewordene Technologie sich zunehmend zur globalen Diktatur entwickelte. Er befasste sich vor allem mit den Auswirkungen des Verlusts von realer Zeiterfahrung auf die Menschen selber, auf deren Beziehung zu sich selbst sowie auf die Beziehung der Menschen untereinander. Zunehmende Entfremdung und Vereinsamung stellte er fest, seit mit dem Erreichen der Lichtgeschwindigkeit in der Telekommunikation und mit der Simulationstechnik jede Art von Distanz und Nähe gleichgeschaltet sind. “Diese gewaltigste Steigerung der Geschwindigkeit kehrt den Fortschritt in sein Paradox um: die Menschen bedürfen keiner Fortbewegung mehr, um sich zu sprechen, um einander zu sehen und einander zu hören; es genügt, dass sie sich vor einen Bildschirm setzen, um sich an irgend einem Punkt der Erde zu befinden. Die Menschen sind überzählig geworden: infolge der computerisierten Produktionstechniken als Arbeiterinnen und Arbeiter, infolge der Fortschritte in der Telekommunikation als Reisende, überzählig wurden sie sodann infolge der In-vitro-Befruchtung als Zeugende. Selbst als Liebende werden sie überzählig infolge der virtuellen Realität des Cybersex”.

Paul Virilio’s Prognose ist bitter. “Da mit der Lichtgeschwindigkeit eine absolute Grenze erreicht wurde, die nicht weiter überschritten werden kann, wird sich Fortschritt in Zukunft nur noch im virtuellen Raum abspielen. Die Virtualität wird das Tummelfeld technologischer Weiterentwicklung sein” und er greift eine Bemerkung Franz Kafka’s aus einem Brief an Milena auf: “Es sind Erfindungen, die im Absturz gemacht werden.” Es gibt keine intellektuelle Distanz in Paul Virilio’s zeitanalytischen Untersuchungen; Trauer ist spürbar, gleichzeitig Aufbegehren und Widerstand. Denn was real bleibt, was nie virtuell ist, ist das Leiden der einzelnen Menschen. Und ebenso real bleibt die Gewalt. Gewalt nimmt überhand, weil ihre Realität durch die Masslosigkeit mit Virtualität verwechselt wird, da die real gelebte Zeit wertlos wird. Doch solange Menschen denken, darf nicht Resignation überhand nehmen. Paul Virilio erscheint “ein haushälterisches Umgehen mit der Geschwindigkeit dringlich. Wissen muss Bildung werden.” Er vergleicht unsere Zeit mit jener der römischen Dekadenz, die elektronischen Spiele mit den spätrömischen Angeboten von “panem et circenses”, Ablenkungsangebote wie Drogen, die zur Gewalt führen, sowohl wegen der demütigenden Inaktivität wie wegen der demütigenden Tatsache, dass anstelle von Realität eine Ersatzspielzeug – ein ‘gachet’ – angeboten werde. “Immer, wenn eine Art überflüssig wird, wird sie für Spiele missbraucht. Seit die Pferde überflüssig sind, gibt es das Hippodrom. Die Menschen werden ins ‘Homodrom’ abgeschoben. Die jungen Menschen müssten sich gegen diesen Missbrauch zur Wehr setzen.”

Es ist nicht ein Befehl, es ist ein hypothetischer Imperativ, mit welchem Paul Virilio die jungen Menschen aufruft, sich zur Wehr zu setzen, sich gegen Masslosigkeit und gegen Sprachlosigkeit, gegen die Entfremdung von der Wirklichkeit, gegen den Verlust der real gelebten Zeit aufzulehnen. Er selber hat sich nie auf den Elfenbeinturm des abstrakten Denkens zurückgezogen, sondern nahm Teil an sozialen Widerstandsbewegungen, im Bewusstsein, dass, was zur Zeit der Industrialisierung durch die überhandnehmende maschinelle Produktion mit den Arbeiterinnen und Arbeitern geschah – der Zeitdruck und gleichzeitig das Entweder-Oder von maschineller Anpassung und Schweigen oder von Unnützerklärung -, seit der Digitalisierung und Virtualisierung von Kommunikation, von Produktions-  und Forschungsarbeit mit den Intellektuellen geschieht – unter analogen Bedingungen. “Sei still!” habe immer als Gebot autoritärer Bevormundung gegolten, erinnerte sich Paul Virilio im Gespräch. Doch – muss es befolgt werden? In einem Buch mit Aufsätzen[3], das damals- 1995 – eben in Frankreich erschienen war, ging er auf eine Warnung Heraklits ein, dass es wichtiger sei, Masslosigkeit zu löschen als einen Brand zu löschen[4]. Aus dem Entweder-Oder jeder Art von Masslosigkeit auszusteigen ist dringlich, doch wie? “Es bedarf eines neuen Rhythmus”, hielt Paul Virilio in unserem Gespräch fest. “Man müsste die Rhythmologie erfinden, ja die Intelligenz für den Rhythmus entwickeln. Das heisst, dass wir den Sinn fürs Mass wiederfinden müssen. Ereignisse, die früher vielleicht ein ganzes Leben ausfüllten, geschehen heute in einem Jahr oder noch schneller. Das nützt ab.”

III.3. Widerstand gegen tempobedingte Abnützung und Zukunftsangst

Zeitdruck nützt tatsächlich ab. Zeitdruck führt zu Atemlosigkeit, zu nervlichen Anspannungen und Belastungen, zu Schlafstörungen, zu ständiger Unruhe und Müdigkeit, zu Kopfschmerzen und Nackenschmerzen, zu Verdauungsproblemen und weiteren körperlichen Folgen dessen, was als Stress-Syndrom bezeichnet wird. “Tempo-tempo”, war die Klage unter dem maschinellen Zeitdruck, “Stress” ist die Klage der Menschen – oft schon der Kinder und Jugendlichen – unter dem Zeitdruck der heutigen Lebensbedingungen, seien es die privaten oder die Studien- und Arbeitsbedingungen, welche mit dem inneren Zeitrhythmus der Menschen in keiner Übereinstimmung sind. Stress, dieses neurologisches Syndrom, das sich in den Abnützungserscheinungen äussert, beruht fast immer auf psychischen Ursachen, die auf die “soma”, den Körper übertragen werden. Tief  im Menschen verklammerte Ängste nehmen überhand und werden gleichzeitig zu verdrängen versucht: die Angst, nicht genügen zu können, nicht mehr nützlich zu sein, den Lebenswert verloren zu haben. Es ist ein vielfacher Mangel an innerer Sicherheit, der sich in der Angst ausdrückt, an Beziehungssicherheit zu sich selbst und zu anderen Menschen, an Zeitsicherheit, letztlich an Lebenssicherheit.

Wenn Angst nicht mehr warnende und dadurch schützende Kraft ist, die sich bei Abzug von Gefahr wieder verflüchtigt, wenn Angst den Menschen zu beherrschen beginnt, wird Zukunft zur Leere oder zum Albtraum. Tatsächlich ist Zukunft auf Grund der nicht erwägbaren Schnelligkeit der Entwicklung noch weniger vorhersehbar oder planbar wie früher. Für die einen Menschen gilt daher, Absicherungen zu konstruieren, Vermögen zu stauen, Häuser zu bauen, Versicherungen abzuschliessen etc. Für andere erscheinen als einzige Gegenmassnahme Flucht- und Rückzugsangebote umsetzbar zu sein: Flucht in Theorien und Ideologien mit Wahrheitsanspruch, in Drogen oder in drogenähnliche Pharmaceutica, in blinde und oft lebensgefährdende Leistungssteigerungen (sei es im Erfolgswettkampf im Beruf, im Sport, in politischen Gruppierungen bis zur Teilnahme an Strassengewalt oder an Selbstmordattentaten etc.), Flucht auch durch Teilnahme an Massenevents (ob in Street-Parades, Totenfeier oder Besuch eines Papstes, Auftritt eines Pop-Sängers etc.), oft einfach Flucht in die abstrakte, virtuelle Ersatzwelt.

Gibt es nicht andere Möglichkeiten? Paul Virilio’s Hinweis auf Heraklit ist ein Zeichen. Doch wie kann ein Wissen über die Geschichte menschlicher Masslosigkeit und Machtlosigkeit geweckt werden und wach bleiben, wenn das Schulsystem auf allen Ebenen sich zunehmend von der Bedeutung von Bildung entfernt? Wir wissen, dass jede Art von Ausbildung zu beruflichen Funktionen führt, in welchen Handlungsentscheide erfordert sind. Die Verantwortung, die damit einhergeht, kann auch in der heutigen Zeit nur getragen werden, wenn ein neuer Rhythmus des Denkens das Selberdenken und das bewusste Denken ermöglicht. Anstelle von “stress” kann “attention” resp. Aufmerksamkeit spürbar werden, eine Sorgfalt im Beachten der Folgen von Handlungsentscheiden, welche auch tragbar sein könnten, wenn sie ertragen werden müssten. Das Bewusstsein von Reziprozität (“recus” – rückwärts, “procus” – vorwärts), das sich dabei äussert, beruht auf dem Wissen um die zwischenmenschliche Abhängigkeit, d.h. auf dem Wissen, dass die in vielen Zusammenhängen nicht wählbar gewesene und nicht korrigierbare Vergangenheit im schmalen Zeitübergang, der Gegenwart heisst und der Handlungsentscheide ermöglicht oder verlangt, die Zeit, die kommen wird, mitgestaltet – für einen selber ebenso wie für andere Menschen in deren Gleichzeitigkeit.

Es ist tatsächlich nicht leicht, kluge und vernünftige Wahlmöglichkeiten zulassen zu können, wenn vor allem jene der digitalen Telekommunikation gelernt wurden. Trotzdem ist das je persönliche Leben eines Menschen auf individuelle Weise im Sinn der Reziprozität gestaltbar, wenn Freiheit nicht Willkür bedeutet, sondern als Grundbedürfnis verstanden wird, das demjenigen anderer Menschen entspricht und als Grundrecht umsetzbar wird. Freiheit konkretisiert sich am klarsten in den Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der Art und Weise zu leben, letztlich sinnvoll zu leben. Bildung sollte – entsprechend der Forderungen Virilio’s – hinsichtlich der Wahlmöglichkeiten einen Halt an Wissen anbieten können.

 

  1. Bildung braucht einen neuen Stellenwert
  2. 1. Ein neues Überdenken des “praktischen Imperativs”

Damit komme ich zum letzten Teil meiner Überlegungen. Im kritischen Potential des Selberdenkens liegt die Befähigung zum Nein-Sagen gegen Verdinglichung, gegen Zeitdruck und Zeitraub, gegen menschliche Vereinsamung und Zukunftsangst, letztlich gegen alle Formen der eigenen Instrumentalisierung sowie gegen diejenige anderer Menschen. Selberdenken und Bildung sind wechselseitige Ergänzung von Aktualität, Fundament und Entwurf, ein dialogisch-dialektisches Vorgehen, das nicht in der Leere steht, nicht in trügerischer Utopie und ebenso wenig in imaginativen Fluchtparadiesen. Es bieten sich in Bibliotheken und in Brockenhäusern, vielleicht im eigenen Büchergestell, vor allem in Gesprächen mit anderen Denkenden Möglichkeiten an, die das kritische Fragen und Suchen nicht ablehnen, sondern neue, für die Aktualität brauchbare Interpretationen zulassen. Bevor ich abschliesse, werde ich kurz auf zwei Denkangebote hinweisen, die ich ausgewählt habe, unter unzählig vielen, und die dazu beitragen können, die Divergenz zwischen Bildung und Ausbildung zu lösen.

Dazu eignet sich u.a. Kants „Kritik der praktischen Vernunft“. Dass unter den Bedingungen der Jetzt-Zeit wieder gelesen und diskutiert wird, was mit dem praktischen Imperativ gemeint ist, ermöglicht mit dem Halt an Bildung den Widerstand gegen Verdinglichung, den Adorno fordert. Kant begründet mit der 1788 erstmals veröffentlichten Begründung des praktischen Imperativs zugleich das Instrumentalisierungsverbot wie die Universalität der Maxime[5]. Universalität bedeutet weltweite Gültigkeit, bedeutet, dass das gleiche Gebot, als Mensch nicht als Mittel benutzt zu werden, für den Menschen sich selbst gegenüber gilt wie jedem anderen Menschen gegenüber. Auch geht damit einher, dass jeder Mensch, wo immer er sei, welcher Herkunft und welchen Standes er auch sei, welchen Beruf oder welche Funktion er ausübe, sich selbst und andere nicht zum Mittel machen darf – nicht “verdinglichen” darf -, allein auf Grund des gleichen Menschseins in der individuellen Besonderheit jedes Menschen.

Interessant ist, dass Kant in seiner Begründung des Instrumentalisierungsverbots auch positiv die „Beförderung“ des  Zwecks formuliert. Dieser besteht in der „Glückseligkeit“ des einzelnen Menschen, oder, wie er etwas später schreibt, in dessen „Würde“. Kant erläutert ausführlich, was er darunter versteht: die Beziehung allen Handelns auf das „Reich der Zwecke“, das sich durch das Selberdenken und durch das selber gesetzgebende Entscheiden und Bestimmen des Handelns konstituiert, so dass jene innere Ruhe spürbar wird (der “Rhythmus” im Sinn Paul Virilio’s) , die er auch „Moralität“ nennt. Er versteht darunter die Befähigung des Menschen, Erkennen und Denken, Urteilen und Handeln so auszurichten, dass kein Schaden zu erleiden ist. In dieser inneren Ruhe, wofür Kant abwechselnd die Begriffe „Glückseligkeit“, „Würde“ und „Moralität“ braucht, trifft die Erfüllung des praktischen und des kategorischen Imperativs aufeinander (BA 76, 77). Indem der einzelne Mensch den praktischen Imperativ erfüllt, handelt er so, dass die Norm oder die „Maxime“ seines Handelns auch für alle anderen Menschen gelten könnte, d.h. dass er die Folgen analog begründeter Handlungsentscheide anderer Menschen ertragen könnte.

In Kant’s ausführlichen Erläuterung des praktischen Imperativs findet sich die Grundstruktur jener Werte, die ich im Zusammenhang der Reziprozität erläutert habe. Es bedürfte für das richtige Handeln keiner zusätzlichen Gesetze, wie die Ärzte und Ärztinnen auf den Intensivstationen schon vor acht Jahren forderten, es bedürfte keiner Vielzahl partikulärer Regelungen oder Gesetze, wenn die Grundwerte des Menschseins durch die gesellschaftlichen Bedingungen geschützt wären, d.h. wenn das Instrumentalisierungsverbot von Menschen durch Menschen von der frühen Kindheit an in allen Beziehungsstrukturen, auch im Schul- und Bildungssystem, auf stärkende Weise umgesetzt würde. Damit das Zusammenleben der Menschen – der Handlungsfähigen und der von Hilfe Abhängigen, der Starken und der Schwachen etc. –  erträglich, gegenseitig fördernd und nicht missbräuchlich ist, bedarf es tatsächlich der Besinnung auf die grundsätzliche Befähigung jedes Menschen zum Selberdenken. Es bedarf der selbstverantwortlichen Umsetzung des damit verbundenen Grundbedürfnisses und Grundrechts, das Freiheit bedeutet. Freiheit kann/darf nicht ein Privileg weniger Einzelner sein. Grundbedürfnisse und Grundrechte sind für alle Menschen dieselben, auch wenn die Fähigkeiten und Umsetzungsmöglichkeiten der Fähigkeiten sehr unterschiedlich sind. Was Bildung beinhaltet ist der optimale Respekt vor der je individuellen Entfaltung und Förderung jeder Besonderheit, gemäss des gleichen Wertes, der jedem Menschen auf Grund seines Menschseins inne ist.

 

III.3. Den “amor mundi” entfalten

Noch ein Aspekt  erscheint mir wichtig, damit der heutige Stellenwert von Bildung gestärkt werden kann. Es ist der politische Aspekt, der mit der Bedeutung von Kultur einhergeht, die sich mit jenem von Bildung deckt. Es ist die Zustimmung, als denkender Mensch Teil der “polis” zu sein, somit in einer Mitverantwortung für das aktuelle und künftige Zusammenleben der vielen zu stehen. Ich gehe dabei auf Hannah Arendt ein. Vieles, was schon erläutert wurde, wird von ihr bestätigt.

Unter ihren nachgelassenen Fragmenten findet sich eine Schlussbemerkung zur Vorlesung, die sie an der Universität von Berkely im Frühjahr 1955 hielt[6]. Darin gibt sie ihrer Klage über das “Anwachsen von Weltlosigkeit” Ausdruck, über die sich ausbreitende “Wüste in der Welt”, wodurch zwei wichtige, unverzichtbare Vermögen der Menschen bedroht seien: “das Vermögen der Leidenschaft und des politischen Handelns”. Es sind jedoch diese Vermögen, die dazu befähigen, das “Anwachsen der Wüste” zu verhindern und, wie Hannah Arendt schreibt,  “Oasen zu schaffen“, d.h. Räume, in denen Menschen zusammenleben können unter Bedingungen der Pluralität und unter Bedingungen der Kultur, welche die gegenseitige, wechselseitige Berücksichtung und „Pflege“ (cultura) der so schnell verletzten Menschenwürde bedeutet.

Gemäss Hannah Arendt definieren die Bedingungen von Kultur und Pluralität das politische Handeln in der Aktualität wie in der Geschichtlichkeit. Diese Bedingungen, die sich mit jenen von Bildung decken, gestatten den Menschen, dass sie sich dank ihrer Fähigkeit zum Selberdenken und zur Infragestellung des Gegebenen, mithin zum Konsens wie zum Dissens, immer wieder neu in die Gestaltung des Zusammenlebens einmischen können. Hannah Arendt sieht hierin die Möglichkeit der Korrigierbarkeit des Getanen, wodurch das Getane zwar nie ungetan wird, wodurch aber die Geschichte – d.h. der Ablauf der Zeit und der vielen Leben in dieser Zeitgenössischkeit – eine andere Wendung nehmen kann. Gerade die Korrigierbarkeit bedarf  der Freiheit, mithin des persönlichen Urteils und des politischen Handelns in der Auseinandersetzung mit den Gesetzen, welche die allgemeine Rahmenbedingung für gelebte Freiheit schaffen. Und die “Leidenschaft”, fragt Hannah Arendt? Es geht um die suchende und schöpferische Kraft des “eros”, die sich in der Grundbedeutung von Bildung findet. Hannah Arendt selber verbindet mit “Leidenschaft” den  – nicht-theoretischen, sondern sich im Handeln äussernden – “amor mundi”, die Kraft der bedingungsfreien Zustimmung zu dem, was die Menschen untereinander verbindet, zum „inter-esse”, dem Bezugsgeflecht zwischen den Menschen, dem gemeinsamen Da-sein, eine Kraft, die sich ebenso in der Kritik, im Widerstand gegen Instrumentalisierung und in der rückhaltlosen Ablehnung der “weltzerstörerischen” und menschenverachtenden Gewalt äussert, die jedoch Indifferenz und Eskapismus, d.h. den Verzicht aufs Selberdenken, ausschliesst.

Hannah Arendt ist sich des Widerspruchs, der mit der Notwendigkeit von Gesetzen und dem Handeln des einzelnen Menschen verknüpft ist, bewusst und thematisiert diesen Widerspruch in mehreren ihrer Werke. Dabei verweist sie immer wieder auf die Schriften Platons, resp. auf die sokratische Theorie des richtigen Handelns. Gültige und tragende Massstäbe des richtigen Handeln, auf dessen Entscheidungsproblematik in der heutigen Zeit wir eingingen, sind auch bei Hannah Arendt nicht einfach durch die kritiklose Befolgung von Gesetzen gewährt, sondern durch das – leidenschaftliche – Wagnis des persönlichen Urteils, wenn nötig gegen das Gesetz. Für die sorgfältige Abwägung, woran sich richtiges Handeln misst, ist allein das Verhältnis zwischen Ich und Selbst massgebend, allein die Zustimmung zu sich selbst, allein der Friede mit sich selbst. Diese innere Übereinstimmung konstituiert die moralische Handlungskompetenz, die Kant in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ erarbeitet hat und auf welche Adorno, Hannah Arendt und Paul Virilio immer wieder hinweisen. Hierin findet sich letztlich das Befähigungsziel von Bildung.

Ich komme zum Schluss: Bildung kann nur den Wert der ursprünglichen Bedeutung wieder erlangen und jede Art von Ausbildung als kritische Grundlage des Lernens und des Umsetzens von Wissen unterstützen, wenn in gesellschaftlich-politischer Hinsicht der utilitaristischen Verdinglichung des Schul- und Bildungssystems entgegengewirkt wird: Kinder und junge Menschen sollen wieder einen Rhythmus des Lernens, des Studiums und der Umsetzung von Wissen erleben dürfen, der sie von der virtuellen Ebene löst und mit der Reziprozität menschlichen Lebens verbindet. Die Verwechslung der gesellschaftlichen und staatlichen Kriterien mit jenen von Firmen geht einher mit der Verwechslung der Bildungskriterien mit utilitaristischen Ausbildungszwecken, welche die von Adorno beklagte “Verdinglichung” der Menschen, deren Austauschbarkeit und Verschleiss bewirken, auch deren Überforderung in Fragen der persönlichen Verantwortung von Handlungsentscheiden. Das Politische verbindet sich mit sozialer Verantwortung, mithin mit Bildung. Ohne Bildung entbehrt es des kritischen Denkens, das erfordert ist, um die Organisation des Zusammenlebens der Menschen in der damit verbundenen Pluralität und Komplexität so zu realisieren, dass es ein Zusammenleben aller in Freiheit und im Bewusstsein der Reziprozität von Grundbedürfnissen und Grundrechten ist. Freiheit kann nicht gewährleistet sein, wenn Angst vor der Zukunft die Menschen beherrscht, wie dies aus unterschiedlichen Gründen heute bei einem zunehmenden Bevölkerungsanteil der Fall ist.

All dies begründet die dringliche Erfordernis, dass die Grundlage von Fachausbildungen Bildung ist. Das zum verantwortlichen Handeln befähigende persönliche Denken kann nicht erst im Erwachsenenalter vermittelt und gelernt, gefordert und ausgeübt werden. Dessen Einübung, analog zur Kenntnis und zum Gebrauch der Grammatik in der Sprache, setzt Fragen und Denken, Kritik und begründeten Widerspruch, damit Respekt vor den Bedürfnissen und der Meinung jedes Menschen – jedes Kindes – voraus. Bildung sollte daher wieder zu einer prioritären gesellschaftlichen Aufgabe erklärt werden, damit der verhängnisvollen “Verdinglichung” der Menschen im Dienst hoch technologisierter, virtueller Kriterien und masslos entgrenzter Zielsetzungen eine aufbauende Korrektur entgegenwirken kann.

 

 

[1] zum Teil erschienen in der Wochenendausgabe des Tages-Anzeigers, 9.-10. 12. 1995

[2] In dt. Sprache a) im Merve Verlag, Berlin: Fahren, fahren, fahren…1978 – Geschwindigkeit und Politik, 1980.- Der reine Krieg, 1984. – Ästhetik des Verschwindens, 1986. – Die Sehmaschine, 1989.- Das irreale Momument. Der Einstein-Turm, 1992. – Revolutionen der Geschwindigkeit, 1993. b) im Carl Hanser Verlag, München: Rasender Stillstand, 1989. – Der negative Horizont, 1989.- Krieg und Fernsehen, 1993. c) im Benteli Verlag, Bern: Das öffentliche Bild, 1987.

[3] Paul Virilio. La vitesse de libération. Edition Galilée, Paris 1995

[4] Heraklits Aussage (lebte ca. 533-483 v.Chr.) findet sich tatsächlich bei Hermann Diehls. Fragmente der Vorsokratiker, Weidmann Verlag 1903/ 1951 (Hrsg. von Walther Kranz), S. 160.

[5] Immanuel Kant. Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Werkausgabe Bd. VII. Insel Verlag, Wiesbaden 1958

[6] Von Ursula Ludz herausgegeben in “Was ist Politik?”, Verlag R. Piper, München 1993

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