Was wird warum wie gesagt? – Sprachspiel – Sprachzweck – Sprachwahl

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Was wird warum wie gesagt?

Sprachspiel – Sprachzweck – Sprachwahl

Über die Bedeutung der Sprache im individuellen Alltag des einzelnen Menschen unter den gesellschaftlichen Zeitumständen mit besonderer Beachtung von Ludwig Wittgenstein (26.4 1889-29.4.1951) und Walter Benjamin (15.7.1892-26.9.1940)

Einleitende Überlegungen

(1) Die aktuelle Arbeit

Mit dem heutigen Abend beginnt eine sprachanalytische und zugleich existenz- und zeitanalytische Suchaktion im Zusammenhang der Suchaktionen von Ludwig Wittgenstein und Walter Benjamin. Viele Suchaktionen sind dem aktuellen Projekt vorausgegangen – in unserer Kultur von den Anfängen der Tora über Sokrates und Plato, Mithridates und Cicero, über Augustinus und Dante, Spinoza und Descartes, Bacon und Locke, Mendelssohn und Leibniz, Herder, Humboldt und Hamann, Rosenzweig und Buber und…und…und …über nicht aufzählbar viele Denkerinnen und Dichterinnen bis in unsere Zeit. Alle hatten/haben das Ziel, Antwort zu finden auf Fragen, in welchen es um die Bedeutung der Sprache resp. der Sprachen geht, um deren Geschichte und um deren aktuelle Entwicklung, um Benutzung/ev. Missbrauch der Sprache, um Freiheit oder Zwang im Gebrauch der Sprache, um die Struktur der Sprache, die Bedeutung der Sätze und deren Grammatik, um die Bedeutung der einzelnen Worte, deren Wahl und deren Sinnhaftigkeit, um die Bedeutung der Buchstaben resp. der Schriftzeichen[1], um den Ton[2] der Sprache – einerseits im je persönlichen Gebrauch der Sprache in Verbindung mit dem Erleben und Erlernen der Wörter und deren Bedeutung im einzelnen familiären Zusammenhang oder im Zusammenhang jeder individuellen Beziehung, andererseits im kollektiven Sprachgebrauch von Menschen im Zusammenhang sozialer und politischer Programme , Zielsetzungen und Zeitgeschehnisse.

Jede dieser Suchaktionen kann nicht anders vorgehen als über die Sprache selber. Um die Bedeutung der Sprache in ihrer Komplexität zu verstehen, bedarf es der Sprache. Es ist eine Vernetzung von Subjekt und Objekt, von Sprechenden, Lesenden und Schreibenden, die sich, um zu verstehen, um was es in den Wörtern und Sätzen geht, der Sprache bedienen. Somit entsprechen alle Bemühungen der Klärung von Entwicklung und Geschichte, von Verwendung, Nutzen, Erfüllung oder Missbrauch der Sprache einem Bedürfnis, das nicht nur der Untersuchung von Sprache überhaupt dienen soll, sondern das über die Untersuchung ein Verstehen der eigenen Wortwahl, eine bessere Kenntnis und grössere Sicherheit bewirken soll.

Entsprechend den Zielsetzungen variieren auch die Methoden, gemäss denen die Suchaktionen vorgehen. So lassen sich die unterschiedlichen Bezeichnungen erklären, gemäss denen sie benannt werden: als Sprachforschung, als Sprachwissenschaft, als Sprachtheorie[3], als Etymologie[4], als Semiotik[5], als Linguistik[6], als Onomalogie[7], als Grammatik[8], auch als Logik[9], als Logopädie[10] (sowohl Teil der Pädagogik wie Teil der Therapie[11] bei Sprachverlust), als Ästhetik der Tonkunst,  als Literatur[12], als Übersetzung, als  Poesie[13] – generell als Philosophie u.a.m.

Alle Suchaktionen sind verknüpft mit emotionalen und mit intellektuellen Beweggründen, mit Bedürfnissen, deren Ursprung in der frühen Kindheit liegt, mit der Erfahrung, verstanden worden zu sein oder nicht verstanden worden zu sein, der Sprache als gefordertem Regelsystem ausgesetzt gewesen zu sein oder dem Verbot der Sprache, dem Gebot des Schweigens. Eine Erfüllung der Bedürfnisse zu klären, was Sprache bedeutet und was Sprache bewirkt, wie sie genutzt und benutzt werden kann, ob und wie sie der inneren Sprache entspricht – all dies ist nur möglich, wenn geistige Kräfte aktiviert werden können, die sich in einer ihnen entsprechenden Methode umsetzen, um das Ziel der Suchaktion zu erreichen.

Das trifft für das Werk von Ludwig Wittgenstein und von Walter Benjamin zu. Darauf werden wir eingehen. Bei beiden so unterschiedlichen Denkern – der eine 1889 in Wien geboren als jüngster Sohn von acht Kindern, der andere 1892 in Berlin als ältester Sohn von drei Kindern, beide aus assimilierten, wenngleich unterschiedlich assimilierten, wohlhabenden jüdischen Familien – ist der Zusammenhang von Herkunfts- und Kindheitsgeschichte, von Beziehungsgeschichten, auch von Zeitgeschichte mit dem Denk- und Schreibwerk, das während Jahren in einer Fortsetzung innerer Notwendigkeit zustande kam, erstaunlich. Was ist die tragende Kraft, die bei Ludwig Wittgenstein und bei Walter Benjamin das Werk ermöglichte und gleichzeitig auferlegte?

Die tragende Kraft ist nach meiner Deutung der Eros, eine göttliche Kraft, die gemäss der griechischen Mythologie aus der Symbiose der weiblichen Penia, der Symbolgestalt der Bedürftigkeit, und des männlichen Poros, der als “Wegefinder” den Drang kreativer Intellektualität darstellt, geschaffen wurde. Allein Eros kann die tragende Kraft sein, welche in der kaum abbrechenden Intensität des zugleich suchenden, benutzenden und vermittelnden Umgehens mit der Sprache auf spürbare Weise eingesetzt wird. Nur Eros in der doppelten Vernetzung wichtigster menschlicher Bedürfnisse und wichtigster menschlicher Fähigkeiten vermag, dem je individuellen, persönlichen Mangel und Hunger nach Erkenntnis nachzugehen, diesen zu erleuchten, zu erwärmen und eine Erfüllung zu ermöglichen – resp. ihm einen nicht ersetzbaren und nicht löschbaren Ausdruck zu geben.

Bei beiden Denkern stellt sich die Frage: Wovon – von welchem Mangel – ist ihr Bemühen, über die Sprache die Bedeutung der Sprache zu klären resp. zu erfassen, ein Ausdruck? Was hat ihr Werk geprägt?

Die Frage geht

(1a) auf eine einleitende Deutung des Werks von Wittgenstein und von Benjamin ein, ebenso

(1b) auf die Auffächerung wichtiger Voraussetzungen und Erfahrungen in der Lebensgeschichte, sodann

(1c) auf  Elemente und Aspekte, welche in der vielfachen Differenz von einander und in der je individuellen Besonderheit der beiden Werke von verbindender Bedeutung sind.

(2) Einführung zum Werk

Ludwig Wittgenstein ist geprägt vom Ringen um das klare Erkennen und Umsetzen des Regelsystem der unmissverständlichen Bedeutung der Worte und der Sätze – der Logik. Im eigenen Sprachgebrauch ergibt sich daraus ein ständig erneuertes Sprachspiel, das durch ein stetes Bemühen der Übereinstimmung der Regeln der Sprache mit den Regeln des Handelns ergänzt wird. Spürbar wird, dass Logik und Ethik bei diesem Denker auf verbissene Weise und zugleich nach überfeinen Kriterien nach übereinstimmenden Massstäben befragt werden, mit einem Mitschwingen von Sehnsucht nach vollkommener Übereinstimmung, die an Mystik erinnert. Die Aufgaben, die Ludwig Wittgenstein stellt, sind jene der sokratischen Skepsis: indem er nach ordnender Klarheit wie nach Gerechtigkeit strebt, ist er geprägt von einem bedingungslosen Ausmass an Forderungen an sich selbst.  Diese beziehen sich mit Strenge und Unerbittlichkeit auf seinen Wert als denkendes und handelndes Subjekt, so dass sein Vorgehen wirkt wie eine Art von beinah mönchischer Pflichtenstrukturierung und Pflichtenerfüllung, gleichzeitig von zwischenmenschlicher dialogischer Bescheidenheit, die nicht nur den Verzicht auf materiellen Reichtum beinhaltet und die Wahl des einfachen Lebens auf klare Weise umsetzt, sondern auch eine emotionale Vorsicht beinhaltet, eine ständige Selbstkontrolle, die einen knappen, jedoch intensiven und kaum abbrechenden Austausch des Fragens und Weiterfragens bewirkt, damit einen Schutz vor der Selbsttäuschung durch schnelle Zufriedenheit oder gar durch den Schein vorschnellen Glücks, mit der tiefen Steigerung des Wertes dessen, was als Verstehen erlebt werden kann, etwa über das Übereinstimmen des musikalischen Tons in der Fähigkeit, ganze Symphonien[14] zu pfeifen, resp. ein Zusammenklingen und Übereinstimmen mit der Kunst des Klavierspiels in der gleichzeitigen Wiedergabe der gleichen Komposition durch einen Freund zustande zu bringen, eine Übereinstimmung von Rhythmus im Klangschritt und von Ton, die der vollkommenen inneren Grammatik von zugleich psychischer und intellektueller Symbiose nahe kommt.

Bei Walter Benjamin dagegen ist eine überströmende Masslosigkeit der Bedürfnisse, ins Gespräch zu treten, feststellbar, auch der Bemühungen, dem,  was er empfindet und denkt, Ausdruck zu geben und verstanden zu werden. In allem, was ihn in seiner hungrigen Unruhe nach  Klärung dessen bewegt, was Sprache in sich trägt, was sie in sich verschliesst und was sie bewirkt, je nachdem wie sie sich öffnet, entschlüsselt und entfaltet, findet sich in einer Art Erwachsenenfortsetzung der kindliche Wunsch nach Nähe, nach sprachlich unverhülltem Austausch von Interesse, von Erkennen und von Verstehen. Immer geht es um die geheimnisvollen Zusammenhänge des In-der-Welt-seins, des Lebens und Zusammenlebens in der Ausgesetztheit einer erstickend angehäuften Vergangenheit und einer nie erlebbaren Zukunft in der flüchtigen Jetztzeit. Das Werk vermittelt einen leidenschaftlich herumirrenden Sucher und Übersetzer, der durch die unablässige Benutzung aller Teile des Lebensfächers, der “Sprache” heisst, den nicht stillbaren Hunger nach Zugehörigkeit und nach Vertrautheit offenbart – letztlich  seiner Verzweiflung Ausdruck gibt. Mittels der Sprache sucht Walter Benjamin immer wieder auf sein gesellschaftskritisches Streben einen Rückhalt zu finden – ein utopisches Streben, das nach der optimalen Übereinstimmung eines marxistisch-gesellschaftsethischen Regelsystems mit den ästhetischen Forderungen einer ich-symbiotischen, den Gefühlen tongerecht entsprechenden Übersetzung des individuellen Erkennenwollens und Denkens trachtet. Benjamins Betrachtungen, Aufsätze und Abhandlungen sind emotional dichte, zugleich dichterisch bildhafte und vielseitig wissenschaftliche Vermittlungen seiner Unruhe und Sehnsüchte, auf spürbar erschöpfende Weise eine fast pausenlose Wiedergabe des nie erfüllbaren Suchens nach vollkommener Übereinstimmung nicht erfüllbarer Bedürfnisse – jenes nach Sicherheit, nach Schönheit und nach Wahrheit -, immer Ausdruck leidvoller Erfahrungen von Mangel auf Grund schwer lösbarer Abhängigkeiten und nicht erreichbaren Aufgehobenseins in der eigenen Freiheit, eines Lebens, das durch lauter Passagen eilt und in einer Passage mündet.

Die Frage, die der aktuellen Arbeit zugrunde liegt – Was wird warum wie gesagt? – hängt, wenn sie sich im Zusammenhang des Werks der zwei Denker stellt, mit zusätzlichen Fragen zusammen:

  • Wie erklärt sich bei Ludwig Wittgenstein, dass er sich mit Sorgfalt und Verbissenheit auf das Beachten und Hinterfragen der Sprachlogik sowie auf die Regeln des dialogischen  Sprachspiel einlässt, das mittels der sich fortsetzenden Sprachwahl den immer wieder flüchtigen Sprachzweck – das Verstehen – mit den Empfindungen und dem Denken, die dem Fragen und dem Antworten zugrunde liegen, zustande bringen kann?
  • Wie erklärt sich bei Walter Benjamin, dass er im persönlichen Geflecht der Übersetzung seiner Empfindungen und seines Denken in Sprache wie in der zwischensprachlichen Übersetzung anderen Denkens eine untrügerische Wahl und Verwendung der Worte nicht in Frage stellt, ob es um individuelle Erfahrungen gehe, die der Aufzeichnung oder der Vermittlung bedürfen oder um kollektive Zusammenhänge in der politisch und gesellschaftlich geprägten Last der Geschichte?

–       Was verbindet die zwei Denker, dass beide sich auf je persönliche Weise in die Sprache flüchten? Welche Massstäbe gelten bei Ludwig Wittgenstein für “richtig” oder “falsch”? – welche bei Walter  Benjamin?

Um die Besonderheit des je subjektiven Umgehens mit der Sprache besser verstehen zu können, ist es wichtig, die Herkunfts- und Kindheitsgeschichte der zwei Denker sowie deren Entwicklung im Erwachsenenleben kurz zu öffnen, zu durchreisen und zu betrachten, um so zu den Zusammenhängen der Sprachsuchaktionen resp. der Sprachidentifikation zu gelangen.

(3) Anamnestisch-biographische Einblicke
Warum war für Ludwig Wittgenstein die Sprache erst eine merkwürdige Last, dann ein faszinierendes Spiel? Interessant ist, dass er die „Philosophischen Untersuchungen“[15], die er selber als Spätwerk verstand und nicht selber veröffentlichte, mit einem Zitat aus Augustinus‘ „Confessiones“ (geschrieben 397-398) begann, das vom Wörterlernen handelt: „Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht.“

Was aufs erste so klar erscheint, erweist sich als höchst komplex. Wittgenstein hat die Zeitdifferenz von über 1’500 Jahren zwischen ihm und Augustinus nicht als Hindernis im Verstehen der Aussage empfunden, sondern als Übereinstimmung mit seiner eigenen Skepsis jeder autoritären Wahrheitsbehauptung gegenüber. Entsprechend der griechischen Wortbedeutung von “skepesthai, skopein” war es sein zentrales Bedürfnis, genau zu “betrachten, zu untersuchen und zu prüfen”, was durch irgend eine Autorität als Bedeutung dem einzelnen Wort vorgegeben wird/wurde. Wittgensteins Haltung Augustins Aussage gegenüber macht deutlich, dass ihn nicht das Alter, nicht Rang und Name eines anderen Menschen bewegte, sondern die Art und Weise einer Aussage. Im Zusammenhang von Augustins Aussage stellt sich die Frage, ob es sich dabei um eine Überlegung oder um ein Gebot handelte.

Für Wittgenstein bestand in dieser Aussage eine Übereinstimmung mit eigenen frühesten Kindheitserfahrungen, resp. mit der Tatsache, dass autoritäre Gebote mit der Bedeutung der Worte einhergehen. Das Fragen und ständige neue Befragen musste er aufschieben, bis er als Erwachsener während seiner Erfahrung als Soldat im Ersten Weltkrieg die Suche nach dem Sinn jeder Aussage mit der ihm eigenen Intensität zum persönlichen Schutzmechanismus aufzubauen begann. Die Veröffentlichung des “Tractatus logico-philosophicus” war für ihn Bestätigung seiner selbst als Denker – von so grosser Bedeutung, meine ich, wie ein Hautabdruck als Beweis des Überlebens. Alle weitere Sucharbeit im Zusammenhang der Sprache bedeutete letztlich lediglich Selbstverantwortung in der Fortsetzung seiner Suche nach Gewissheit seiner selbst.

Sein Leben war während Jahrzehnten legendenumwoben[16]. Wie kam es, dass er zum kryptischen Sprachphilosophen und Skeptiker, zum asketischen Homosexuellen und Dichter wurde?

Ludwig Wittgenstein wurde am 26. April 1889 geboren. als achtes und jüngstes Kind einer der wohlhabendsten Familien Wiens. Den Familienamen Wittgenstein hatte der Urgrossvater Moses Meier erworben, der als Gutsverwalter beim Grafen Sayn-Wittgenstein angestellt gewesen war.  Der Grossvater war vom Judentum zum Protestantismus übergetreten und hatte den Vornamen Christian angenommen, heiratete 1838 Fanny Figdor, die sich ebenfalls taufen liess, die ihm acht Töchter und drei Söhne gebar, denen er, als sie erwachsen waren, verbot, Frauen oder Männer aus jüdischen Familien zu heiraten. Alle ausser sein Sohn Karl, Ludwig Wittgensteins Vater,  fügten sich diesem Assimilationsgebot, dessen Beachtung jedoch in keiner Weise die Herkunft – in dieser Geschichte die jüdische Herkunft – abzulegen ermöglichte. Ludwig Wittgensteins rebellischer Vater kümmerte sich weder um Gebote noch um Verbote, sondern floh nach New York, wo er einige Zeit als Kellner und Geiger lebte. Als er 1867 nach Wien zurück kam, erlernte er den Ingenieurberuf, wurde Zeichner in einem Walzwerk in Böhmen, dann Direktor und nach wenigen Jahren einer der geschicktesten und reichsten Industriellen im Stahlbereich des kaiserlich-königlichen Österreichs. Mit seiner Ehefrau Leopoldine Kalmus, deren Mutter katholisch, deren Vater jüdisch war, führte er einen Haushalt von aristokratischem Stil, der zu einem Zentrum der Musikkultur, der Kultur überhaupt wurde. Seine acht Kinder liess er katholisch taufen und gebieterisch-herrisch von Hauslehrern nach seinen Vorstellungen erziehen, seine Söhne mit der Forderung, dass sie seinen Spuren folgten. Doch ausser Kurt, der Firmendirektor, Offizier und Truppenkommandant wurde, der sich aber gegen Ende des Ersten Weltkriegs erschoss, als seine Truppen gegen ihn meuterten, folgte ihm keiner der Söhne. Hans, musikalisch hoch begabt, emigrierte nach Amerika, sprang 1902 von einem Boot und ertränkte sich. Rudolf, der ebenfalls künstlerische Talente hatte, zog nach Berlin, wo er sich 1904 mit Zyankali das Leben nahm.

Die schweren Verluste bewegten Karl Wittgenstein, die zwei jüngsten Söhne Paul und Ludwig eine öffentliches Gymnasiums besuchen und die Laufbahn selber bestimmen zuz lassen. Paul wählte Musik, während Ludwig nicht recht wusste, was er tun sollte. Da er technisch nicht unbegabt war, wurde er in Linz am Realgymnasium eingeschrieben (zwei Jahre unter ihm besuchte Adolf Hitler die gleiche Schule, wurde jedoch wegen ungenügender Noten entlassen). In Linz fühlte  sich Wittgenstein völlig unglücklich und begann, an allem zu zweifeln. Den stärksten Einfluss übte auf ihn seine älteste Schwester Margarete – Gretl – aus, die Intellektuelle der Familie, zu welcher er die nächste Beziehung hatte, die bei Freud eine Analyse machte, sich mit Freud befreundete und diesem 1938, nach dem Anschluss Österreichs, in letzter Minute zur Flucht nach London verhalf. Über Gretl wurde Wittgenstein auch mit den Schriften von Karl Kraus bekannt, las dessen satirische Zeitschrift “Die Fackel”, kannte wohl auch dessen antizionistisches Traktat “Eine Krone für Zion”, worin Herzl als reaktionär verhöhnt wurde, mit der Begründung, dass die Juden sich nur durch bedingungslose Assimilation und durch eine mutige sozialistische Parteinahme befreien konnten. In derselben Zeit wurde auch Otto Weininger zur Kultfigur. 1902 hatte er sein von Selbsthass und Frauenhass geprägtes Buch “Geschlecht und Charakter” veröffentlicht, 1903 beging er Selbstmord. Weiniger übte auf Ludwig Wittgenstein einen enormen Einfluss aus.

Die Skepsis, die das Fundament des ganzen Wittgenstein’schen Werks bildet, hat hier, nehme ich an, ihren Ursprung. Er wurde Flugzeugbauingenieur, nahm als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teil, schrieb in Galizien hinter der Front seinen “Tractatus” und war als Kriegsgefangener in Italien interniert. Verzweifelt suchte er für sein knappes und aufwühlendes, mathematisch geregeltes Denkwerk einen Verleger zu finden. Dabei trat er mit dem Logiker Gottlob Frege und mit Bertrand Russell in Briefkontakt, trat damit in Vorbereitung seines eigenen späteren Weges. Zuerst aber wurde er Volksschullehrer in einem armen kleinen Dorf – Trattenbach – in Nieder-Österreich, versuchte, eine Art Schulreform umzusetzen, versagte in dieser Tätigkeit aber völlig und brach das Experiment ab, vereinsamt und verzweifelt. Er verzichtete auf sein gesamtes Vermögen zu Gunsten seiner Schwestern, zog für zwei Jahre nach Berlin, dann nach Manchester, vordergründig beide Male wegen des Flugzeugbaus, tatsächlich aber wegen der immer stärkeren Neigung zur Philosophie, der er schliesslich nachgab, um bei Russell in Cambridge mathematische Logik zu studieren, bis dieser seinem “Schüler” nichts mehr beibringen konnte. Cambridge wurde zu Wittgensteins Wohn- und Wirkungsort, zum Ort wichtiger Beziehungen und ständiger Fortsetzung seiner  philosophischen Suchaktion, mit kurzen Unterbrüchen – selten in Wien oder auf dem Wittgenstein’schen Sommergut in Tirol, vor allem in Norwegen, wohin er sich häufig zurückzog -, wurde auch zum Ort des prekären Exils während der Zeit der Naziherrschaft und der Bedrohung Englands.

Der eigentliche “Ort” Wittgensteins war er selbst, er bedurfte keines anderen Eigentums als jenes der Übereinstimmung mit sich selbst, keiner anderen Gewissheit als jener, die er bis zu seinen letzten Überlegungen festzuhalten versuchte: die Gewissheit, beruhend auf dem Wissen, dass er mit seinem “Ich” zurecht kam und nicht an sich zweifelte, so dass das ständige Zweifeln an dem, was ein Wort bedeutet, überhaupt möglich wurde. “Zweifelndes und nicht zweifelndes Benehmen: Es gibt das erste nur, wenn es das zweite gibt”[17], hielt er, an Krebs erkrankt, in den letzten Monaten seines Lebens noch fest. Diese Feststellung wird begleitet von Beispielen des unablässigen Fragens nach dem Sinn jedes Wortes, vergleichbar dem ständigen Erwägen des richtigen Werkzeugs im Handwerk, wo die Art des Einsatzes die Wirkung des Werks bestimmt: “Ist nicht die Frage ‘ Haben diese Worte Sinn?’ ähnlich der ‘Ist das ein Werkzeug?’, indem man, sagen wir, einen Hammer herzeigt. Ich sage ‘Ja, das ist ein Hammer’. Aber wie, wenn das, was jeder von uns für einen Hammer hielte, woanders z.B. ein Wurfgeschoss oder Dirigentenstock wäre. Mache die Anwendung nun selbst!”[18]

Liegt in dieser Aufforderung Wittgensteins Vermächtnis? – so lässt sie sich deuten. Die Art der “Anwendung” obliegt jeder Leserin und jedem Leser selbst.

Die Frage stellt sich ebenso, was bei Walter Benjamin die leidenschaftliche Benutzung und Deutung der Bedeutung der Sprache bewirkte. Inwiefern hing dies mit seiner Herkunfts- und Kindheitsgeschichte zusammen – mit seiner Geschichte?

Die Frage stellt sich, wie er zur Dichte und zur Komplexität der Bemühungen kam, die Sprache in ihrer ganzen schöpferisch-orchestralen Bedeutung, wie sie ihm bewusst war, sowie im Ausdruck jeder Art von dichterischer Komposition zu verstehen und, indem er das, was er zu verstehen dachte, so zu übersetzen, dass auch Werke von einer Sprache in eine andere verstanden werden konnten? Wie kam er insbesondere zu der ihn besetzenden Aufgabe, die Auswirkungen der Sprache auf kollektive Entwicklungen, resp. auf die Geschichte der Moderne zu untersuchen, um die Folgen der zu politischen Zwecken benutzten Sprache zu verstehen? Warum aber geschah jede Art der Untersuchung ohne Zweifel in der ihm eigenen Sprache, so dass jedes noch so kleine Benjamin’sche Schriftstück in der Fülle von Themen, die er als schreibender Denker angetragen bekam, die er aufgriff oder die für ihn von ständiger, sich fortsetzender Bedeutung waren, zu einem persönlichen Psychogramm wird? Wie erklären sich die Intensität, die Masslosigkeit und gleichzeitig die Verlorenheit Walter Benjamins?

Einzelne Angaben, wie Herkunft und Kindheit waren, findet sich beim Lesen der Aufzeichnungen, die unter dem Titel “Berliner Chronik” sowie “Berliner Kindheit um Neunzehnhundert” Erinnerungen und Überlegungen festhalten, die Walter Benjamin im vierzigsten Altersjahr zu schreiben begann, zwischen Juli und August 1932  in Ibiza, dann zwischen August und  November in Italien, in Poveromo (Marina di Massa), und die er im Spätherbst des gleichen Jahres nach seiner Rückkehr nach Berlin umarbeitete und vervollständigte[19]. Vermutlich hat er erst 1938 die Sammlung von Aufzeichnungen als abgeschlossen betrachtet – ein langes Festhalten, Verweilen und Schildern dessen, was für ihn Ursache und Vorbereitung aller Verknüpfungen war, der geheimnisvollen, anziehenden, Geborgenheit schaffenden, Neugier und Sehnsucht weckenden Zusammenhänge rund um die Mutter, ebenso die Selbstentfremdung und Abhängigkeit, die Abwehr, Gefährdung und Flucht verursachenden Bilder, verknüpft mit der unerreichbaren, ohnmachtbewirkenden Macht des Vaters –  letztlich viele jener Zusammenhänge, die er zehn Jahre vorher in aphorismenähnlichen Notizen festhielt, die er unter dem Titel “Einbahnstrasse” zu veröffentlichen wünschte.

Eine knappe Zusammenfassung von Walter Benjamins Geschichte muss genügen: Er war ein “wohlgeborenes Bürgerkind”[20], wie er selber schreib. Er kam als erster Sohn von Emil Benjamin und Pauline Benjamin geb. Schönflies am 15. Juli 1892 in Berlin zur Welt, wohin beide grosselterlichen Familien mehr als zwanzig Jahre vorher gezogen waren. Drei Jahre später wurde sein Bruder Georg, neun Jahre später seine Schwester Dora geboren. Walter Benjamins Vater, Emil Benjamin, 1866 im Rheinland geboren, gelang es, durch Kunsthandel sowie durch Geschäftsverbindungen mit grossen Firmen zu Reichtum zu gelangen. Ein grossbürgerliches Leben wurde so ermöglicht, mit allem, was dazu gehörte und was dem Kind die beginnende Inflation und die allmähliche politische Zersetzung Europas, insbesondere Deutschlands, hätte geheim halten sollten. Die Realität, wie sie war, auch wenn sie zu übertuschen versucht wurde, liess sich jedoch nicht abwenden. Der Fetisch wurde zum auferzwungenen falschen Kleid, unter dem Walter Benjamin sich selber fremd wurde[21]. Schon in der Kinderzeit muss das Unbehagen ihn zu – damals noch spielerischer – Flucht bewegt haben, vor allem zum Wissen, dass er letztlich allein war.

Dass Walter Benjamin mit vierzig Jahren – nach dem Tod seines Vaters, nach dem Auszug aus dem Haus seiner Mutter in Berlin, nach deren Tod, nach der Scheidung von seiner Ehefrau Dora (ehemals Pollak Kellner) und seinem Sohn Stefan, nach vielem mehr, was nur kurz erwähnt werden kann – sich im Zusammenhang von “Berliner Chronik” resp. “Berliner Kindheit” erlaubte, in der Ich-Form zu schreiben, was er sich sonst nur in Briefen zugestand, macht deutlich, wie sehr er der Sprache bedurfte, um den für ihn klärenden Dialog mit seiner Geschichte zu finden, ob es um ihn oder nicht um ihn selber ging, um Anderes oder um Andere. Das schwierigste “Andere” war die Gesellschaft, wie sie ihm in der Kindheit an grossen Einladungen im Elternhaus präsentiert wurde, in einem der beinah in sich abgeschlossenen Quartiere der Wohlhabenden von Berlin; der eigentlich “Andere” war die Gestalt des mächtigen und furchterregenden Vaters.

Walter Benjamins Gymnasialzeit war zum Teil geprägt gewesen durch Widerstand und Gefühle der Fremdheit, drei Jahre in Berlin in Kaiser-Friederich-Gymnasium, wo Prügel und Arrest zum System gehörten, dann durch ein Erwachen der eigenen Sicherheit während der zwei Jahre in einem Landerziehungsheim in Thüringen, wo die Theorie von Gustav Wyneckens Schulreform umgesetzt wurde und wo er das erste Mal auch als jüdischer Aussenseiter einen Platz einnehmen durfte, wo er zu einem Lese- und Diskussionszirkel gehörte und in der Schülerzeitschrift “Der Anfang” erstmals Texte publizieren konnte, doch dann erneut durch das Berliner Gymnasium am Savignyplatz, wo er erst im Frühling 1912, mit 20 Jahren, die Abiturprüfungen bestand. Beim Neukantianer Heinrich Rickert in Freiburg i.Br. begann er das Philosophiestudium; ausschlaggebend wurde der Einfluss Nietzsches, aber auch derjenige Kants, später insbesondere gestützt auf Hermann Cohen. Kontakte ergaben sich mit zionistischen Jugendorganisationen, weckten in ihm Interesse im Sinn der Vertretung eines kulturellen jüdischen Auftrags im Rahmen der europäischen Kulturen, jedoch Abgrenzung von deren politischen und gesellschaftlichen Bestrebungen. Im Zusammenhang eines aktiven kulturellen Auftrags  gründete Benjamin in Berlin einen “Sprechsaal”, um die offene, kritische Diskussion im Kreis ähnlich denkender Freunde und Freundinnen über kulturelle Fragen der Opposition gegen das bürgerliche Milieu und gegen den sich verengenden Nationalismus zu ermöglichen.  “Ich denke (nicht sozialistisch, sondern in irgend einem anderen Sinn) an die Menge der Ausgeschlossenen und an den Geist, der mit den Schlafenden im Bunde ist”, schrieb er 1913 an Carla Seligson.

Zu den aufwühlendsten Erfahrungen jener Zeit gehört der Selbstmord von Carla Seligsons Schwester Rika und von Fritz Heinle, dem jungen Dichter, im “Sprechsaal”, am 8. August 1914 nach der Kriegserklärung Deutschlands – ein Ausdruck der nicht mehr löschbaren Verzweiflung ob der Ohnmacht des Denkens gegenüber der Macht.

Im Gegensatz zu Ludwig Wittgenstein, der sich freiwillig für den Kriegseinsatz gemeldet hatte, weigerte sich Walter Benjamin nach dem Selbstmord des befreundeten Paares und wurde aus gesundheitlichen Gründen nicht eingezogen. Im April 1917 heiratete er Dora Pollak Kellner, die Tochter des Zionisten Leon Kellner aus Wien (die vorher verheiratet war mit dem Journalisten Max Pollak). Sie zogen in die Schweiz, liessen sich nach Aufenthalten in St. Moritz und Zürich in Muri b.Bern  nieder, wo im April 1918 der Sohn Stefan zur Welt kam. Walter Benjamin begann, sich mit der Untersuchung der Ursachen und Zusammenhänge des Zusammenbruchs der bürgerlichen Gesellschaft zu befassen, auch zunehmend mit metaphysisch-gottsuchenden Fragen der Romantik, immer wieder mit Fragen der Sprachphilosophie und der Kunst. Im Zusammenhang der Zeitfragen wurden Freundschaftsbeziehungen mit regem wissenschaftlichem Austausch zunehmend wichtiger: mit Georg Lukacs, mit Ernst Bloch, mit Gershom Sholem, der den Sommer 1918 bei den Benjamins in Muri b. Bern verbrachte und mit dem er – spasseshalber –  die Universität Muri gründete. Nach Bestehen der Doktorprüfung, im Winter 1919/20, zog er mit Frau und Sohn nach Österreich, lebte in Wien, arbeitete weiter am “grossen Problemkreis Wort und Begriff (Sprache und Logos)”, blieb in finanzieller Hinsicht weiterhin abhängig von seinem Vater, da er als “Privatgelehrter” arbeiten wollte und sich weigerte – in dieser Hinsicht ähnlich wie Wittgenstein – eine Berufsausübung nach väterlichem Modell zu beginnen. Infolge der Inflation  kam es zum Umzug nach Berlin in die elterliche Villa, zum Zerwürfnis mit dem Vater, zu Habilitationsplänen, gleichzeitig zum Beginn des Hebräischstudiums, das er wieder abbrach, auch zum Beginn der Übersetzung von Baudelaire’s “Tableaux Parisiens”, sodann zur Herausgabe einer Literaturzeitschrift, die “Angelus Novus” hiess[22]. In der ersten – und einzigen – Nummer veröffentlichte Benjamin seinen Aufsatz über “Die Aufgabe des Übersetzers”[23]. Immer ausgeprägter bedeutete die Sprache für Benjamin Übersetzung:  Übersetzung seiner zugleich sprachphilosophisch-zeitkritischen, dichterisch-theologischen und kunstorientierten persönlichen Erkenntnis: “Unenthüllbar ist nur die Natur, die ein Geheimnis verwahrt, so lange Gott sie bestehen lässt. Entdeckt wird die Wahrheit im Wesen der Sprache”.

Obwohl mit dem Erscheinen einzelner Essays Benjamins Bedeutung als Denker anstieg, blieb er ständig in materieller Not, instabil zwischen den Städten reisend, ständig schreibend, neben zahlreichen Reflexionen über Werke anderer Denker an einer geplanten Habilitation, die infolge des zunehmenden Antisemitismus nicht zustande kam, mit Studierenden in intensivem Austausch, so mit Wiesengrund-Adorno, später mit Max Horkheimer, ein langer Aufenthalt in Capri, die Arbeit an den Zusammenhängen des Trauerspiels, dieser “tollsten Mosaiktechnik, die man sich denken kann, ein Spiel von Traurigen, denen auf der Bühne der katastrophale Verlauf ihrer eigenen Geschichte und der der Weltgeschichte vor Augen geführt wird”, eine neue Liebe[24], eine lange Reise auf einem Frachtdampfer von Norddeutschland nach Spanien, Übereinkunft mit einem Verlag, Marcel Prousts grosses Werk “Sodome et Gomorrhe” zu übersetzen, ruhelos unterwegs, schliesslich ab 1926 Beginn des Lebens in Paris, ohne feste Sicherheit, fasziniert von der Stadt, von der Arbeit des sprachlichen, örtlichen und zeitkritischen Erforschens, der Begegnungen und Gespräche, Ort der Intensität und der Faszination, wo die Arbeit an dem von ihm geplanten “Passagen”-Werk. im Zusammenhang einer neuen Geschichtstheorie über das 19. Jahrhundert  begann und sich bis zum Lebensende fortsetzte. Ständig in einem schwierigen Verhältnis mit der Frankfurter Schule, mit der “Frankfurter Zeitung” und mit anderen Redaktionen – allmählich in einem Zustand immer stärkerer psychischer Belastung, Ohne das Festhalten an sich selbst über die Sprache an dem, was sein “linkes Aussenseitertum” bedeutete, worin sich sein Denken und seine Empfindungen zusammenballten und was über das Schreiben zur Ich-Bestätigung wurde, muss angenommen werden, dass er sich verloren hätte.

Als mit der sich verschärfenden nationalsozialistischen Entwicklung in Deutschland – aber auch in Frankreich und überall in Europa – die existentielle Zuspitzung immer klarer wurde, richtet er vergeblich einen Hilferuf an Gershom Scholem, für ihn im damaligen Palästina eine Erwerbs- und Lebensmöglichkeit zu schaffen, und ebenso wenig setzten sich Adorno und Horkheimer für ihn ein, damit ihm mit Hilfe einer Einladung ans New Yorker Institut ein Visum in die USA ermöglicht worden wäre. Seine Schwester Dora hatte sich zu ihm nach Paris geflüchtet und wurde schwer krank; sein Bruder Georg, ein engagierter Arzt und Kommunist, wurde schon 1933 in “Schutzhaft” abgeführt und vier Jahre später in Mauthausen ermordet. Allein die Sicherheit seiner von ihm geschiedenen Frau Dora und seines Sohnes Stefan, die sich über Italien nach London hatten flüchten können, stand nicht in Frage. “Ich lebe in Erwartung einer über mich hereinbrechenden Unglücksbotschaft”, hielt er im April 1939 fest, arbeitete jedoch weiter an der Übersetzung der Baudelaire-Gedichte und an der Neustrukturierung seines grossen Passagen-Werkes, schliesslich an seinem Essay “Über den Begriff der Geschichte”, der zu einer Art Testament wurde.

Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 wurde Benjamin in einem Sammellager in Nevers interniert, jedoch dank der Intervention von Freunden – unter ihnen Jules Romain – Ende November wieder entlassen. Als aber im Mai 1940 die deutschen Truppen über Holland und Belgien in Frankreich einmarschierten, war keine Sicherheit mehr gewährleistet; er floh er mit seiner Schwester nach Südfrankreich. Die Manuskripte zum Passagenwerk hatte er Georges Bataille übergeben, andere Aufzeichnungen Hannah Arendt überlassen, die mit ihrem Mann Heinreich Blücher ein Visum für die Flucht in die USA hatte, dank der Intervention des ersten Ehemannes Günther Anders. Zahlreiche Manuskripte blieben in seinem Zimmer zurück. Was Walter Benjamin in einem Koffer mit sich schleppte, als er mit einer Gruppe von Flüchtlingen versuchte, unter der Führung von Lisa Fitko über die Pyrenäen nach Spanien zu gelangen, kann nicht entschlüsselt werden. Der Koffer ging verloren. Spanien wies die Flüchtlinge zurück, die über kein französisches Ausreisevisum verfügten. Walter Benjamin mochte nicht mehr weiter, konnte nicht mehr weiter. In der Nacht vom 26. /27. September 1940 nahm er sich im Grenzort Port-Bou mit einer Überdosierung Morphium das Leben. Ein Grab von ihm gibt es nicht.

(4) Befunde: Sprache als je eigener existentieller Massstab

Es war die Sprache, die für Wittgenstein und für Benjamin letztlich das Lebensferment bedeutete: zugleich stärkende Nähe im Rückzug zu sich selbst und Ausweg aus der Einsamkeit ins Sprechen über das Schreiben. Bei beiden war der Weg in die Sprache verbunden mit dem Weg über andere Sprachen zur eigenen Sprache, zuerst Wege der Suche nach der eigenen Identität infolge der Verlorenheit in der Kindheitsgeschichte, des Nicht-Verstehens und Nicht-Verstandenseins in der sprachlichen Fremdheit der Familie, in welcher – bei beiden[25] – die übermächtige Vaterfigur den Ton und das Schweigen bestimmte. Keine Identifikation mit dieser Vaterfigur war möglich: nicht bei Wittgenstein, dem jüngsten von acht Kindern, für den der Verlust von drei Brüdern durch deren Selbsttötung auf unklare, jedoch irgendwie nachfühlbare Weise mit deren Nichterfüllung der Verbote des allmächtigen Herrschers, resp. mit der Nicht-Tragbarkeit des männlichen Anders- und Besondersseins verknüpft waren; nicht bei Benjamin, dem erstgeborenen Sohn, der unter dem Übermass von Erwartungen an ihn als männlichem Vorbild das Streben nach Gleichschritt mit dem Vater hätte beweisen sollen, was jede Erfüllung von Geboten – selbst das Lernen – in Frage stellte.

Ausschlaggebend für die Verbote und Gebote in den zwei unterschiedlichen, aber trotzdem vergleichbaren Familienstrukturen war der Anpassungsdruck an die kapitalistisch-bürgerliche Gesellschaft, das Hintanstellen oder gar Leugnen der jüdischen Herkunftsgeschichte mit dem von Mythologien geprägten Traditionszusammenhang im Jahresablauf und in der Alltagsgestaltung. Vergleichbar war das Übertönen der Muttersprache durch die Vatersprache. Für Wittgenstein blieb das weiblich emotionale Tonregister im Erleben der ihn verstehenden, fürsorglichen Nähe seiner Schwester Margarethe gesichert, die älter war als er, unabhängig und selbstständig, die etwas Unerreichbares darstellte.  Benjamin dagegen erlebte es in der Zärtlichkeit seiner Mutter, die machtlos war, die aber in den Tagen und Abenden seiner zahlreichen Kindererkrankungen in seiner Nähe sass und ihm mit leise klingender Stimme Geschichten erzählte, eine Nähe, die immer wieder abgebrochen wurde und die mit dem Erwachsenwerden unstillbar als Hunger in ihm blieb.

So mag sich erklären, was Wittgenstein und was Benjamin bewog, die Sprache als das Land zu bewohnen und zu benutzen, das ihren Namen trug. Grosse Zurückhaltung, Scheu und Sorgfalt bei Wittgenstein, der – an das Schweigen gewohnt – sich durch die Klärung jedes Wortes zuerst ein Ordnungssystem schaffen musste, mit welchem er, analog zum Vorgehen in der Mathematik, einverstanden sein konnte, da er dem ersten Gebot der Übereinstimmung gerecht werden musste, allmählich jedoch nicht mehr gleich den Massstäben der abstrakten Struktur der Logik, nicht mehr ausschliesslich gemäss Regeln strenger Knappheit, sondern entsprechend jenen der musikalischen Komposition, deren Umsetzung über Instrumente, über menschliche Stimme und über das Pfeifen, wie Wittgenstein es verstand, eine symbiotische Übereinstimmung von Intellekt und von Gefühlen erreichen liess – jenes Spiel, das dem musikalischen Konzertieren wie dem “Sprachspiel” entsprach, zu dem er immer ausgeprägter überging, und das ihm Sinn bedeutete. Für Wittgenstein war klar, dass Flucht allein nicht genügte, wie die Tragik des Selbstmords seiner Brüder Hans und Rudolf bewies, dass auch Anpassung an gesellschaftliche Forderungen nicht genügen konnte, da auch Kurt, der Bruder, Truppenkommandant geworden war, das Leben nicht mehr ertrug und sich selber den Tod gab. Um zur Übereinstimmung mit seinem eigenen Ich zu gelangen, musste er zu seinem eigenen Ordnungssystem finden, zu seiner Grammatik: zum Verstehen und zum Übersetzen in Sprache dessen, was “Subjekt” heisst, was den Zeitzusammenhang beim Verb sowie die Bezugs- und Falllage jedes Objekts bestimmt, so dass eine Sicherheit in der Beziehungsstruktur mit dem eigenen Ich, mit jeder anderen Beziehung und mit der Zeit – der inneren subjektiven Zeit und dem Zeitgeflecht der Geschichte –  zustande kommt. Für Ludwig Wittgenstein wurde die Sprache zum Überlebenshalt in der Kriegszeit, die er als Soldat und als Gefangener erlebte, dann zum Genesungsprozess seiner selbst, den er sich zugestand, als er beschloss, sich nach England zurückzuziehen, erst vorsichtig zögernd über die Logik, dann sorgsam kontrollierend über den dialogischen Diskurs, der Sprachspiel bedeutet, mit einer nie ermüdenden, nie abbrechenden Fortsetzung des Fragens und des Erprobens von Antworten, allmählich in der Verbindung von Regeln und von Lust, welche die kreative Kraft der Skepsis begleitet – Eros im Wittgenstein’schen Sinn.

Bei Benjamin wurde die Sprache zum Fluchtland schlechthin, ein von Bildern und Klangregistern, von Wurzeln und Steinen durchsponnenes und überwuchertes Land, das sich ihm zunehmend als dichter und besetzter erschloss, je mehr er davon erfasste und besass. Ganz anders als Wittgenstein unterzog er sich nicht dem Gebot der strengen Beschränkung seiner Schritte und Wege, sondern öffnete sich mit der Sprache Türen zu den verborgenen –zeitgeschichtlich nicht konformen – Geschossen und Räumen seiner quälenden Sehnsucht nach dem erfüllenden Eintreten in die Geschichte und zugleich in die nie erlebbare Zukunft – letztlich in Heimat und Ziel seines herumirrenden Ichs.  In allen Zusammenhängen, die Benjamin im Benutzen seines Sprachlandes zum Erkunden und zum Erklären unternimmt,  besetzt er es mit den Spuren seiner Traurigkeit, spürbar sich verirrend in seiner Versessenheit auf der Suche nach dem Ton der Muttersprache, die er ahnt, die er immer wieder zu finden meint und nicht zusammenbringt. Ist es der Dialog mit dem absenten Volk im Land, in welches er sich geflüchtet hat? –  mit der absenten Liebe der Geliebten, die immer wieder verloren geht? – mit der besetzenden Namenlosigkeit, die Messias genannt wird und welche Zukunft darstellen soll, weder weiblich noch männlich? – letztlich mit der absenten Sicherheit seines eigenen Ichs in der Verzweiflung der monologischen Suche nach dem dialogisch übereinstimmenden, eigenen Du?

Als Benjamin in der Sommerhitze von 1940 Paris verlassen musste, nach Südfrankreich gelangte, den Nachtweg – um aus Frankreich zu fliehen – über die Pyrenäen nach Spanien kaum zustande brachte, von Spanien nicht angenommen wurde, da wurde er zum Greis, sprachlos. Keine Aufzeichnung blieb von seinen letzten Gedanken. Oft hatte sich damit befasst – mit dem, was Ende und zugleich Anfang heisst. Im April/Mai 1932 hielt er in der “Ibizenkischen Folge” fest: “Es gibt bei den Chassidim einen Spruch von der kommenden Welt, der besagt: Es wird dort alles eingerichtet sein wie bei uns. (…) Alles wird sein wie hier, nur ein klein wenig anders. So hält es die Phantasie. Es ist nur ein Schleier, den sie über die Ferne zieht. Alles mag da stehen wie es stand, aber der Schleier wallt, und unmerklich verschiebt es sich darunter.” Im Anhang zu einem seiner letzten Texte “Über den Begriff der Geschichte”, noch 1940 geschrieben, hielt er sich an den Bogen seiner jüdischen Herkunft,  gemäss welchem Lebensbeginn und Tod anzunehmen sind in der Unerforschbarkeit, denn “jede Sekunde war (ist) die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte (kann)”.

So mag deutlich werden, dass es in Benjamins Werk kaum eine Abgrenzung zwischen Dichtung, Erzählung  und Philosophie gibt, im Gegenteil. Es ist eine Verschichtung im Suchen nach Erkennen und Wissen, die an mythologische Theologie erinnert: ein Fragen und Erkunden, ein Deuten und Bekennen, als sei die Sprache für ihn immer Übersetzung des in Psyche und Intellekt mit dem Menschlichen durchmischten Göttlichen.

Bei Wittgenstein blieb, was er kurz vor seinem Tod aufzeichnen konnte, im Band “Über Gewissheit” gesammelt. Nach all dem, was blieb, quälte ihn keine Verzweiflung angesichts der sich beschleunigenden Nähe des Todes, ohne dass wir in allem wissen, was war. Nach wie vor befasste er sich mit der Frage, was wirklich gesagt werden kann, ohne dass ein Irrtum möglich ist. “Ist es nicht schwer zu unterscheiden zwischen den Fällen, in denen ich mich nicht, und solchen, worin ich mich schwerlich irren kann?  Ist es immer klar, zu welcher Art ein Fall gehört? Ich glaube nicht”[26], und er liess Beispiele folgen. Auch was er in den letzten Tagen und Stunden seines Lebens geäussert hat, wurde aufgezeichnet. Bevor er ins Koma fiel, sagte er der Frau seines Arztes, die bei ihm wachte, sie solle den Freunden, die am nächsten Tag eintreffen würden, sagen, “er habe ein wundervolles Leben gehabt”[27]. Wenige Tage vorher hatte er einem der guten Freunde gegenüber bemerkt: “Es ist seltsam – obwohl ich weiss, dass ich nicht mehr lange leben kann, denke ich nicht an ein ‘künftiges Leben’. Alle meine Interessen sind nach wie vor mit diesem Leben und mit dem verbunden, was ich noch schreiben kann”[28]. So waren Ruhe und Klarheit, nach welcher Wittgenstein seit seiner Jugend gestrebt hatte, seine letzte Aussage.

Für Wittgenstein wie für Benjamin gilt, dass bis zuletzt in der Zeit und Geschichte die Besonderheit des Menschseins Ausdruck in der Sprache findet – bis zum Verlassen des Lebenslandes, bis zum Verstummen. Auf Teile des Werks der beiden Denker einzugehen wird wieder über die Sprache geschehen, mittels Übersetzen in die eigene Sprache dessen, was von Wittgenstein und von Benjamin in deren Sprache festgehalten wurde, so dass sowohl der Dialog mit den zwei Denkern, das Verstehen dessen, was sie in Sprache festgehalten haben wie der Austausch des Verstehens möglich wird – und Sinn macht.

Vorbereitung des 2. Abends[29]:

Lektüre

  • Wittgenstein: Vorwort Tractatus logico-philosophicus (ev. Ergänzung durch Teil meiner Vorlesung “Kindheit – dunkler Erdteil”/Kindheitssprache)
  • Benjamin: Über die Sprache

3. Abend

Am 2. Abend  ergab sich eine Art Widerstand gegen Wittgensteins Vorwort zum “Tractatus” und gegen Benjamins Aufsatz “Über die Sprache”.  Bei der Besprechung verwies  ich auf die Tatsache,  dass diese Werke Anfangswerke der beiden Denker sind, entsprechend deren psychischen Verfassung:

bei Wittgenstein des enormen Zweifels an allem, was von vaterähnlicher Autorität als das richtige  erklärt  wurde  und des Bestrebens,  eine eigene  Sicherheit  zu finden und zu dieser zu stehen,  in asketischer Knappheit,  als Ausdruck der psychischen Überlebensnotwendigkeit.  Dass er im Vorwort  von den “philosophischen Problemen” spricht, weist  auf sein Verständnis von Philosophie hin,  dass er mit der Logik verbindet:  es geht um Probleme der Klarheit;

bei Walter  Benjamin zeigen  sich in dieser Auseinandersetzung vor allem die sich widersprechenden überwälzenden Gefühle  der Zugehörigkeit zur deutschen  Sprache, die trotz  der vollen  Weite  seines Wissens  und Benutzens für ihn nicht Zugehörigkeit bedeutet,  so dass er in der Sprachdeutung seiner chassidischen Sehnsucht nach der messianischen Erfüllung des Verstehens der umfassenden Geschichte,  die jede Sprache in sich träg,  Ausdruck gibt und sich zugleich  der rationalen, wissenschaftlichen Klärung von Denken  und Erkennen bedient.

Wichtig  erscheint  mir,  dass in beiden Zusammenhängen die Sprache auf der Suche nach Identität  als die zentrale Möglichkeit der Identifikatiorr'” galt;  diese wurde  zur schwierigen Aufgabe unter  dem Druck  der Assimilation in der Kindheit  und unter  der Erfahrung der lebensbedrohlichen Gewalt  des Ersten  Weltkriegs,  welcher  nicht zuletzt  infolge der unkritischen Nachahmung von Erklärungen und Parolen  durch Massen  von Menschen geschah.   Für Wittgenstein galt, über die Sprache zu überleben,  entsprechend den Zeilen  von Hugo  von Hoffmannsthal  (war Gast und Freund im Wittgenstein’schen Familienzusammenhang gewesen,  15  Jahre älter als Wittgenstein,  1929 gest.):

“Eigene  Sprache

Wuchs  dir die Sprache im Mund,  so wuchs  in die Hand  die Kette:

Zieh nun das Weltall  zu dir!  Sonst wirst du geschleift.”

Für Benjamin dagegen  war das Streben zugleich  nach Kunst und Wissen,  geplagt  von Geldnöten,  von Unruhe  und von einem Bedürfnis nach Anerkennung, der Auseinandersetzung vergleichbar,  die in den Gedichtzeilen von Alfred Wolfenstein (geb.  1888 in Halle/Saale,  gest. 1845  in Paris)  zusammengefasst wird:

“Rings kreischt  es von Ohren und Seele zerreissender Halbheit. .. Manches verwandte Können ist gesucht- aber mit der Kunst  beginnt  die Grenze. Nach  ihr fragt man immer weniger  nach, und die bessere  Wahrheit lautet:  es ist der Kunst noch einmal gestattet,  darauf zu rechnen … So ist der Archimedespunkt ausserhalb  der Geldwelt,  um die Erde zu bewegen.”

Als weiteren Schritt im Verstehen der beiden Denker  heute eingehen  auf: Wittgenstein:  Beginn  Teil I: Philosophische Untersuchungen

Benjamin:  Über  die Sprache

  1. Abend

Über das Lesen von Texten versuchen zu verstehen,  was mit den Worten, welche wir lesen, gesagt wird resp.  gemeint ist – am vergangenen Abend Beginn der philosophischen Untersuchungen  von Wittgenstein sowie Beginn des Aufsatzes über Sprache von Benjamin – ist immer verbunden  mit Übersetzungsarbeit: Übersetzung  der Wortwahl und der Satzkonstruktion, wie sie vor uns ist, in die eigene Sprache.  Im Unterschied zur gesprochenen Sprache,  in welcher jede Aussage,  selbst die knappste oder oberflächlichste,  einen Rhythmus und Ton von Lauten – einen instrumentellen und emotionalen, je nach Konsonnanten  und Vokalen – wiedergibt,  die von  einmaliger persönlicher Genauigkeit sind, somit das Verstehen erleichtern,  stellt die geschriebene resp. gedruckte Sprache etwas Starres dar,  das den Moment des Sagens in der Dauer festhält,  in der Grammatik der Satzkonstruktion geprägt ist durch generelle Regeln,  analog der mathematischen Darstellung von Denkprozessen.  Trotzdem bleibt die Wahl der Worte geprägt vom je persönlichen Bedürfnis einer Mitteilung. Deutlich wurde am vergangenen  Abend, dass durch das laute Lesen eine zusätzliche Aussage, die in den Texten ist,  geweckt werden kann: bei Wittgenstein  eine Verpflichtung  sich selbst gegenüber,  den eigenen Zweifel an der richtigen Aussage durch die unerbittliche  Suche nach der vollkommenen  Klarheit aufheben zu können.  Was er in der ersten Phase seiner Arbeit an sich selber mit der Sprache/über die Sprache unter “Logik”  verstand,  entsprach dieser Suche nach einer Methode,  den Zweifel aufheben zu können – in einer Art Wahlverwandschaft  mit Aurelius Augustinus31  (in der Rückfrage nach dem Beginn der Wahl von Worten in den “Confessiones”),  noch stärker,  scheint mir,  mit dem von unerbittlicher Skepsis in ständiger Suche nach Klarheit und Wahrheit im Verstehen der grossen Ordnungssysteme  geprägten Gottfried Wilhelm Leibniz “,  dem Zeitgenossen von Rene Descartes “,  der zusätzlich zu zahlreichen geschichtlichen Untersuchungen, zusätzlich zur “Theodizee”,  zusätzlich zu seinen “Neuen Versuchen über den menschlichen Verstand”, zusätzlich zur erstaunlichen “Monadenlehre”  sich in die analytische Untersuchung  des Bewusstseins begab, in welcher es ihm um die in verschiedenen  Schriften fortgesetztes’ Klärung dessen, was menschliche Sprache bedeutet,  ging:  um die Suche nach der “Lingua generalis” (1678 verfasst),  auf welcher er sich seit seiner “Dissertatio de arte combinatoria” befand,  ein nicht abbrechendes Untersuchen  der Bedeutung  der Buchstaben und der mit Hilfe der Buchstaben formulierbaren Sätze, letztlich des Alphabeths des Denkens,  auch er besetzt von der Frage,  ob eventuell die Aussage mit Hilfe der Mathematik die präzisere Klarheit zustande bringen würde (so in seinem  “Consilium de Encyclopedia  nova conscribendo  methodo inventoria”), bis er zur Erkenntnis der zu grossen Begrenztheit des Mathematischen  in dem, was das menschliche Leben in sich trägt, gelangte”.  In einem Kommentar,  den Leibniz zu einem Brief von Descartes an den Mathematiker  und Musiktheoretiker  Marin Mersenne”,  dessen väterlichen Berater, notiert hatte, hielt er fest:  “Obschon die Sprache von der wahren Philosophie  abhängt, ist sie nicht abhängig von dessen Perfektion. Das heisst, diese Sprache kann etabliert werden, auch wenn die Philosophie  noch nicht perfekt ist,  und im selben Mass,  in dem die Wissenschaft  der Menschen wachsen wird, wird auch diese Sprache wachsen.  Einstweilen wird sie eine wunderbare  Hilfe sein, sowohl um sich mit dem anzureichern, was wir wissen, als auch um zu sehen, was uns fehlt, und um die Mittel zu erfinden,  es zu erlangen.  Vor allem jedoch,  um die Kontroversen in den Disziplinen zu beseitigen,  die vom Räsonnement abhängen.  Denn räsonnieren und rechnen  wird dann dasselbe  sein?”.

Wittgensteins Wahl des lateinischen Titels  seines ersten Werkes,  des “Tractatus logico-philosophicus”,  spannt  quasi die Titel im grossen  Werk von Leibniz  (das noch nicht vollständig publiziert wurde)  weiter.  Sein Erkenntnisweg aus der Knappheit der zugelassenen Aussage  zur Alltagssprache und zum Sprachspiel  zu finden,  entspricht  ebenfalls der Entwicklung von Leibniz’  Denken.  Liesse  sich sagen,  dass die Übereinstimmung von Suchaktionen nicht  durch die europäischen Zeitzusammenhänge beeinflusst wird,  sondern durch die von je persönlicher Geschichte geprägten inneren Zeitübereinstimmungen,  ob es um die nicht abschliessbaren Fragen  nach der wahren Bedeutung von Zeit oder um die ebenso nicht abschliessbaren Fragen nach der tatsächlichen Wahrheit  dessen,  was durch die Sprache vermittelt wird, geht?

Eine andere Analogie  lässt sich auch zwischen Leibniz  und Walter Benjamin machen,  nicht in jenem Teil der untersuchenden Wahl von mathmatischer oder sprachlicher Aussage  dessen, was erkannt  wird und als richtig  bewertet wird, sondern in der Gleichzeitigkeit von Erkenntnisaufgabe,  die der Sprache gestellt ist,  sowohl bezüglich  der Klärung  des nicht klärbaren Zusammenhangs zwischen – einerseits  – menschlicher Geschichte in den Weltzusammenhängen,  geprägt durch die Paradoxie von ständig  erweiterter und vervielfachter,  über  Sprache vermittelter Erkenntnis sowie sich steigernder,  gewaltbesetzter Destruktivität  und  – andererseits – göttlicher Omnipräsenz oder Planung.  Diesem überwältigenden Dilemma versuchte Benjamin die Stirn zu bieten  (diesbezüglich mit Kafirn vergleichbar), ohne dabei auf genügend starken Füssen  zu stehen.  Hannah  Arendt,  die Benjamin in der Zeit in Paris nahe stand, von seiner leidenschaftlichen und verzweifelten Suche nach Wissen,  aber auch nach einem Platz  auf der gepeinigten Welt berührt,  die einen Teil seiner Werke  mit sich auf der Flucht  aus Europa  nach New York trug und dort veröffentlichte,  sie ging auf sehr emotionale Weise  auf einen Teil seiner Aufzeichnungen ein. Für sie gab es keine Differenz in der Qualität  des Denkens,  wenn die Suche nach der richtigen Übersetzungen dessen,  was aus der Fülle von Geschichte,  die im Menschen haftet,  und der Fülle von Fragen,  die in der Zeit, in der das Leben  der Vergänglichkeit ausgesetzt ist,  in philosophisch-wissenschaftlicher oder in dichterischer Sprache zum Ausdruck gebracht wird. Diese Einzigartigkeit der Suche nach eigener,  persönlicher Übereinstimmung von geschichtlichem und lebendigem Leben  in  Sprache,  die sich im gesamten Benjamin’schen Werk findet,  mit zunehmender Klarheit,  ist letztlich die Bedeutung von dem, was “Über- Setzung”  beinhaltet.

Was bedeutet Übersetzung? Grundlage  und Grundhaltung der Kommunikation (wird Thema des 5. Abends sein).

 

Wittgenstein:  eingehen  auf  “Tagebücher 1914 – 16”, Vorlesungen: Cambridge 1930: Übereinstimmungen?

Benjamin:  eingehen  auf Übersetzen / Baudelaire

  1. Abend

Wir gehen den Fragen nach,  in deren Zusammenhang  die Sprache zugleich als die handelnde Kraft oder Funktion des Denkens  u n d  als die “behandelte”  Sache erfasst wird:  in der Bedeutung und Funktion der Subjekthaftigkeit der Sprache und der Sprache als Objekt.  Wie ich am vergangenen Abend angekündigt habe,  meine ich dabei die Bedeutung dessen, was “Übersetzung”  heisst.

Wittgenstein und Benjamin verbinden damit unterschiedliche, je eigene Aufgaben in der Auseinandersetzung  mit der Sprache. Nach meiner Deutung setzte bei Benjamin Übersetzen mit dem Schreiben ein, da er Sprache immer mit der Aufgabe- oder mit der Chance – verband,  der Komplexität  des inneren Lebens – sowohl der psychischen Prozesse wie der intellektuellen,  die mit allen körperlichen Erfahrungen, jenen der Sinne ebenso wie jenen der Sinnlichkeit direkt konnotiert sind – Ausdruck zu geben; ich werde darauf eingehen.

Bei Wittgenstein war es verknorxter.  Während vielen Jahren war die Sprache dem Gebot des Schweigens unterworfen,  wenn sie nicht als Vermittlerin logisch korrekter Erkenntnisse eingesetzt wurde. Es galt nur, was “der Fall ist”,   in der ganzen Bedeutung  des Wortes:  “Fall”- fallen  (casus -cadere). Was aktuelle Bedeutung hatte auf Grund des “Fallens”, war aus der Komplexität  der Verstrickung  “auf dem Boden”, ganz und gar real und durfte daher auch innerhalb  eines strengen Regelsystems  von Realität beachtet werden.  Eine Art Misstrauen hegte Wittgenstein  allein schon gegenüber der Klärung der Adaptation der Worte  – oder eines Wortes – an das, was im Zusammenhang  von Kommunikation  dem umgangssprachlichen, unkritischen, vom Gefühlston beeinflussten  “Nachsprechen”  entspricht. In der ersten Phase seiner sprachphilosophischen Arbeit – in der Zeit des “Tractatus” – erachtete Wittgenstein Alltagsspache als wissenschaftlich ungenügend.  Er bezeichnete sie als den Forderungen  der Logik nicht genügend, eventuell gar als unwahr:  als eine Art Naturphaenomen,  das in erster Linie die Skepsis herausfordert.  So heisst es im  “Tractatus” unter 4 .. 002:   “Der Mensch besitzt die Fähigkeit,  Sprachen zu bauen,  womit sich jeder Sinn ausdrücken lässt,  ohne eine Ahnung davon zu haben, wie und was jedes Wort bedeutet.( … ) Die Umgangssprache ist ein Teil des menschlichen  Organismus und nicht weniger kompliziert als dieser.  Es ist menschenunmöglich,  die Sprachlogik aus ihr unmittelbar zu entnehmen.  Die Sprache verkleidet den Gedanken.  Und zwar so, dass man nach der äusseren Form des Kleids nicht auf die Form des bekleideten  Gedanken schliessen kann; weil die äussere Form des Kleides nach ganz anderen Zwecken gebildet ist als danach,  die Form des Köpers erkennen zu lassen(37).

Das, was Wittgenstein  in jener Zeit unerbittlich suchte, war die täuschungsfreie philosophische Klarheit.  Jede Art von Aussage,  die nicht den Regeln der Logik genügt,  stellte er – buchstäblich – in Frage.  Während Jahren bestand in dieser bedingungsschweren kritischen Abgrenzung ein Überlebensschutz gegen das Nachsprechen  autoritär vorgegebener “richtiger” Sätze, falscher Aussagen und verhängnisvoller  “Weltansichten”.  Es war etwa ab dem Jahr 1929,  als er in Cambridge (England) zuerst als Research Student,  dann als Fellow im Trinity College,  schliesslich zehn Jahres  äter als Ordinarius (in der Nachfolge von George Edward Moore, allerdings ab  1940 bis 1944   auch als medizinischer Helfer in Krankenhäusern)  arbeitete, mit zunehmender Übereinstimmung mit sich selbst.

Die  “Philosophischen Untersuchungen”, die in jener Zeit entstanden und die er nach 16 Jahren als abgeschlossen betrachtete, machen deutlich,  dass Wittgenstein  zur Erkenntnis gelangte,  dass die Regeln der Logik allein nicht genügen, dass die Eingrenzung  von Sprache durch diese engen Regeln auch das Erkennen und Verstehen,  das Denken überhaupt eingrenzt oder gar lähmt.  (Die Denkarbeit der Zwischenjahre – zwischen “Tractatus”  und “Philosophischen Untersuchungen”  – finden sich in der von Rush Rhees  1969 erstmals veröffentlichten “Philosophischen Grammatik”).

Wittgenstein öffnete sich in Cambridge den Weg in die Vielfalt von Sprache.  In den “Philosophischen Untersuchungen, unter Absatz 124.  hält er fest:  “Die Philosophie  darf den tatsächlichen  Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten,  sie kann ihn am Ende also nur beschreiben.  Sie kann ihn auch nicht begründen.  Sie lässt alles, wie es ist.  Sie lässt auch die Mathematik wie sie ist,  und keine mathematische Entdeckung kann sie weiterbringen ( … )”.Unter  125.  fährt er fort:  “Es ist nicht Sache der Philosophie,  den Widerspruch  durch eine mathematische,  logisch-mathematische Entdeckung  zu lösen.  Sondern den Zustand der Mathematik,  der uns beunruhigt, den Zustand  v o r  der Lösung des Widerspruchs, übersehbar zu machen.  (Und damit geht man nicht etwa einer Schwierigkeit aus dem Weg). Die fundamentale  Tatsache ist hier:  dass wir Regeln,  eine Technik,  für ein Spiel festlegen, und dass es dann, wenn wir den Regeln folgen,  nicht so geht, wie wir angenommen hatten, Dass wir uns gleichsam  in unseren eigenen Regeln verfangen.  Dieses Verfangen in unseren Regeln ist, was wir verstehen,  d.h.  übersehen wollen.  Es wirft ein Licht auf unseren Begriff des Meinens. Denn es kommt alles in jenen Fällen anders,  als wir es gemeint, vorausgesehen, hatteri.  Wir sagen eben,  wenn z.B.  der Widerspruch auftritt:  ‘So hab’ ich’s nicht gemeint’. “(38)

Wittgenstein  ist seiner selbst nun so sicher,  dass er nicht mehr behaupten muss,  er erkenne über seine Erkenntnis   die Wahrheit schlechthin.  Er kann eingestehen,  dass die Sprache immer einer individuellen Bedingtheit von “richtig”  oder “falsch”  entspricht,  dass diese aus dem Erlernen  der Sprache in der “Muttersprache”  heranwächst, vom vielfältigen sinnlichen Erfahrungsregister  und von den Gefühlen mitbeeinflusst wird.   “Das vertraute Gesicht eines Wortes, die Empfindung,  es habe seine Bedeutung in sich aufgenommen,  sei ein Ebenbild seiner Bedeutung – es könnte Menschen geben,  denen das alles fremd ist.  (Es würde ihnen die Anhänglichkeit  an die Worte fehlen).  – Und wie äussern sich diese Gefühle bei uns? – Darin wie wir Worte wählen und schätzen.  Wie finde ich das richtige Wort? Wie wähle ich unter den Worten? Es ist wohl manchmal, als vergliche ich sie nach feinen Unterschieden  ihres Geruchs:  dies ist zu sehr … ,  dies zu sehr … – das ist das richtige.  Aber ich muss nicht immer beurteilen,  erklären,  ich könnte oft nur sagen:  ‘Es stimmt einfach noch nicht’.  Ich bin unbefriedigt,  suche weiter. Endlich kommt ein Wort:  ‘Das ist es?. Manchmal kann ich sagen, warum. So schaut eben hier das Suchen aus, so das Finden”.

In dieser offenen,  sich vorweg wieder erneuernden Vermittlung von Sprache als Ausdruck von Meinen, Empfinden, Fühlen, Fragen,  Vermuten, Prüfen, Erklären, Benennen, Vergleichen, Befehlen etc.  etc.  -, in dieser Mannigfaltigkeit von Worten, die mit bestimmten Inhalten und Zwecken übereinstimmen  (oder nicht oder ungenügend übereinstimmen),   und von Sätzen versteht Wittgenstein, was er als “Sprachspiel”  bezeichnet.  So unter Absatz 23: “Das Wort ‘Sprachspiel’  soll hier also hervorheben,  dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit,  oder einer Lebensform”.

Ab nun ist für Wittgenstein  die Untersuchung  der Sprache lebensnah.  Mit dem Bild des “Spiels”  wird die Sprache in ihrer Vielfalt zur Übersetzung  der vielfältigen inneren wie der äusseren Lebendigkeit.  Unter Absatz 66 vergleicht er Spiele, die in ihrer Unterschiedlichkeit die gleiche Bezeichnung  haben: Brettspiele, Kartenspiele,  Kampfspiele,  Schachspiele, Reigenspiele  u. a. m. Dann unter Absatz 67:  “Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren  als durch das Wort ‘Familienähnlichkeiten’;  denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen  Ähnlichkeiten,  die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs,  Gesichtszüge, Augenfarbe,  Gang,  Temperament etc.  etc. Und ich werde sagen; die ‘Spiele’ bilden eine Familie. “(39)

Wittgenstein lässt die Klärung der Bedeutung von “Spiel”  nicht mehr los.  “Wie ist denn der Begriff des Spiels abgeschlossen?”  fragt er weiter.  “Was ist noch ein Spiel und was ist keines mehr? Kannst du die Grenzen noch angeben? Nein. Du kannst welche ziehen:  denn es sind noch keine gezogen.  (Aber das hat dich noch nie gestört, wenn du das Wort ‘Spiel’ angewendet hast)”.

Interessanterweise  wird mit dem Wort “ziehen”,  das kursiv gedruckt ist,  das, was unter “Erziehung”  verstanden wird, nun zum eigenverantwortlichen  Massstab oder Werk erklärt.  So geht der Dialog leidenschaftlich und zugleich spielerisch weiter:  “Aber dann ist ja die Anwendung nicht geregelt;  das ‘Spiel’, welches wir mit ihm spielen,  ist nicht geregelt. – Es ist nicht überall von Regeln begrenzt; aber es gibt ja auch keine Regel dafür z.B., wie hoch man im Tennis den Ball werfen darf oder wie stark,  aber Tennis ist doch ein Spiel, und es hat auch Regeln.1140  Wittgenstein kommt auf andere Weise auf die Bedeutung von “Regel”/”Regeln”, als ihm dies im  “Tractatus”  richtig erschien.  Unter 85. hält er fest:  “Eine Regel steht da wie ein Wegweiser”. (41) Mit diesem Bild gesteht Wittgenstein ein, dass auch mit einer Regel alles offen bleiben kann,  dass selbst Zweifel,  ob die Regel richtig sei oder nicht, zugelassen sind, “Der Wegweiser ist in Ordnung – wenn er, unter normalen Verhältnissen,  seinen Zweck erfüllt”.42  Der Zweck stimmt mit jenem überein,  den Benjamin beim Übersetzen als massgeblich erachtet:  der Zweck ist,  gemäss der eigenen Identität richtig – nicht falsch – verstanden zu werden, unabhängig davon, welche Worte in welcher Sprache dazu benutzt werden.

Walter Benjamin,  der in seiner Kindheit in Berlin und als Heranwachsender  unter dem Assimilationsdruck der Zeit,  der von seinem Vater übernommen und ausgeübt wurde, in allem, was Sprache bedeutet,  Geboten und Verboten ausgesetzt war,  die mit der offiziell “richtigen”  Sprache einhergingen – in dieser Hinsicht vergleichbar mit Wittgenstein  in Wien -, trug gleichzeitig in sich die “andere”  Sprache,  die ihm als Kind, wenn er kränklich war,  von seiner Mutter vermittelt worden war,  die Sprache der Märchen und der Lieder,  die Sprache des Erzählens,  die Sprache,  die den Bildern der Phantasie zur Verfügung stehen durfte und diese Bilder in Worte übersetzte. Mit zwei unterschiedlichen,  nicht übereinstimmenden,  quasi geschlechterspezifischen Bedeutungen  von Sprache wuchs er auf – die eine als Gebot,  die andere als Geheimnis, als Sehnsucht und als Lust.   In dieser Varietät von Sinnvermittlung beinhaltete  Sprache alles, was die Bedeutung von “Übersetzen”  ist:  “tradere”  im Lateinischen heisst “übergeben, überliefern,  ausliefern”.  Die deutsche Sprache in ihrer Funktion als Mittel zum gesellschaftlichen  Aufstieg und zum wissenschaftlichen  Erfolg war ein Teil ihrer Funktion;  diesem Teil entsprechend  schrieb Benjamin schon in der Studentenzeit kurze Abhandlungen,  in welchen er aber mit seinem zeitkritischen und sprachkritischen Empfinden schon seine Besonderheit  und sein Aussenseitertum  erkennbar machte. Die Texte dieser Zeit sind eine Übersetzung  der einen Welt in die andere, eine Übersetzung der Jugend,  zu welcher er gehörte, in Werte,  die durch die Verhältnisse der Zeit in Frage gestellt waren,  auf welche er sich jedoch mit dem Rekurs auf bedeutende Literatur wie absicherte. Es war nicht das Regelsystem  der Logik wie bei Wittgenstein,  sondern jenes des europäischen Bürgertums.

“Die Jugend  ist das Dornröschen,  das schläft und den Prinzen  nicht ahnt, der naht, es zu befreien”(43),  hielt Benjamin kurz nach seinem Abitur fest,  damals  mit der Idee, eine Zeitschrift zu gründen,  in welcher  Zukunft entworfen werden könnte,  im Wissen,  um die lähmende Bedrängnis  der Gegenwart.  Um dieser Ausdruck  zu geben,  übersetzte er zwei Verszeilen aus Shakespeare’s  “Hamlet”  (von Hannah  Arendt- ohne Rekurs  auf Benjamin – Jahre später immer wieder aufgenommen):

“Die Welt ist aus den Fugen,  Schmach und Gram,

Dass ich zur Welt  sie einzurenken kam”.

Was Benjamin in der Folge  als Begründung einer “Schulreform’T’ darlegte,  im  “Dialog über die Religiosität der Gegenwart’t'” und in anderen  Texten  fortsetzte (z.B.  in  “Romantik- die Antwort  des ‘Ungeweihten”),  geschah  immer im Sinn der Übersetzung seiner Auflehnung gegen die Zeitgeschehnisse.  “Nun wissen  wir,  dass Unklarheit kein Vorwurf ist, dass noch niemand,  der Ernstes  wollte,  ein Programm für die Neugierigen und für die Skeptiker bereit hatte. Zwar mangelt  uns der ‘historische  Sinn’.  Aber doch fühlen wir uns blutsverwandt mit der Geschichte,  nicht mit der vergangenen,  sondern  mit der kommenden.  Wir werden  nie die Vergangenheit verstehen,  ohne die Zukunft  zu wollen”(46).  Benjamin war geprägt  vom messianischen Bedürfnis,  die Zukunft  über die Sprache mitgestalten zu können, über die eigene Sprache,  die als übersetzerische Potenz die Menschheitsgeschichte in sich trägt, zugleich  aber auch die schöpferisch individuelle Aufgabe bedeutet,  die persönlichen Schranken des Verstehens von dem,  was Psyche,  Intellekt und Körper bewegt,  in die zeitgenössische Öffentlichkeit hinein zu vermitteln, um sie mitzubewegen. Überlieferung bedarf der Übersetzung in neue sprachliche Form,  um nicht zu erstarren,  auch um nicht wiederholt,  sondern um verstanden zu werden.  Jeder Text,  der schon besteht  – sei es Dichtung oder Erzählung,  seien es Briefe oder Abhandlungen-, jeder  Text, der von Interesse  (inter esse) ist,  bedarf der Klärung,  der Erforschung und der neuen Vermittlung – im  Sinn des Übersetzens.  “Was wird  ‘gelöst’? Bleiben  nicht alle Fragen  des gleichen  Lebens  zurück  wie ein Baumschlag,  der uns die Aussicht  verwehrt?  Daran,  ihn auszuroden,  ihn auch nur zu lichten,  denken  wir kaum.  Wir schreiten  weiter,  lassen ihn hinter uns und aus der Feme  ist er zwar übersehbar,  aber undeutlich,  schattenhaft und desto rätselhafter umschlungen. Kommentar und Übersetzung verhalten  sich zum Text wie  Stil und Mimesis  zur Natur: dasselbe Phänomen unter  verschiedenen Betrachtungsweisen.  Am Baum  des heiligen  Textes sind beide nur die ewig rauschenden Blätter,  am Baume des profanen die rechtzeitig fallenden Blätter”(47)

Kaum zählbar  sind die Aufzeichnungen von Überlegungen zur Sprache und zur Bedeutung des Übersetzens,  auch die Aufzeichnung von Übersetzungen der Gedichte  von Baudelaire,  die Benjamin in der Zeit des Ersten Weltkriegs und anschliessend in den 20er Jahren festhielt. Das knappe Zitat  aus der “Einbahnstrasse”,  die zu den wenigen  tatsächlichen Veröffentlichungen Benjamins gehört  (im Januar  1928 im Rowohlt Verlag, Berlin,  an welchen  er durch Hoffmansthal empfohlen worden  war) wie die “Tableaux parisiens”,  aus welchen  ein Beispiel  vorliegt,  sind Belege  dieser Zeit, in welcher  Benjamin,  nun dreissig Jahre alt und mehr,  nach Anerkennung, Erfolg und genügendem Einkommen strebte, gleichzeitig nach Erfüllung seiner eigenen  Vorgaben  des Schreibens.  Es ist anzunehmen,  dass in dieser Zeit auch die – nicht datierte – Aufzeichnung über “Die Aufgabe des Übersetzers” entstand.

Walter Benjamin geht in diesem Essay auf die kaum erfüllbare Aufgabe ein,  die er mit dem Übersetzen von Texten – von Gedichten- in eine andere Sprache verbindet. Letztlich geht es dabei, meine ich, um die stete,  kaum erfüllbare Aufgabe, Treue und Freiheit zu verbinden. Benjamin weiss vom eigenen Schreiben,  dass Dichtung sich als je persönlicher Dialog des Menschen mit sich selbst entfaltet,  als Ausdruck bewegender Empfindungen  und Denkprozesse  im Zusammenhanglebens- und zeitbedingter Zusammenhänge  in Sprache,  so wie analoge innere Prozesse sich auf andere Weise – in Musik oder in Farben – äussern.  In seinem Essay “Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen”  hält Benjamin schon fest,  dass “alle Kunstformen als Sprachen aufzufassen sind”(48).  Die dichterische  Sprache jedoch ist Ausdruck der Übereinstimmung  mit dem eigenen Ich,  mit der Besonderheit  der psychischen Innerlichkeit  und der persönlichen Naturhaftigkeit:  ” …  kein Gedicht gilt dem Leser,  kein Bild dem Beschauer,  keine Symphonie der Hörerschaft”49.  Wie ist es dabei Übersetzung möglich? Für Benjamin ist klar,  dass auch Übersetzung nicht dem Publikum gelten darf, damit sie nicht zur schlechten Übersetzung wird.  “Ihr Wesentliches  ist nicht Mitteilung,  nicht Aussage.  ( … ).  Was ausser der Mitteilung in einer Dichtung steht – und auch der schlechte Übersetzer  gibt zu, dass es das Wesentliche ist – gilt es nicht allgemein als das Unfassbare,  Geheimnisvolle,  ‘Dichterische’? – das der Übersetzer nur wiedergeben kann, indem er – auch dichtet?”(50).

Übersetzen bedeutet  daher ein Neuschaffen dessen, was auf Grund besonderen Wertes einer neuen sprachlichen Form bedarf, um über die Geschichte des ursprünglichen Entstehens hinaus einen Platz in einer weiteren Geschichte zu finden. Benjamin geht dabei auf die nicht übereinstimmende  und trotzdem bestehende  “Familiengeschichte”  ein,  die mit der Sprache – und als Folge deren Trennung und Weiterentwicklung  in eine Vielfalt von Sprachen – verbunden ist,  die ein Annäherung zulässt, wenn sie nicht in Frage gestellt wird.  Annähernd gute Übersetzung bedarf des “philosophischen Ingeniums”, hält Benjamin fest:  entsprechend der lateinischen Bedeutung  des Wortes “ingenium”  eines verstehenden, erfindungsreichen Scharfsinns,  der einer naturgegebenen Fähigkeit entspricht und die zugleich mit der “philosophia” – der Liebe zur Weisheit” verbunden werden muss.  “Was für das Verhältnis von Übersetzung  und Original an Bedeutung   dem Sinn verbleibt,  lässt sich in einem Vergleich fassen:  Wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur an einem Punkt berührt und wie ihr wohl diese Berührung, nicht aber der Punkt,  das Gesetz vorschreibt,  nach dem sie weiter ins Unendliche  ihre gerade Bahn zieht, so berührt die Übersetzung flüchtig und nur in dem unendlich kleinen Punkte des Sinnes das Original, um nach dem Gesetz der Treue in der Freiheit der Sprachbewegung ihre eigene Bahn zu verfolgen”:”.  Als Beispiel geht Benjamin nicht auf seine eigene Arbeit ein,  sondern auf Hölderlins letztes Werk,  die Sophokles- Übersetzungen,  in welchen der Dichter “von Abgrund zu Abgrund stürzt, bis er droht in bodenlosen  Sprachtiefen sich zu verlieren.  Aber es gibt ein Halten”(52).  Was ist der Halt? – worin besteht er? Der Halt ist die Sprache selber – auch für Walter Benjamin der letzte Halt. (Wichtige Beispiele auch die Besprechung von Panizza sowie anderer “Irrer”).

Wittgenstein: Philosophische  Untersuchungen

Benjamin:  Übersetzen/ Einbahnstrasse/ Denkbilder:  Gut schreiben / Baudelaire-Übersetzung:  Landschaft

6. Abend:

Es ist der letzte Abend der gemeinsamen Erkundungsarbeit  im Zusammenhang  von Wittgensteins und Benjamins Fragen und Suchen nach Klarheit  im Zusammenhang  von Sprache und nach Sicherheit  im sprachlichen Vermitteln von Erkenntnis. Wir werden versuchen,  zu einem – vorläufigen – Abschluss und damit zu einer Antwort auf die Frage zu gelangen:  Was wird warum wie gesgt?

Ich nehme an,  dass bei Ihnen Fragen und Suchen sich verdichten konnten,  einerseits in Ihrer eigenen Sprachbefragung und Sprachgeschichte,  andererseits im Lesen und erneuten Lesen der Textauszüge,  die Ihnen aus dem Werk der zwei so ungleichen und trotzdem  “verwandten” Denker vorliegen.  W eiche Überlegungen  oder Fragen liegen vor? – einerseits zu den frühen Werken,  andererseits zu dem, was Erweiterung  und Verdichtung der philosophischen  Arbeit bedeutet, zu den Zusammenhängen  von “Sprachspiel” und von “Übersetzung”?

Auf einen Teil der letzten Denkarbeit von Wittgenstein und Benjamin möchte ich noch eingehen.  Bei Wittgenstein  handelt es sich zuerst um Aufzeichnungen,  die er in seinen letzten eineinhalb Lebensjahren im Zusammenhang  mit George Edward Moore’s  “Defence of common sense” – Verteidigung  des gesunden Menschenverstandes  festgehalten hatte, zum Teil ohne Datum auflasen Blättern noch 1949 geschrieben (vermutlich anlässlich des letzten Aufenthalts in Wien, wohin er am 24. Dezember nach der Prostatakrebs-Diagnose,  die einen Monat zurücklag, gereist war), zum Teil mit Datumvermerk in einem Notizheft bis kurz vor seinem Tod (der am 29. 04.  1951  erfolgte), herausgegeben unter dem Titel “Über Gewissheit” durch zwei seiner nahen Freunde (G.E.M.  Anscombe und  G.H.  von Wright; beim Ehepaar von Wright wie bei Anscombe hatte er z. T. auch während der letzten zwei Lebensjahre gelebt, als seine Krankheit  ihn bettlägrig machte und schwächte,  mit einem Unterbruch  in Wien im Winter 1949/50 und in Norwegen  im Herbst  1950).  Ob er einverstanden war,  dass die Aufzeichnungen publiziert wurden,  steht offen,  doch es ist anzunehmen,  dass Wittgenstein zugestimmt hätte.

Mir scheint,  dass in einer Aussage im Konjunktiv der Vergangenheit,  in dieser Art der Eventualität  von Wissen – …. “es ist anzunehmen,  dass Wittgenstein zugestimmt hätte”-,  das Maximum von sicherer Aussage bestand, das für Wittgenstein zustande kommen konnte. Indem er sich über zwanzig Jahre zuvor das Sprachspiel zugestanden hatte,  ermöglichte er sich, der Eventualität   von Wahrheit Ausdruck zu geben,  immer mit der Möglichkeit,  diese wieder durch eine andere Eventualität  in Frage zu stellen oder zu korrigieren. Für mich erstaunlich ist es, dass er in philosophischer  Hinsicht bis kurz vor seinem Tod im 62. Altersjahr die intellektuelle “Übersetzung”  in Worte noch ständig offen liess und dem Zweifel den Platz, den er als richtig anschaute,  einräumte. Nach wie vor galt für Wittgenstein,  dass eine Erklarung nicht wahr sein musste, weil sie in einem wissenschaftlichen  Lehrbuch  steht, sie kann höchstens einige Evidenz nachweisen (so zum Beispiel unter Nr. 600, S.  154/55), “aber sie reicht nicht weit und ist von sehr zerstreuter Art. Ich habe Dinge gehört, gesehen, gelesen”. Für ihn galt,  dass jede Annahme von persönlicher Art ist..

Das mag erklären,  dass Wittgenstein  Tatsachen,  die mit ihm selber verbunden waren – so den Krankheitszustand seines Körpers,  resp. den diagnostischen Befund des ihn behandelnden Arztes – als wahr annahm, und nicht meinte,  dass er sich eventuell täusche.  Er wusste um die Kürze der Zeit,  die ihm noch zustand,  und ertrug dieses Wissen in grosser Ruhe, wollte aber deswegen das dialogische Spiel des Denkens mit sich selbst (von der “Sache”  her mit G.E. Moore), das er aufzeichnete und so in Sprache festhielt, nicht blockieren.  Beachtenswert erscheint mir in sprachanalytischer  Hinsicht die Überlegung,  die er am 22. April 1951 notierte. Er teilt darin mit, dass selbst in persönlicher Hinsicht Vorsicht geboten sei, da immer “die Gefahr”  bestehe,  “die Bedeutung (einer Aussage) durch Betrachtung  des Ausdrucks und der Stimmung,  in welcher man ihn gebraucht,  erkennen zu wollen,  statt immer an die Praxis zu denken. Darum sagt man sich den Ausdruck so oft vor, weil es ist,  als müsste man in ihm und in dem Gefühl, das man hat,  das Gesuchte sehen”(53).  Der Bezug auf die eigene Erfahrung, gemäss welcher Empfindungen  mit persönlichem Handeln verbunden sind – mit der “Praxis”(54) in jeder Bedeutung  des Wortes,  ob im Sinn von Gehorchen oder von eigenem Entscheid -,  ist sicherer.  “Am Ende aber verlasse ich mich auf diese Erfahrungen oder auf die Berichte von ihnen, richte meine eigenen Handlungen ohne jede Skrupel danach. Aber hat sich dieses Vertrauen nicht auch bewährt? Soweit ich es beurteilen kann – ja.”(55)

Wesentlich erscheint mir,  dass für Wittgenstein Vertrauen möglich wird, letztlich Vertrauen in die sich fortsetzende, klärende Kraft der “Skepsis” – in der griechischen Bedeutung56  des Sehens und Betrachtens,  des Untersuchens und Prüfens-,  dank welcher dem Menschen immer wieder ein neues, sich erweiterndes Erkennen und Wissen zugestanden wird, letztlich ein unabschliessbares  Bedürfnis,  ohne dass der “Skrupel”,  die lähmende Kehrseite des Zweifels, sich als “spitzer Stein”  – gemäss der lateinischen Bedeutung von “scrupus’f” -,  damit als “gefährdendes” Hindernis  dem Denken entgegenstellt,  als jenes stechende und ängstlich lähmende Gefühl,  das einerseits in der Sprache religiöser Moral unter “Gewissensbissen” verstanden wird und das mit dem Zweifel an Wahrheitserklärungen,  die von diesen als absolut gültig erklärtf}’1 werden,  einhergehen kann,  das andererseits in psychoanalytischer Hinsicht den Wert des erkenntnisfähigen Ich mit beherrschenden Bedenken besetzt halten kann.

Von erstaunlicher Weisheit und konsequenter  denkspielerischer Dichte sind Wittgensteins Aufzeichnungen “Über die Farben”(58), die im Januar 1950,  damals zur Erholung im elterlichen Haus an der Alleegasse  in Wien, begannen und im Frühjahr des gleichen Jahres abgeschlossen wurden,  die also ungefähr im gleichen zeitlichen Bereich entstanden wie jene “Über Gewissheit”.  “Farben regen zum Philosophieren  an”, hatte er 1948 notiert, wie Ray Monk zitiert(59).  Diese Anregung  setzte er mit einem Kommentar  zu Goethes “Farbenlehre” um,  die,  in Fortsetzung  des Sprachspiels,  begleitet sind von zusätzlichen Überlegungen.

“In jedem ernsteren philosophischen  Problem reicht die Unsicherheit bis an die Wurzeln hinab. Man muss immer darauf gefasst sein,  etwas ganz Neues zu lernen”,  stellte Wittgenstein unter Punkt 15  fest,  eine Erkenntnis,  die er einige Monate später,  am 28. März 1950, unter Punkt 43 / 44 verstärkte:  “Man muss in der Philosophie  nicht nur in jedem Fall lernen, was über einen Gegenstand zu sagen ist,  sondern wie man über ihn zu reden hat.  Man muss immer wieder erst die Methode  lernen, wie er anzugehen ist.  – Oder auch:  In jedem ernstem Problem reicht die Unsicherheit  bis in die Wurzeln hinab.” (60)

Wittgenstein vermag gerade über die klärende philosophische  Auseinandersetzung  mit den Farben zu erkennen,  dass nicht nur  e i n e, sondern eine Vielzahl von Erkenntnissen,  als Antwort auf eine Frage formuliert,  richtig sein kann,  da es immer um eine je subjektive Erkenntnis geht,  die wiederum einer Vielzahl  von Einflüssen ausgesetzt ist,  die im Augenblick auf den Menschen wirken.  So hält er unter Punkt 213,  indem er die Farben  mit den Tönen vergleicht,  fest:  “Ein und dasselbe  Thema  hat in Moll einen anderen  Charakter als in Dur,  aber von einem  Charakter des Moll im allgemeinen zu sprechen  ist ganz falsch.  (Bei Schubert klingt  das Dur oft trauriger als das Moll).  Und so ist es, glaub ich,  müssig und ohne Nutzen  für das Verständnis der Malerei,  von den Charakteren der einzelnen  Farben  zu reden. Man denkt eigentlich dabei nur an spezielle  Verwendungen.  Dass Grün als Farbe  einer Tischdecke die, Rot jene Wirkung  hat, lässt auf ihre Wirkung  in einem Bild keinen  Schluss ab.”(61)

Letztlich vermag  Wittgenstein über die Entwicklung seiner eigenen  sprachphilosophischen Arbeit von der Logik  zum Sprachspiel,  dem in seiner Jugend  dominierenden Verbot zu sprechen,  ausser  eine – der mathematischen Gewissheit analoge  – “Wahrheit” berechtige ihn dazu, eine Zustimmung zum Sich-irren-dürfen als Antwort  zu geben,  im Sinn einer stärkenden  Korrektur,  letztlich als “Übersetzung” jener Lust  am vorweg  sich vertiefenden und erweiternden Lernen  und an einem über das Irren und Lernen  sich stärkenden Wissen  um den immensen Reichtum,  der in der Sprache angesammelt ist und der sich im gelebten Leben umsetzt.  “Dass ich eines Menschen Freund  sein kann,  beruht  darauf, dass er die gleichen  oder ähnliche Möglichkeiten hat wie ich selbst.  – Wäre es richtig  zu sagen,  in unseren  Begriffen spiegelt  sich unser Leben?   – Sie stehen mitten in ihm.  – Die Regelmässigkeit unserer  Sprache durchdringt unser Leben.”(62)

Sie mögen vielleicht spüren,  dass Wittgenstein in  der letzten Phase  seines Denkens in eine grosse Nähe zu Benjamin rückt,  zu den Möglichkeiten,  die in dessen monologischem und dialogischem Schreiben mit der ihn überwältigenden Fülle von Sprache,  von Sprachtönen und Sprachfarben,  massgeblich waren.

Damit  gehe ich über zu Walter  Benjamin,  zur letzten Phase  seiner Arbeit,  die uns (nach  den Massstäben der Herausgabe von Adorno  und Schalem)  vorliegt.  Die Frage,  die sich stellt, ist: War es Benjamin möglich,  auf eigene und trotzdem  – von der Bedeutung her – vergleichbare Weise  eine Art “Vertrauen”  zu finden in die Sinnhaftigkeit dessen,  was er mit seiner suchthaften  Suche nach Vermitteln seiner inneren  Sprache – jener  von Empfindungen, von Denken  und Erkennen – in grammatikalisch geregelte, textgebundene Sprache anstrebte? – letztlich nach sprachlichem  “Übersetzen”  von Wissen, gemäss  dem eigenen Verstehen   von Sprache?                                                                                        J e,I.>-\   � �”1.e”‘

Eine Antwort allein ist zum vornherein falsch.  Mir scheint,  dass Benjamin ab dem Jahr  1933, als das Leben  in Deutschland für ihn nicht mehr tragbar  war und er beschloss,  im Exil in Paris zu leben – zuerst  noch mit Erholungsaufenthalten in  San Remo  (19934-35  in der Herbst-  und Winterzeit sowie  ein letztes Mal am Jahresende von 1938, gemäss  einer Verabredung mit Adorno und dessen Frau  Gretel Adorno),  sowie in Ibiza und in Dänemark bei Bert Brecht in Skovbostrand (in der Nähe  von Svenborg,  1934 zum ersten Mal bis zum dritten und letzten Mal  1938) -, dass er in diesen  letzten sieben Jahren  seines Lebens  sich zunehmend als Teil eines geschichtlichen Auftrags  verstand, gewissermassen eines messianischen Auftrags,  der nicht abschliessbar war/ist,  der gleichzeitig einherging  mit einem nicht mehr messbaren Verbrauch und Verlust  an schöpferischer Kraft.

In einem kurzen Essay unter dem Titel “Erfahrung und Armut”(63),  vermutlich  1933  in Paris entstanden, beginnt Benjamin mit der Erzählung einer Fabel des Äsop, die er in der Folge zeitanalytisch deutet, zurück als Rückblick und voran als eine Art Prophetie,  nicht nur für das riesige Kollektiv der in jener Zeit lebenden Menschen,  sondern für sich selber.  Ich zitiere ein paar der Abschnitte, im Versuch,  den Essay zusammenzufassen,  da die Aussagen wie mir erscheint auch heute noch gilt:

“In unseren Lesebüchern  stand die Fabel vom alten Mann,  der auf dem Sterbebett den Söhnen weismacht,  in seinem Weinberg sei ein Schatz verborgen.  Sie sollten nur nachgraben. Sie gruben,  aber keine Spur von Schatz.  Als jedoch der Herbst kommt, trägt der Weinberg wie kein anderer im ganzen Land.  Da merken sie, der Vater gab ihnen eine Erfahrung mit: Nicht im Golde steckt der Segen,  sondern im Fleiss.  Solche Erfahrungen hat man uns,  drohend und begütigend, so lange wir heranwuchsen,  entgegengehalten:  ‘Grüner Junge,  er will schon mitrede.’  ‘Du wirst’s schon noch erfahren.’ Man wusste auch genau, was Erfahrung war: immer hatten die älteren Leute sie an die jüngeren gegeben.   (. .. ) Wo ist das alles hin? ( … ) Wer wird auch nur versuchen,  mit der Jugend unter Hinweis auf seine Erfahrung fertig zu werden?

Nein,  so viel ist klar:  die Erfahrung ist im Kurs gefallen und das in einer Generation,  die 1914-1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat.  Vielleicht ist das nicht so merkwürdig,  wie das scheint.  Konnte man damals nicht die Feststellung machen: die Leute karWerstummt aus dem Felde?( … ) Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg,  die wirtschaftlichen  durch die Inflation,  die körperlichen durch den Hunger,  die sittlichen durch die Machthaber.   ( … )

Eine ganz neue Armseligkeit  ist mit dieser ungeheuern Entfaltung der Technik über die Menschen gekommen.  Und von dieser Armseligkeit ist der beklemmende Ideenreichtum,  der mit der Wiederbelebung  von Astrologie und Yogaweisheit, Christian Science und Chiromantie,  Vegetarianismus  und Gnosis,  Scholastik und Spiritismus unter – oder vielmehr über – die Leute kam,  die Kehrseite.  Denn nicht echte Wiederbelebung  findet sich hier, sondern Galvanisierung. Man muss an die grossartigen Gemälde von Ensor denken,  auf denen ein Spuk die Strassen grosser Städte erfüllt:  karnevalistisch vermummte  Spiessbürger, mehlbestäubte  verzerrte Masken, Flitterkronen  über der Stirn, wälzen sich unabsehbar  die Gassen entlang.  ( … ) Ja, gestehen wir es ein: Diese Erfahrungsarmut ist Armut nicht nur an privaten,  sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt.  Und damit eine Art von neuem Barbarentum.”

Walter Benjamin geht auf die kontradiktorische Denkgeschichte  der Modeme  ein,  die einerseits mehr und mehr die Philosophie  in einen Turm der Abstraktion gelenkt hat, andererseits dem Kapitalismus  den breitesten Boden zugestand, er geht auf Denker ein – von Descartes zu Einstein -, die massgeblich waren und gegensätzlichen Einfluss hatten,  schildert die Literatur-,  Architektur-  und Bildgeschichte,  die dem Krieg vorangegangen  war, insbesondere die Scheinwelt der bürgerlichen  Gesellschaft,  unter deren Forderungen  seine eigene Kindheit und Jugend gepresst worden war (cf  das Photo, das ihn und seinen Bruder als Älpler zeigt). Unter dem Namen  “Gemütlichkeit”  sei vor lauter Polstersesseln und Nippesachen jedes bürgerliche Zimmer und die Menschen,  die darin lebten,  geprägt gewesen durch das Gebot “Verwisch die Spuren!”,  das Bert Brecht im “Lesebuch für Stadtbewohner” als Refrain wiederholt.

“Erfahrungsarmut:  das muss man nicht so verstehen,  als ob die Menschen  sich nach neuer  Erfahrung sehnten”,  fährt Benjamin gegen Ende des Essays “Erfahrung und Armut” fort.  “Nein,  sie sehnen sich, von Erfahrungen freizukommen,  sie sehnen sich nach einer Umwelt,  in der sie ihre Armut,  die äussere und schliesslich auch die innere,  so rein und deutlich zur Geltung bringen können, dass etwas Anständiges dabei herauskommt.  ( … ) Sie haben das alles ‘gefressen’,  ‘die Kultur’ und den ‘Menschen’ und sind übersatt  daran geworden und müde.( … ) Auf Müdigkeit folgt Schlaf,  und da ist es denn gar nichts  Seltenes,  dass der Traum  für die Traurigkeit und Mutlosigkeit des Tages  entschädigt(. .. ). Das Dasein von Micky-Maus ist ein solcher  Traum der heutigen  Menschen.  ( … )

Arm sind wir geworden.  Ein Stück des Menschheitserbes nach dem anderen  haben wir dahingegeben,  oft um ein Hunderstel des Wertes  im Leihhaus  hinterlegen zu müssen,  um die kleine Münze  des ‘Aktuellen’  dafür vorgestreckt zu bekommen.  In der Tür steht die Wirtschaftskrise,  hinter  ihr ein Schatten,  der kommende  Krieg  ( … ).”(64)

Der Pessimismus, der Benjamin prägt,  wird über Sprache vermittelt.  Über die sprachliche Fülle,  deren er sich beinah haltlos  bedient,  vermittelt er – gleichsam mit jenem  “mimetischen Vermögen”,  das er den Kindern  zuspricht im Nachvollziehen aller Wahrnehmungen,  denen sie ausgesetzt sind – die Wahrnehmung des erschreckenden Verlusts  an schöpferischer Fähigkeit,  welche  sich nach seiner Deutung  seit dem Beginn  der Menschheitsgeschichte auf die Fortsetzung des “Kanons der Sprache’f” berief,  auf jene  “Richtschnur”,  welche  einerseits über die Laute,  später über Schriftzeichen als Regeln  der Kommunikation und als Wissen vermittelt und weitergegeben wurde,  Wissen,  das er in dieser Zeit als “Hellsicht”(66)  benannte. Benjamin  selber befand  sich in einem Zustand  der Spaltung,  wie Gershom Schalem in seinen Aufzeichnungen aus jener  Zeit festhält,   zwischen  sprachtheoretischer Mystik  und marxistischer Dialektik.  In jener  Zeit,  in welcher  er nicht wusste,  wie er ein Minimum verdienen und wo er mit einem Minimum leben konnte,  schrieb er auch die Aufzeichnungen, die unter  “Berliner Kindheit”  zum Teil veröffentlicht wurden (gewidmet seinem Sohn Stefan, der in jener  Zeit als Jugendlicher dem Geldspiel  verfallen war),  er ging der Sprache anderer Schriftsteller und Denker nach – darunter  vor allem Baudelaire, Proust und Brecht, Karl Kraus und Gottfried Keller,  Julien Green, Robert  Walser  und weitere  mehr -,  meist nach eigenen Kriterien,  ohne auf die öffentliche Beurteilung zu achten, auf  bewegende Weise  auch durch Besprechung von Aufzeichnungen psychisch  “gestörter”  Zeitgenossen,  die in ihrer Tätigkeit als Richter  oder als Psychiater,  die sie ausgeübt hatten,  irr geworden waren, jedoch weiter über Sprache verfügten,  die Walter  Benjamin beeindruckte (ein Beispiel  ist der Essay über Oskar Panizza(67).

Es ist  “Über den Begriff der Geschichte'”,  einer der letzten Texte,  die Benjamin noch vor der Flucht  nach  Südfrankreich und  nach  Spanien,  schliesslich  in  den  Tod  schrieb,  der  eine  Art Testament bedeutet.  Als  ich  ihn  1977,  beim Erscheinen der  “Illuminationen”,  das  erste Mal las,  wühlte  er mich  auf – so sehr,  dass ich  ihn  immer wieder  las  und mir zum Ziel  setzte,  das ganze  Werk  dieses  in  sich  zerrissenen,   leidenschaftlichen  Denkers   in  Hinblick  auf  dieses letzte  Werk  zu verstehen.  Es  sind  18  kurze,  aphorismenartige  Teile,  die von zwei  Teilen,  die als  “Anhang”  bezeichnet sind,  abgeschlossen  werden.  Sie  gehören zusammen,  haben  aber je eine  eigene  Bedeutung.  Zutiefst  geprägt  sind  sie von  Benjamins  Bedürfnis,  das  er lange  in sich zurückhielt  und  nur tropfenweise  in  anderen  Texten  zum  Ausdruck brachte.  Es geht um das   Bedürfnis,    mit   einer    zeitanalytischen    Klärung    die   Bedeutung   des    historischen Materialismus  – unter  Indienstnahme prophetischer  messianischer Theologie  – dem üblichen Historismus  entgegenzustellen,  um  so – ohne Verzweiflung,  mit dem Ausdruck  der Hoffnung –   die   Last    der   Vergangenheit   durch    die   Möglichkeit    des   Neubeginns (in diesem Zusammenhang lag,  nach Benjamin,  der utopische Entwurf jeder Revolution) als  Bedingung der Erlösung  zu verstehen. “Die  Vergangenheit  führt einen heimlichen Index mit,  durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird.  Streift  denn  nicht uns selber  ein Hauch  der Luft,  die um die Früheren  gewesen ist?  – ist  nicht  in  Stimmen,  denen  wir unser  Ohr schenken,  ein Echo von nun verstummten?- haben die Frauen,  die wir umwerben,  nicht  Schwestern,  die sie nicht mehr  gekannt   haben?   Ist  dem  so,  dann  besteht   eine geheime   Verabredung  zwischen  den gewesenen  Geschlechtern und  unseren.  ( … ) Dann  ist  uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war,  eine schwache  messianische  Kraft  mitgegeben,  an welche  die Vergangenheit Anspruch hat.  Billig  ist dieser Anspruch  nicht abzufertigen. Der historische  Materialist weiss  darum”(69).

Benjamin  selber  ist gewissermassen der “historische Materialist”,  der um dje schwierige Aufgabe weiss.  Die Bedeutung jedes menschlichen Lebens  gilt, wie er in der “Theorie der Geschichte” unter Teil III festhält,  als Teil der “erlösten Menschheit”, in welcher  “jeder der gelebten Augenblicke zu einer citation l’ordre du jour”  wird – “welcher Tag eben der jüngste ist”(70). Mehr als diesen  “jüngsten Tag” zu benennen gibt es ausser der Vergangenheit nicht.  Unter Teil XII  bezeichnet er dann im kollektiven Sinn die Spartacus-Bewegung (von Rosa Luxemburgs Geist durchtränkt), welche “die kämpfende,  unterdrückte Klasse”  darstellte,  als “das  Subjekt historischer Erkenntnis”. Dass sie für die Sozialdemokratie “anstössig war,  lässt für Benjamin die Bedeutung klar  werden;  gleichzeitig aber führte  sie dadurch für ihn ,,das Bild der geknechteten Vorfahren”  weiter.

Für Benjamin war es irgendwie klar,  dass “der Ausnahmezustand”, in dem er und seine Zeit lebte,  die Regel  ist.  “Die Tradition  der Unterdrückten belehrt  uns darüber”,  hält er fest.  “Wir müssen  zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht”(71). Zeitgeschichtlich ging es Benjamin darum,  “den Kampf gegen den Faschismus zu verbessern. Dessen  Chance besteht  nicht zuletzt  darin,  dass die Gegner  ihm im Namen  des Fortschritts als einer historischen Norm begegnen”.  Geschichte und Zukunft,  die sich in der erschütternden Jetzt- zeit begegnen,  die immer wieder  der “jüngste Tag”  ist,  bringt Benjamin mit der Deutung des “Angelus Novus”  von Paul Klee in Verbindung,  diesem Bild, das seit 1921 in seinem Besitz ist und worin  er den “Engel  der Geschichte”  sieht.  “Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet”, in welcher unablässig Trümmer  über Trümmer  angehäuft  werden.  “Er möchte wohl verweilen,  dieToten wecken  und das!erschlagene zusammenfügen.  Aber ein Sturm weht vom Paradies  her,  der sich in seinen Flügeln  verfangen hat (. .. ). Dieser  Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft,  der er den Rücken  kehrt,  während  der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel  wächst.  Das, was wir den Fortschritt nennen,  ist dieser Sturm”.

Was versteht Benjamin unter  “wir”?

Im Sommer  1940 bedeutete “wir”  für Benjamin  seine Zeit,  bedeutete die Massen,  die dem glaubten,  sich fügten  und nacheiferten,  was von Machthabenden – von Hitler,  von Stalin,  von Mussolini  und von weiteren – gemäss  “politischer Taktik”  und “ökonomischen Zielsetzungen” als “Fortschritt”  erklärt  wurde- ob dies, wie Benjamin ausführt,  als “Fortschritt”  im Namen der Arbeit,  des Reichtums der Natur,  des Faschismus oder des Vulgärmarxismus vorgegeben wurde,  immer unter Benutzung der Technokratie und unter Ausbeutung  der gläubigen Massen.  Benjamin  erkannte  in der Erklärung  von “Fortschritt”  einen dreifachen Betrug:  die Geschichte – das, was vorher geschehen  war – wird zum Zweck des Betrugs  benutzt wie der Moment  der Jetzt-Zeit und wie auch die Zukunft.  “Die Kritik  an der Vorstellung dieses Fortgangs muss die Grundlage der Kritik  an der Vorstellung des Fortschritts überhaupt bilden”,  hielt er unter Teil XIII fest. Mit grosser Klarheit  richtete  er seine Überlegungen im dialogisch-warnenden Ton über das “wir”  an die kollektive Verantwortung bezüglich all dem, was “Geschichte”  heisst:  was vorweg  “geschieht”  und dadurch geschehen ist. “Geschichte”  im Sinn des historischen Materialismus bedeutet  Auseinandersetzung und Betrachtung der zugleich  aktuellen  und zurückbleibenden Tatsache  – mit der “Materie”,  dem “Stoff”(72) –   des Geschehens.  Damit  gewinnt jeder  Moment und, wie Benjamin in Teil XII festhält, jede  “Monade” – jede in sich bestehende, in der Persönlichkeit abgeschlossene menschliche Einheit  – eine nicht widerrufbare,  geschichtliche Bedeutung, in jedem  Augenblick der Aktualität,  der zur Geschichte wird, wie in jedem noch bevorstehenden Moment,  der Zukunft  heisst und der eventuell  zum Neubeginn  wird, eventuell  “Erlösung”  bedeutet  – ob als Erfahrung von Glück (worauf Benjamin unter Teil II eingeht),  ob als Tod.  So oder so bedeutet  Zukunft damit weder  eine “homogene”  noch eine “leere Zeit”.  Denn  in ihr war jede  Sekunde “die kleine Pforte,  durch die der Messias  treten  konnte”(73).                                                                                             (tl

Mit dieser Überlegung – in der Vergangenheitsform geschrieben, was die Zukunft betrifft – schliesst  Walter Benjamin  seine sprachphilosophische Betrachtung zum Begriff der Geschichte ab, mit welcher  er zugleich  die ihm – geschichtlich-herkunftsmässig – auferlegte jüdische und die von ihm persönlich-geschichtlich frei gewählte, wissenschaftskritische, europäische Zugehörigkeit vereint.

Benjamin schliesst  ab und überweist die Fortsetzung an diejenigen, die lesen, was er schreibt. Seine sprachkritische, autoritätskritische Arbeit,  in welcher  die gegebene  sprachliche Vielfalt,  welche  der Übersetzung der eigenen  emotionalen und intellektuellen Zusammenhängen dient wie dem dialogischen und kollektiven Austausch- wiederum  im  Sinn von Übersetzung – hatte er in allen Variationen ausgekostet und bis zur Verzweiflung benutzt. Mit der letzten Aufzeichnung,  mit welcher er ein anderes  Verstehen der zeitlich  begrenzten Abfolge von menschlichem Denken und Handeln  zu vermitteln sucht, mit dem,  was Geschichte heisst, widmet  er den schärfsten kritischen Blick  auf die fatale Machtbenutzung von “Fortschritt”. Dass  “Fortschritt”  kein Produkt ist,  weder  ein politisches  noch ein markwirtschaftliches noch ein militärisches,  sondern  letztlich nichts  als das ständig  erneuerte  “Fortschreiten”  dessen,  was in Folge  des je einzelnen und des gemeinsamen Denkens  und Handelns  in der Zeit ist, gleichzeitig eine Folge von – quasi monadenhafter – Individualität und vielseitiger, wechselseitiger Abhängigkeit,  von Macht  und von Ohnmacht  – das ist auch der heutigen Zeit bewusst.  Die Geschehnisse der jüngsten Vergangenheit,  mit dem weltweiten Aufbegehren der Jugend gegen die Erklärung der heutigen Machthaber, Krieg und nochmals  Krieg  sei notwendig,  um terrorbefreite Zukunft im Sinn des marktorientierten Fortschritts zu schaffen, haben  eine Art Fortsetzung der Benjamin’schen  Skepsis enthalten; sich in grossen Manifestationen umgesetzt,  die eventuell  weiter  wachgehalten wird.

*

Die Tatsache,  dass Autoritätsgläubigkeit in Bezug  auf “Fortschritt”  verhängnisvoller  “Irrtum” ist – bewirkt  durch den Machtmissbrauch Machthabender in deren Übermass als Subjekt und in deren Hörigkeitsbenutzung grosser Massen  von Menschen  als Objekt-,  dass dies erneut geschieht und geschehen ist,  dass aber gerade durch das geschichtliche Verstehen des Geschehens korrigierbar werden  kann, was noch nicht geschehen ist, stellt die engste Verbindung von Benjamin und Wittgenstein durch deren letzten Werke  her:  eine gegenseitig sich ergänzende Antwort  auf die Frage:  Was wird warum  wie gesagt.

[1] interessanterweise hat das lat. Wort “littera” – Buchstabe – auch die Bedeutung von Brief und ist in dieser doppelten Bedeutung z.B. im Französischen erhalten geblieben. Das Zeichen ist somit mit dem Schreiben verknüpft: Buchstabe ist Synonym von Schriftzeichen.

[2] Bedeutung resp. Übersetzung der indogerm. Silbe “my”-/”mou”-, die in vielen Begriffen erhalten blieb: Mythologie, Mystik, Muse, Mut etc.

[3] gr. “theorein” – anschauen, betrachten

[4] gr. “etymologia” – in/von derselben Bedeutung, abgeleitet von “etymos, eteos” – wirklich, wahr, sowie von “logos”- Wort, Lehre, Kunde / “legein” – sagen, sprechen, erklären

[5] gr. “semeiotikos” – bezeichnend, zu “semeiein”, semainein” – bezeichnen, zu “semeion, sema” – Zeichen

[6] lat. “lingua” – Zunge, das Reden, Sprache. Von der Bedeutung her  untersucht Linguistik die Sprache als ein System von relativen Werten, die bestimmten Regeln folgen und sich so in einem wechselnden, schwebenden Gleichgewicht halten (cf. Ferdinand de Saussure).

[7] gr.  “onoma/ gen. onomatos” – Name, Bezeichnung ; “logos” cf. (5)

[8] gr. “grammatike” –  analog ABC, Anfangsgründe, Anfangskenntnisse, zu “grammatikos” – sprachliche Anfangskenntnisse, besitzend, des Lesens und Schreibens kundig, zu “gramma/Gen. grammatos” – Schriftzeichen, Schrift, zu “graphein” – schreiben

[9] gr. “logos” cf. (5)

[10] gr.”paideia” – Erziehung, Unterricht, zu “paideuein” – erziehen, unterrichten, zu “pais Gen. paidos” – Kind

[11] gr. “therapeia” – Behandlung, Wartung, Pflege, zu “therapeuein” – behandeln, pflegen, für jemanden sorgen, zu “therapon” – Pfleger, Diener

[12] lat. “litteratura” – das Geschriebene, die Schrift, die Buchstabenfolge, Sprachunterricht, Sprachkunst, zu “litera/littera pl. litterae – schriftliche Aufzeichnungen, Schriftstücke, Schriftwerke. (“lis/litis” entspricht merkwürdigerweise dem völligen Nicht-Verstehen resp. dem Streit).

[13] gr. “poiesis” – Tun, Machen, Hervorbringen, Schaffen, bez. das Dichten, Dichtkuns, zu “poiein” – tun, machen hervorbringen, bez. dichten

[14] gr. “sym”- zusammen / “phonein” – tönen, schallen

[15] erschienen 1953, zwei Jahre nach Ludwig Wittgensteins Tod

[16] Genaue biographische Angaben bei Ray Monk “Wittgenstein. Das Handwerk des Genies”. Verlag Kett-Cotta, Stuttgart 1992. (Übersetzung von Ludwig Wittgenstein. The Duty of Genius. Onathan Cape Ltd. London / The Free Press, New York 1990), sowie bei Allan Janik & Stephan Toulmin. Wittgensteins Wien. Carl  Hanser Verlag, München/Wien 1984. Übersetzung von: Wittgenstein’s Vienna. Simon and Schuster, New York 1973).

[17] Nr. 354 in “Über Gewissheit”

[18] ibid. Nr. 351

[19] Angaben zu diesen Aufzeichnungen erlaubte sich Walter Benjamin sowohl im Briefwechsel mit Adorno wie in jenem mit Gershom Scholem, jedoch vor allem in Zusammenhang mit seinen Enttäuschungen, dass “die Aussichten, sie als Buch erscheinen zu sehen, enttäuschend sind” (28. 2. 1933). Trotzdem vertiefte er sich während seines zweiten Aufenthaltes in Ibiza von April bis Oktober 1933 erneut mit dem “Kinderbuch”, wie er seine Aufzeichnungen in einigen Briefen bezeichnete – in dieser Zeit auch teilweise mit deren Übersetzung ins Französische (gemeinsam mit Jean Selz).

[20] so vermerkt  in “Berliner Chronik”, S. 7. Hrsg. von Gershom Scholem, Frankfurt a.M. 1970.

[21]  “…Ich bin entstellt vor Ähnlichkeit mit allem, was hier um mich ist. Ich hause so wie ein Weichtier in der Muschel haust im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt”[21]. Ein Photo, auf welchem Walter Benjamin und sein jüngerer Bruder Georg als “Älpler” verkleidet vor einem theatralischen Hintergrund posieren, macht diese Fremdheit sich selbst gegenüber verständlich – einem Photo vergleichbar, auf welchem Franz Kafka als Sechsjähriger mit einem Sombrero in der linken Hand so etwas wie einen spanischen Kinderfürsten darstellt, auch er Objekt einer theatralischen Bestätigung grossbürgerlicher jüdischer Assimilation.

[22] “Angelus Novus” nach dem 1920 gekauften Bild von Paul Klee, einem Bild, dessen Bedeutung Walter Benjamin immer wieder für sich selber “übersetzte”: den “Engel” verstand er letztlich als Symbol seiner selbst, im talmudischen Sinn der ständig präsenten kritischen Erkenntnis.

[23] Auch den Aufsatz “Zur Kritik der Gewalt” wie jenen über Goethes “Wahlverwandschaften” plante Benjamin  für seine Zeitschrift zu schreiben; wurden schliesslich in Hugo von Hoffmantsthals “Neuen Deutschen Beiträgen” veröffentlicht. Den Essay über die “Wahlverwandtschaften” widmete er Jula Cohn, der Bildhauerin und Marxistin, deren “pflanzenhafte Passivität und Trägheit”, wie er schrieb, ihn schon vor seiner Ehe mit Dora fasziniert hatte, die ihn, als sie in Berlin erschien, mit erotischer Leidenschaft besetzt hielt. Es kam zur mehrmaligen Trennung von Dora und seinem Sohn, schliesslich 1930 zur Scheidung.

[24] mit der russischen Emigrantin Asja Lacis (der er die unter dem Titel “Die Einbahnstrasse” gesammelten Überlegungen  widmet)

[25] auch mit jener Franz Kafkas, mit dessen Werk Benjamin sich in einem eindrücklichen Essay auseinadersetzte.

[26] Über Gewissheit. Suhrkamp Verlag 1997. Nr. 673. S. 173

[27] Ray Monk. Wittgenstein. Das Handwerk des Genies. Klett-Cotta 1990. S. 612

[28] ibid. S. 31

[29]Auswahl empfehlenswerter Literatur (alphabetisch):

Adorno-Benjamin. Briefwechsel 1928-1940. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1994

Jörn Albrecht. Literarische Übersetzung. Geschichte-Theorie-Kulturelle Wirkung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1998

Benjamin-Scholem. Briefwechsel. 1933-1940. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1980

Karl Brose. Sprachspiel und Kindersprache. Studien zu Wîttgensteins ‘Philosophischen Untersuchungen. Campus Verlag, Frankfurt a.M./New York 1985

Umberto Eco. Die Suche nach der vollkommenen Sprache. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997

Michel Foucault. Die Ordnung des Diskurses. Fischer Verlag Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1992

Jean Gebser. Der grammatische Spiegel. Neue Denkformen im sprachlichen Ausdruck. Verlag Oprecht, Zürich 1944

Albrecht Grözinger. Die Sprache des Menschen. Ein Handbuch. Grundwissen für Theologinnen und Theologen. Verlag Chr. Kaiser, München 1991

Jacob Katz. Zur Assimilation und Emanzipation der Juden. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1982

Petra Maria Meyer. Die Stimme und ihre Schrift. Die Graphophonie der akustischen Kunst. Passagen Verlag, Wien 1993

Wolf  Schneider. Wörter machen leute. Magie und macht der Sprache. Verlag Piper, München/Zürich 1986

J.-P. Schobinger. Variationen zu Walter Benjamins Sprachmeditationen. Verlag Schwabe & Co, Basel/Stuttgart 1979

Detlev Schöttker. Norbert Elias & Walter Benjamin. Ein unbekannter Briefwechsel und sein Zusammenhang. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, S. 582 ff. heft 7, 42. Jhrg., Juli 19188

Hans Joachim Störig. Sprache, in: Kleine Weltgeschichte der Philsosophie. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1999

Jürgen Trabant. Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens. Verlag C.H.Beck, München 2003

Auswahl Publikationen von Maja Wicki zu Philosophie/Kommunikation/Assimilation/Exil u.a.:
– Simone Weil: Eine Logik des Absurden. Verlag Paul Haupt, Bern/Stuttgart 1983

-‘Die revolutionäre Tat ist, laut zu sagen, was ist’. Über politische Stummheit und politische Sprache. Drei Beispiele von Frauen – ausserhalb der Schweiz. In: Politische Sprache in der Schweiz. Orell Füssli Verlag, Zürich(Köln 1993

– Beiträge zu einer Philosophie der Dialogik im Werk von Rosa Luxemburg, Simone Weil und Hannah Arendt. In: Perspektiven der Dialogik, Hrsg, Willi Goetschel. Passagen Verlag, Wien 1994

-‘Irdischer Heimat verirrter Schein’. Maragarete Susman: Exil als Chance. In: Siehe, ich schaffe Neues.Hrsg. D. Brodbeck, Y.Domhardt, J.Stofer. eFeF-Verlag, Bern 1998

– Ethik der Kommunikation und des politischen handelns. In: Geschichte der neueren Ethik. Hrsg. Annemarie Pieper. Franche Verlag, Tübingen/Basel 1992

– Von Glückel von Hameln zu Hannah Arendt. Jüdische Frauen zwischen Tradition und Moderne. In: Neue Wege, 93. Jahrgang, Nr.7/8,Zürich,  Juli/August 1999

– Wo ist der Ort der Erinnerung? In: Entwürfe. Nr. 18, Zürich 1999

30)  s. “Über,  o. über dem Dom”, Gedichte aus 100 Jahren. Hrsg.  Reiner Kunze.  S. Fischer Verlag. Frankfurt a. M. 1986

31)  geb.  13.  11.  354 in Tagaste/Numidien, gest.  am 28. 08.  430 in Hippo Regius/ Karthago

32) geb, 01. 07.  1646 in Leipzig, gest. am 14.  11.  1716 in Hannover

33)  geb. 31.  03. 1596 in La Haye/Touraine,  gest.  am 11.  02. 1650 in Stockholm

34)  sehr zu empfehlen die sorgfältigen Untersuchungen  von Umberto Eco, in: Die Suche nach der vollkommenen Sprache. Deutscher  Taschenbuchverlag, München  1997 (La ricerca della lingua perfetta nelle cultura europea. Edizione laterza, Roma/Bari  1993).

35)  Geb. 08.09.  1588 in Soutiere/Sarthe,  gest. am 01. 09. 1648 in Paris

36)  zitiert bei Umberto  Eco a.a.O.  S. 284 (entsprechend der Ausgabe  von  Couturat von  1928)

37)  S. 25

39)  S. 324-325

40)  S. 325

41)   S.  333

42)  S. 335

43) Das Dornröschen., in:  Gesammelte  Schriften, Bd.  II-1, Suhrkamp Taschenbuch  Verlag, Frankfurt a.Main 1977,S.  9

44)  a.a.O.  S.  12 ff

45)  a.a.O.  S.  16 ff

46)   a.a.O. Die Jugend und die Geschichte a.a.O.  S. 59

47)  Einbahnstrasse.  Diese Anpflanzungen sind dem Schutz des Publikums  empfohlen.  Aus:  Gesammelte  Schriften IV-1, S. 92.

48)  Gesammelte  Schriften II-1,  S. 156 Die Aufgabe des Ubersetzers,  in:  Gesammelte  Schriften IV-1,  S.  9

50) ibid.  S. 9

51)  ibid.  S.  19-20

52)  ibid.  S. 21

53) a.a.O.  Nr.  601 S. 154/55

54)  abgeleitet vom gr.  Verb “prassein” -vollbringen, ausführen, besorgen, verwalten

55)  a.a.0. Nr.  603  S. 156

56) abgeleitet vom gr.  “skeptesthai / skopein”

57)  lat  “scrupus”- spitzer Stein;  “scrupulosus-a-um” – steinig, schroff;  med.  gefährlich; auch genau,  sorgfältig

58) Bemerkungen  über die Farben – Remarks on Colour.  Zweisprachig  hrsg. von G.E.M.  Anscombe.  Verlag Basil Blackwell,  Oxford 1977

59) Ray Monk. Wittgenstein. Das Handwerk  des Genies. Klatt-Cotta  1990.  S.  593

60)  ibid.  (58), S. 4 / S. 23

61)   ibid.  S. 46

62)  ibid. Punkt 301 / 302 / 303,  S. 57

63)  Gesammelte  Schriften Bd.  II-1, S. 213 -19

64)  a.a.O.  (58)

65) Über das mimetische  Vermögen, in:  Gesammelte Werke Bd.  II-1, S.211

66) Lehre vom Ähnlichen, a.a. 0.  S. 209

67 ) cf.  Jürgen Müller. Der Pazjent als Psychiater.  Oskar Panizzas Weg vom Irrenarzt zum Insassen. Edition das Narrenschiff im Psychiatrie-Verlag, Bonn  1999)

68)  Illuminationen.  Ausgewählte  Schriften.  Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.  1977.  S.251 ff

69)  a.a.O.  S. 252

70)  ibid.

71)   Ibid.

72)  lat.  “materia”, abgeleitet von “mater”  – Mutter

73)  a.a.O.  (63), S. 261

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