Zur Ambivalenz der Diaspora – Statement anlässlich der Podiumsdiskussion vom 7. September 1998 Universität Zürich

Zur Ambivalenz der Diaspora

Statement anlässlich der Podiumsdiskussion vom 7. September 1998 Universität Zürich

 

 

  1. Überlegungen zur heutigen Situation können nicht von der historischen Situation gelöst werden.

„Diaspora“ – Zerstreuung –  bestand seit biblischen Zeiten, seit der Einnahme Judas, d.h. der Zerstörung Jerusalems und des Ersten Tempels im Sommer des Jahres 586 durch Nebusaradan, den Obersten der Leibwache des babylonischen Königs Nebukadnezar, nachdem schon im Jahre 733/32 das Nordreich Israel, das Herrschaftsgebiet der acht Stämme (ausser Jehuda, Benjamin, Dan und Schimon), vom assyrischen König Tiglat-Pileser III erobert, besetzt und die Bevölkerung deportiert worden war. Und Diaspora bestand auch zur Zeit des Zweiten Tempels, als nur ein Teil der Juden in Palästina lebten, grosse Bevölkerungsgruppen jedoch ausserhalb seiner Grenzen siedelten oder weiterwanderten, zum Beispiel nach Ägypten, oder in weitere, von den hellenistischen Königreichen beherrschte Länder, später ins Gebiet des römischen Imperiums. Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 durch den römischen Feldherrn Titus entstanden zwar in Israel einzelne Zentren geistigen Lebens wieder neu, Stätten der Gelehrsamkeit und der religiös bestimmten politischen Macht, aber geistige Zentren entwickelten sich auch überall in der Diaspora, die fortan die Struktur des Judentums bestimmte – bis in die heutigen Tage, über die Gründung des Staates Israel hinaus.

Wenn ich mich frage, was die Diaspora, resp. den Fortbestand des jüdischen Volkes in der Zerstreuung kennzeichnet, so sind es vier Arten von Verhältnis/Verhältnishaftigkeit, die den „unsichtbaren Bau des Judentums“ ausmachen[1], und  die, wie auch die Bibel belegt, von altersher „Ambivalenzen“ hervorrufen, d.h. als Verhältnis vielschichtige, komplexe Bedingungen enthalten, die zugleich Leiden und Hoffnung, Unfreiheit und Auserwähltheit, „Zärtlichkeit und  Feindseligkeit“[2], bedeuten und in dieser Vielschichtigkeit empfunden werden.

 

Worin bestehen die vier Arten von Verhältnis, resp. der „unsichtbare Bau des Judentums“?

(1) Zuerst in der Tora, d.h.im Verhältnis des Volkes zum einen Gott. Dieses Verhältnis hat die Form und Bedeutung eines – zum Monotheismus verpflichtenden – Vertrags, der  unauflöslich ist und der weder vom Bestehen eines Staatswesens noch vom Bestehen des Tempels abhängt, sondern das Volk in seiner Geschichtlichkeit einbindet.

Mit der Thora und mit der Befolgung ihrer Gebote wurde/ist das erste, wichtigste und massgebliche Verhältnis geknüpft, welches das Judentum in der Zerstreuung zusammenhielt und weiter zusammenhält, ein Verhältnis, das rein geistig definiert ist und das sich als AuserwähltheitErinnerung und Tradition versteht .

(2) Im innerjüdischen Verhältnis, resp. in der Organisation von gemeinsamem Gebet, Studium und Auslegung der Thora, von Gottesdienst, Gerichtsbarkeit, Gemeindeobliegenheiten (Rituale der Beschneidung, Bar/Bad Mizwa, Heirat, Beerdigung, Steuerwesen etc.) und Wohltätigkeit, woraus sich eine besondere, über die Religion definierte Kultur entwickelte, woraus sich auch der von den Antisemiten immer wieder angegriffene „jüdische Zusammenhalt“ ergab.

(3) Im Verhältnis zu den Gastländern, zu den Nichtjuden und insbesondere zu den Antisemiten, ein Verhältnis, welches immer – ob es Zeiten der Toleranz, der Blüte oder der Bedrängnis,  Verfolgung, ja der Vernichtung waren – bewirkte, dass die Juden als Minderheit, als die Anderen sich in kultureller Opposition zur Mehrheit oder zu Mehrheiten befanden und auf Grund dieser Stellung der Minderheit, häufig der Rechtlosigkeit, ihre Existenz als unsicher und bedroht, als tragisch erlebten, andererseits aus der Erfahrung dieser spezifischen Opposition heraus besondere Fähigkeiten (Skeptizismus, Witz, Solidarität untereinander und Solidarität zu anderen Menschen in Bedrängnis, ein besonders ausgeprägtes Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden etc.) entwickelten – ein Verhältnis, das auch nach der, mehr oder weniger konditional zugestandenen, öffentlich-rechtlichen Emanzipation im Zusammenhang mit der westlichen Aufklärung trotz der geforderten und jüdischerseits teilweise bereitwillig erbrachten Assimilation immer prekär war und blieb. Aus diesem Verhältnis folgten vielfältige Loyalitäts- und Persönlichkeitskonflikte, Selbsthass etc., aber auch schöpferische – literarische, musikalische, malerische etc. – Umsetzungen.

 

(4) Schliesslich in einem spezifischen Verhältnis zur Zeit, das, messianisch bestimmt, immer zugleich auf den „Uranfang“ und auf die Zukunft gerichtet ist und in dieser Bestimmung, gemäss Hermann Cohen, den „tragischen Begriff“ des jüdischen Menschen schafft, das jedoch zugleich dem Leiden Israels in der Verbannung (seit den Propheten, in jüngerer Zeit erneut seit der lurianischen Kabbala) Sinn gibt. Seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts kam zur religiös definierten Ausrichtung auf die Zukunft zusätzlich die säkulare Sinndimension des Zionismus hinzu, der auch eine Art säkularer Glückserwartung[3] einschloss.

 

  1. Wie haben sich diese vier Arten von Verhältnishaftigkeit seit der Gründung des Staates Israel verändert? – resp. haben sie sich heute zu grösserer „Ambivalenz“ hin entwickelt?

Generell: Neben dem „unsichtbaren Bau des Judentums“, den selbst der von den Nazis systematisch geplante und brutal durchgeführte Genocid nicht zu vernichten vermochte, gibt es seit 1948 auch ein staatliches Territorium und eine Flagge (wenngleich keinen Dritten Tempel), mithin ein sichtbar erbautes Judentum.

Damit haben sich die Verhältnisse (1) und (2) nicht verändert, wohl aber die Verhältnisse (3) und (4).

Zu (3): Heute besteht für alle jüdischen Minderheiten die Möglichkeit, in Israel Teil der Mehrheit zu sein. Weiterhin in der Diaspora zu leben, erfordert somit einen Entscheid und ist nicht mehr unausweichliches Schicksal, was zum Entstehen zusätzlicher Ambivalenzen führen mag. Gleichzeitig kommt zum Antisemitismus, der ständig das Leben in der Diaspora begleitet, ein mehr oder weniger vehementer Anti-Israelismus, der sich manchmal auch als ebenso vehementer Philo-Judaismus und Philo-Israelismus zeigt und der so oder so das jüdische Verhältnis zum Staat Israel belastet, da dieses Verhältnis auch in der Diaspora zugleich Verteidigung und Kritik nötig macht und dadurch eine neue Art der Opposition schafft.

Zu (4): Der Messianismus besteht als religiöse Zukunftsausrichtung weiter, der Zionismus hat sich jedoch durch die Gründung und Festigung Israels als Staat zum Post-Zionismus gewandelt. Ein Teil des – massgeblich das Judentum bestimmenden – zukunftsweisenden Zeit-Verhältnisses, das zionistische Projekt, wurde mit der Staatsgründung und Staatsfestigung tatsächlich aufgehoben, zugleich aber als Aufgabe neu definiert. Die Israel gestellte Aufgabe ist heute die demokratische, rechstaatliche Bewährung. In der Diaspora zeigt sich diesbezüglich eine Krise (cf. Aussage der 18jährigen M. bezüglich Zweckbestimmung des Hashomer Hazaïr: „Wir müssen die Statuten des Hashomer ändern. Warum sollten wir uns in Israel ‚verwirklichen‘? Israel ist gemacht. Wir haben hier in der Schweiz Aufgaben zu erfüllen: gegen Rassismus und Diskriminierungen jeder Art anzukämpfen“). Dass Israel „gemacht“ ist, und dass dadurch die Aufgaben der auch ausserhalb Israels lebenden Juden neu definiert sind, ist Ansporn und bewirkt einerseits Genugtuung, andererseits eine seltsame Depressivität – eher denn Ambivalenz – durch das Bewusstsein einer vielleicht noch älteren Tragik als jener des Lebens in der Diaspora, da Israel des Friedens entbehrt: die Furcht vor der Wiederkehr des (verdrängten, am Anfang der jüdischen Geschichte stehenden) Bruderzwists und Brudermords und damit die Furcht vor einer erneuten schrecklichen Vertreibung.

 

 

Stichworte für die Diskussion:

 

Ambivalenz: „Gleichzeitigkeit zärtlicher und ablehnender (feindseliger) Gefühle“ (Freud, Neurosenlehre), anstelle von Ablehnung mag auch allein schon eine klar kritische Haltung treten, d.h. keine ausschliessliche Zustimmung, wobei weniger das Judentum Gegenstand der Ambivalenz sein mag, als der Modus der Rechtsgestaltung in Israel, der nationalstatlichen Identitätsfixierung, des Überhandnehmens antiaufklärerischer, pluralitätsfeindlicher Tendenzen der Orthodoxie im staatlichen Leben.

Ambivalenz bedeutet auch doppelte Loyalität, so sehr deutlich in der Haltung  des SIG angsichts der Angriffe auf die Schweiz, die doch wirklich zu kritisieren ist.

Beispiel von Ambivalenz, heute noch Ärgernis in Israel: Hannah Arendts in ihrem Report des Eichmann-Prozesses von 1963. Sie hat versucht, eine metapolitische Haltung einzunehmen, durch welche sie ihre Angst, als Betroffene nicht mehr urteilen zu können, einpackte. Auf Grund dieser metapolitischen Haltung verdrängte sie die Empathie mit der unausweichlichen Not- und Zwangslage, in der die jüdischen Funktionäre, die Gemeindevorsteher und andere, in den Ghettos waren, und gelangte so zu einem harten Urteil des individuellen Versagens – was ihr wiederum das Urteil, in ihrer jüdischen Loyalität versagt zu haben, von ihren Freunden und Freundinnen eintrug.

Neuester Bericht des Institute für Jewish Policy Research, London, s. Kolumne von Bernard Wasserstein, JR dieser Woche: „unabwendbare Verschiebung“.

1) Die Formulierung stammt aus einem Brief Sigmund Freuds aus dem Jahre 1882  an seine Braut und spätere Frau Martha Bernays. „…Jerusalem ist zerstört, und Marthchen und ich leben und sind glücklich Und die Geschichtsforscher sagen, wenn Jerusalem nicht zerstört worden wäre, wären wir Juden untergegangen  wie so viele Völker vor und nach uns. Erst nach dem Zerfall des sichtbaren Tempels[1] sei der unsichtbare Bau des Judentums möglich geworden.“  Ich meine eher, dass er sich seit damals als Kern nationaler Existenz bewährte.

 

[2] ) Freud, Neurosenlehre

[3] „Die Kerle wollen glücklich sein“, wie Franz Rosenzweig Hermann Cohen gegenüber äusserte.

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