Eine politische Theorie für heute, ausgehend von Hannah Arendt

Eine politische Theorie für heute, ausgehend von Hannah Arendt

Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb Hannah Arendt, die “Weltlosigkeit”, die “Wüste in der Welt” breite sich durch den zunehmenden Verlust “des politischen Handelns und der Leidenschaft” auf bedrohliche Weise aus. Die Feststellung mutet prophetisch an, angesichts der heutigen Situation, in der die beschleunigte wirtschaftliche und kommunikationstechnologische Globalisierung mit einer wachsenden Überforderung der Demokratie, überhaupt einer Lähmung der politischen Instrumente und Perspektiven sowie mit immer mehr menschlicher Ausgrenzung einhergeht. Die Fragen nach dem, was Politik, in Abgrenzung zu Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft und Privatem, kennzeichnet, müssen neu gestellt und erarbeitet werden. Der Rekurs auf Hannah Arendts Werke zeigt sich dabei als überaus spannend, manchmal widersprüchlich und irritierend, aber immer ertragreich. Er erlaubt wichtige Klärungen der Bedeutung von Freiheit/Solidarität resp. “Bezugsgeflechte der Menschen”, Denken/Sprechen/Urteilen/Handeln/Herstellen/Arbeiten, Macht/Autorität/Stärke, Gesetze/ziviler Widerstand, Staat/Nation/totalitäreHerrschaft, Gesellschaft/Familie – dabei immer zugleich eine theoretische wie eine geschichtliche und eine gesellschaftsanalytisch aktuelle Aufarbeitung dieser Bedeutungen.

Zu empfehlende Literatur von Hannah Arendt:

Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. – Vita activa oder Vom tätigen Leben. – Was ist Politik? (Aus dem Nachlass herausgegeben von Ursula Ludz).

 

Was kennzeichnet den Raum des Politischen?

(I) Erarbeitung des eigenen Misstrauens/der eigenen Vorurteile dem Politischen/der Politik gegenüber. (s. bei H.A. Was ist Politik? Aus dem Nachlass von U. Ludz, München 1993.  S.13 ff., S.20f).

(II) Die Wissenschaft vom Politischen geht – gemäs Hannah Arendt – im Gegensatz zu Philosophie (Ontologie) und Theologie nicht von dem Menschen, sondern von den Menschen aus: von der Pluralität der Verschiedenen, die zusammenleben und die im öffentlichen Raum einen je gleichen Platz einnehmen sollen, um über die menschlichen Angelegenheiten (die Angelegenheiten des Zusammenlebens) so zu beschliessen, dass das Zusammenleben von Dauer sein kann.

Pluralität wiederum lässt sich bei H.A. nichts aufs Phaenomenologische reduzieren, sonern wurzelt im Denken, nach sokratischem Beispiel: Menschen können nur mit sich selber im Einklang sein, wenn sie in sich einen Zwei- oder Dreiklang zulassen, wenn sie sich in den, im Zusammenspiel/in den, im Chor mit anderen Menschen einstimmen und deren Töne nicht zum vornherein als Dissonanzen abweisen. Freiheit kannn nur erfahren werden durch die Freiheit der anderen, resp. durch den Widerspruch im Handeln und Reden. Diese von den Vielen geteilte Freiheitserfahrung, die zugleichwechselseitige Begrenzung und Korrekturder Freiheit und Handeln aus Freiehti bedeutet, konstituiert Macht.

Der Raum des Politischen ist somit der Raum der Freiheit. Er entsteht zwischen den Menschen, im Zwischen, im Bezug, als inter esse. So verstanden hebt er sich vom Raum des “oikos” (von der Haushaltherrschaft/Familien-) ab wie vom Raum der Tyrannis (von der totalitären Herrschaft). Diese beiden schliessen Freiheit (die Dynamik des Widerspruchs im Handeln und Reden) aus, indem sie sich nach einer einzigen Logik/Ideologie und einem einzigen Zweck ausrichten, der entsprechend alle Mittel rechtfertigt. Während der Raum des Politischen durch das Handeln gestaltet wird, werden die anderen Räume durch Ausführen und Verwalten (durch überhandnehmende Despotie der Bürokratie, die Kontrolle der richtigen Gesinnung) beherrscht.

Der Sinn des Politischen (zu unterscheiden zwischen Sinn und Zweck/Ziel, s. H.A. a.a.O. S. 28ff, S. 38f, S. 123 ff) liegt in der Wahrung der Freiheit, resp. in der Zukunft des Zusammenlebens.

Die Kraft, welche die Menschen zum Handeln befähigt, ist die Urteilskraft (s. Kant).

 

Folgt aus Hannah Arendts Konzept der Freiheit eine Theorie der Demokratie und wie ist sie begründet?

– Wodurch kennzeichnet sich Demokratie (Volksherrschaft)? Wer ist das Volk? Wie herrschat das Volk? – direkt/indirekt? Was ist das Ziel der Demokratie (“Identität” von Regierenden und Regierten)? In welcher Beziehung stehen Rechtsstaat und Demokratie zueinander? Was charakterisiert den Rechtsstaat (Bindung der öffentlichen “Gewalt” an Verfassung und Gesetze / horizontale – Legislative, Exekutive, Judikative – und vertikale – Gemeinde-, Kantons-, Bundesautonomie – “Gewalten”trennung)? Was gefährdet eine Demokratie (Verselbständigung der Bürokratie, Erstarrung der Parteienherrschaft, Manipulation der öffentlichen Meinung durch Massenmedien/partikuläre Interessengruppen wie Armee, Wirtschaft, parteipolit. Ideologien etc., Apathie/Indifferenz/Überforderung des Volkes den poltischen und sozialen Fragen gegenüber, grosse Armut und bedrängende Überlebensprobleme etc.). Wo steht die Schweiz heute?

– Lässt sich eine Theorie der Demokratie aus H.A’s Konzept der Freiheit begründen? (“Natalität” als Voraussetzung für das gleiche Recht/Grundrecht aller Menschen auf Teilhabe/Mitsprache am politischen Geschehen; Parlamentarismus; Herstelllen von Mehrheitsentscheiden durch gegenseitiges Sich-Widersprechen, Zuhören und Sich-Überzeugen; Öffentlichkeit der Debatten und Tranparenz der politischen Entscheide, Korrigierbarkeit der Entscheide/ev. ziviler Widerstand, Sorge um die Fragilität einer handlungsfähigen Macht in Hinblick auf möglichst grosse Abwehr und Verhinderung von Gewalt).

  1. H.A. Vita activa, 5. Kpitel, Paragraph 28

– Was bedeutet “Demokratie als Lebensform” in den nicht-politischen Zusammenhängen (feministisches Projekt, Mitbestimmung in der Wirtschaft, Durchbrechung der Hierarchien)?

 

Wie ist das Anwachsen von “Weltlosigkeit” zu verhindern? – resp. Gibt es bei Hannah Arendt ein Konzept des Widerstands?

– Freiheit – Befähigung zum Neubeginn und damit Befähigung zum Handeln überhaupt – ist die Grundvoraussetzung für das Zustandekommen des “inter esse”, resp. des Bezugsgeflechts zwischen Menschen. H.A. stellt fest, dass dadurch eine Qualität des Zusammenlebens entsteht, die sie “Welthaftigkeit” nennt. Diese Qualität ist gefährdet durch alle Formen der Gewalt, einerseits durch die Formen der naturhaften Kontingenz (Naturgewalt), andererseits durch rücksichtslos angestrebten partikuläre Interessen, zum Zweck deren Erfüllung Macht missbräuchlich eingesetzt wird, seit Beginn der Menschheitsgeschichte.

Die Frage stellt sich, wie angesichts der massiven Einbindungen, Beschränkungen und Verhinderungen der Freiheit (durch Geschichte, Herkunft, aktuelle Lebensbedingungen etc.) Freiheit zur Handlungskompetenz im Widerstand gegen möglichen Machtmissbrauch (fremden, eigenen internalisierten) werden kann, zum Widerstand auch gegen legitime Gesetze, gegen Trends etc. Hat Widerstand in der Demokratie eine Berechtigung? Was ist unter zivilem Widerstand zu verstehen? Ist “Neubeginn” nur aus dem Widerstand heraus möglich, resp. aus dem Widerspruch? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Erziehung, Mündigkeit, Demokratie, Zusammenleben im Sinn von “Welthaftigkeit”?

 

Welches sind die Elemente, Ursprünge und Folgen totaler Herrschaft?

(I) Imperialismus, Nationalismus, Militarismus

H.A. begann mit der Niederschrift von Elemente und Urspünge totaler Herrschaft 1945/46. (Das Buch erschien in New York 1955, in Deutschland 1962). Der Zweck, den sie verfolgte, bestand darin, “die Hauptelemente des Nationalsozialismus aufzuspüren, sie zurückzuverfolgen und die zugrunde liegenden wirklichen politischen Probleme zu erforschen… Es ist nicht das Ziel des Buchs, Antworten zu geben, sondern eher das Terrain zu sondieren”, hielt sie in einem Brief an die englische Verlegerin Mary Underwood fest. Bei der Ergründung der Elemente der Schande: Antisemitismus, Imperialismus, Rassismus – so ihr Arbeitstitel – ging es ihr um den Nachweis, dass die Grundlagen des bürgerlichen, kapitalistischen 19. Jahrhunderts die Voraussetzungen für das Verhängnis des 20. Jahrhunderts bildeten. Den Nationalsozialismus, den sie nach einer von Franz Neumann in “Behemot” (1942 erschienen) geschaffenen Bezeichnung als Rassen-Imperialismus verstand, betrachtete sie als eine logische Folge der Kristallisation dieser Elemente. Erst von 1947 an zog sie in Erwägung, auch das stalinistische Russland als totale Herrschaft einzubeziehen. Was das System der totalen Herrschaft kennzeichnete, das waren die Konzentrationslager.

Der Imperialismus, eines der zentralen Elemente dieses Systems, entwickelte seine höchste Form im britischen Kolonialismus. Dieser kennzeichnete sich aus durch die Herrschaft der Bürokratie, resp. die Herrschaft der Geheimhaltung, die lückenlose Verwaltung und Kontrolle sowie die Ausübung der Herrschaft auf dem Verordnungsweg (resp. Ersatz der Permanenz von gesetzlich begründeter Legitimität durch ungeordnete Folge von einmaligen Verordnungen). Desinteressement und Absonderung, verbunden mit Integrität, bezeichnet H:A: als Charakteristik des imperialistischen Verwaltungsapparats. Sie zieht eine absolute Scheidung der Interessen der Regierenden und der Regierten nach sich, durch welche die regierten Menschen zu blossen Verwaltungsobjekten gemacht werden, der regierende Verwaltungsapparat aber zu einem Apparat von Experten, welche, nach H.A., die Leidenschaft der Anonymität auszeichnete (analog zur Organisation einer Geheimgesellschaft).

Eine andere Art des Imperialismus versteht H.A. unter dem “kontinentalen Imperialismus”, der sich in den Panbewegungen äusserte (Pangermanismus, Panslawismus; die aus dem Griechischen übernommene Vorsilbe pan bedeute: alles soll germanisch, alles soll slawisch werden), welche Nationalismus und Rasse-Ideologie (“Deutschlands Zukunft liegt im Blute”) zu einem “erweiterteren Stammesbewusstsein” zusammenfügten. Die Unterwerfung der “Eingeborenen” im überseeischen Imperialismus kam der Unterwerfung der “Stammesfremden” (der Juden, Polen, Tschechen etc.) zu “Helotenvölkern” durch die deutschen “Herrenmenschen” gleich. Was die Mitglieder von Panbewegungen zusammenhielt, war, gemäss H.A, ene “schwülstiger Pseudo-Mystizismus.

Vom überseeischen Imperialismus unterscheidet H.A. den kontinentalen Imperialismus, der in starkem Mass aus den europäischen Panbewegungen herausfloss (vom griechischen “pan”, alles: Pangermanismus, Panslawismus – alles soll germanisch, alles soll slawisch werden), eine sich auf die die nationalen Grenzen sprengende rassische Gemeinschaft, Blutgemeinschaft, auf übergreifende Stammesgemeinschaft, kurz auf einen schwülstigen Pseudo-Mystizismus berief, der eine grosse Anziehungskraft auf die Massen (Mob) ausübte. Wie der Imperialismus die “Einheimischen als “Verwaltungsobjekte” unterwarf, so wurden die “Stammesfremden” (Juden, Polen, Tschechen etc.) von den alldeutschen “Herrenmenschen” als “Menschen zweiter Klasse”, als Heloten, schliesslich als überflüssig klassifiziert. Völkischer Nationalismus galt als Legitimation für militaristische Expansion und für die Unterwerfung von “Stammesfremden”; der Nationalstaat qua Rechtsstaat mit der Garantie der Wahrung von Staatsgrenzen und von Freiheit seiner Bürger hatte ausgedient.

Totale Herrschaft kennzeichnete sich durch umfassende bürokratische Kontrolle, durch den Einsatz von Terror, durch das System der Konzentrationslager, durch den Ersatz langwährender Gesetzesgrundlagen durch eine Fülle von punktuellen Verordnungen, durch welche eine steigende Rechtsunsicherheit geschaffen wurde, durch eine militaristische Expansions- und Unterwerfungsstrategie, durch eine mit all diesen Merkmalen verbundene rassische Herrenmenschen-Untermenschenideologie.

Die Merkmale des Antisemitismus als Elemente totaler Herrschaft am 11. 12. 1997.

 

Welches sind Elemente, Ursprünge und Folgen totaler Herrschaft? Zur Dialektik von Emanzipation und Antisemitismus, zu Rassismus und Ethnozentrismus.

Die Bildung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert fiel mit den Bewegungen der politischen Gleichstellung/Gleichberechtigung der Juden zusammen (Emanzipation). Durch die nationalstaatlichen Verfassungen wurden sie als Bürger anerkannt, wurden aber durch die gleichzeitigen Assimilationserwartungen der christlichen Gesellschaft, denen sie zum Teil bereitwilig Folge leisteten, zunehmend von den religiösen und geistigen Gehalten des Judentums entfremdet. Die Aufhebung der Diskrimierungen (Zugang zu allen Berufen, Freizügigkeit etc.) führte einerseits zu einem besonderen Verhältnis der Juden zum Staat (eine Art der dankbaren Loyalität, s. z.B. die zahlreichen jüdischen Freiwillige im Ersten Weltkrieg), jedoch auch zur Fragmentierung der Juden in der Gesellschaft, damit zu einer wachsenden Schutzlosigkeit der einzelnen.

Etwa gleichzeitig mit der Emanzipation erstarkten antisemitische Ideologien (politische/gesellschaftliche Sündenbocktheorien), vor allem seit den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts, die von einer völlig anderen Qualität als der herkömmliche religiöse Judenhass waren (z.B. sog. Weltverschwörungstheorien). Die gezielte Ausbreitung dieser Ideologien bildete die Legitimationsbasis für den von einer breiten Bevölkerung mitgetragenen und mitausgeübten Terror gegen die Juden, der in deren systematische Vernichtung einmündete. Was Hannah Arendt als “Verbrechen gegen die Menschheit” (das radikal Böse) bezeichnet – die systematische Aberkennung der Menschheit von Menschen aus Gründen der Rasse etc., die Aberkennung des Rechts auf Leben und auf selbstbestimmtes Zusammenleben – ist für sie “eine Art Spezialität totalitärer Regimes”, gemäss ihrer Theorie der Ableitung dieser Regimes aus dem Imperialismus (s. Vorlesung vom 4. 12. 97).

Hannah Arendts Theorie von der missglückten (ich würde sagen unvollendeten) Emanzipation in den Ursprüngen des Antisemitismus und der totalitären Herrschaft wurde von den Forschern der Frankfurter Schule (Adorno, Horckheimer, Fromm, Herbert Marcuse etc.) ebenfalls teilweise aufgenommen (cf. Vortrag von M.W.).

 

Das “radikal Böse”und die “Banalität des Bösen”

Im Kontext der Erfahrungen und der Auseinandersetzung mit totaler Herrschaft stellte sich für Hannah Arendt das Problem, das Böse zu verstehen, als dringendste Aufgabe. Mit dem Begriff des “radikal Bösen” bezieht sie sich zwar auf Kant (Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft), geht jedoch über dessen Verständnis (das dem Menschen “gattungsmässig” eigentümliche, beinah alltägliche, mit der Freiheit konnotierte falsche Handeln) hinaus. Sie versteht daruntern jenes Handeln, “das Menschen weder bestrafen noch vergeben können, das man weder verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit oder was es sonst noch geben kann” (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft). Das “radikal Böse” bedeutet die Leugnung des Menschlichen, resp. der “Menschheit in jedem einzelnen Menschen” und damit die Leugnung der Beziehungen zwischen den Menschen und des Sinns dieser Beziehungen: die Pluralität der Differenz der Menschen im Zusammenleben zum (Zwischen)”Raum” werden zu lassen, in welchem die Würde jedes einzelnen Menschen – das Recht auf Leben – garantiert ist. Indem die Strategie totaler Herrschaft, d.h. in erster Linie des Nationalsozialismus, darin bestand, die als unnütz, als überflüssig, als nicht lebenswert erklärten Menschen auszumerzen, gab sich das “radikal Böse” in der Zweckbestimmung der Vernichtungslager – in der “Fabrikation der Leichen” (Interview mit Günther Gauss) – die erkennbarste Gestalt. Im “radikal Bösen” findet der Nihilismus seine entsetzlichste Zuspitzung.

Mit der “Banalität des Bösen” thematisiert Hannah Arendt die “schiere Gedankenlosigkeit” im Vollzug des “radikal Bösen”, wo es auch immer im grossen Räderwerk der systematischen Vernichtung geschieht. Diese Gedankenlosigkeit hat mit dem Verlust (resp. der Ablehnung) der Vorstellungs-/Einbildungskraft zu tun. Ohne Einsatz der Einbildungskraft bleibt die Urteilskraft (die Befähigung, das partikuläre Handeln unter ein übergeordnetes Prinzip zu stellen und die Folgen des Handelns dadurch zu erwägen) machtlos. Die Urteilskraft aber bedeutet die Befähigung zum moralischen Handeln. Dagegen würde “sich an den Platz eines anderen zu stellen” (die “erweiterte Denkungsart” gemäss Kant) schon bedeuten, die Folgen des Handelns zu erwägen. Dass dagegen die “Legalität” des Handelns vorgeschoben wird, dass die persönliche Verantwortung durch den Rekurs auf eine Befehlsstruktur und auf die “allgemeine Meinung” geleugnet wird (in: Nach Auschwitz. Was heisst persönliche Verantwortung in einer Diktatur?), führt letztlich auch zur Negation des unabdingbar Menschlichen bei den Handelnden (den Tätern), die sich dadurch ihrer Freiheit entheben. Mit der “Banalisierung” des Bösen  wirkt das “radikal Böse” auch auf die Täter zurück.

Fragen zur Aktualität: Wie steht es mit der “Banalität des Bösen” heute, angesichts einer sich immer weiter entwickelnden Technologie und einer immer weiter differenzierten Delegationsstruktur des Handelns? (s. auch Günther Anders. Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, 1956. Sodann: Hiroshima ist überall. 1982).

 

Warum verzeihen und versprechen?

Zum Aspekt der Zeit in Hannah Arendts Konzept der Freiheit (mit einem Exkurs zu Walter Benjamin)

(1) Im Rekurs auf die Theorie des Tätigseins: Arbeiten, in erster Linie der biologischen Lebenserhaltung dienend, bleibt spurenlos, ausser durch die Einbindung in die durch den Homo faber hergestellte, geschaffene Welt, die wiederum sinnleer bleibt, ausser durch den über das Zusammenleben der Menschen, über das Handeln geschaffenen Sinnbezug. Allein das Handeln bedarf zur Sinnlegitimation nicht des Rekurses auf eine übergeordnete Tätigkeit. Beim Handeln “erwächst das Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit und Unabsehbarkeit der von ihm begonnenen Prozesse nicht aus einer anderen und potentiell höheren Fähigkeit, sondern aus den Möglichkeiten des Handelns selbst. Das Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit 8…9 liegt in der menschlichen Fähigkeit zu verzeihen. Und das Heilmittel gegen Unabsehbarkeit (…) liegt in dem Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten.” Beide Fähigkeiten können sich nur entfalten dank der Tatsache der Pluralität des menschlichen Zusammenlebens.

(2) H.A. begründet mit § 33 Kap.5 von Vita activa innerhalb ihrer politischen Theorie eine existenzphilosophische Theorie der Zeitlichkeit. Über die moralische Dimension des Handelns – die Freiheit, welche Verzeihen und Versprechen ermöglicht -, können Menschen die Flüchtigkeit, die ihre existentielle Bedingtheit ausmacht, für andere zur Dauer werden lassen. (Verzeihen und Versprechen wiederum stellen den zeitlichen Aspekt in der moralischen Dimension der Freiheit her). Über das Verzeihen wird Vergangenheit erträglich, von der Schuld des bösen Handelns befreit. Im Verzeihen, das nur vom Opfer geleistet werden kann, findet Freiheit einen höchsten Ausdruck, da wird tatsächlich ein Neuanfang gesetzt, im Gegensatz zur Rache, welche die schuldhafte Tat fortsetzt. Allerdings gibt es schuldhaftes Tun- das radikal Böse -, welches nicht verzeihbar ist, da es das, was zwischen den Menschen ist, den Zwischenbereich (das “inter esse”) zerstört. – Versprechen, ebenfalls Ausdruck von Freiheit, macht das unabsehbare, unfassbare der Noch-nicht-Zeit absehbar – auch wiederum für andere. Auf dieser Absehbarkeit gründen Verträge und, im Politischen, Verfassungen. Daher sind Verfassungen die stärkste Garantie der Freiheit: Versprechen von Freiheit aus Freiheit – von der verfassungsgebenden Generation für die nachkommenden Generationen.

(3)) Für Walter Benjamin ist Geschichte, resp. die Abfolge des Handelns, immer Schuld und daher immer Leiden. Sie gehört zur “Ordnung des Profanen”. Über diese hinaus weist das Messianische. Das verbindende Element zwischen den beiden Bereichen – jenem der Vergänglichkeit und jenem der Ewigkeit – findet sich in der Idee des Gücks. “Die kleine Pforte, durch die der Messias eintreten könnte”, ist jede Sekunde. Indem für Benjamin die Idee des Glücks sich mit Zukunft jenseits der Zeit verbindet, hebt er damit auch in der Zeit über das Messianische die Vergänglichkeit auf.

Was kennzeichnet den Raum des Gesellschaftlichen und des Privaten? – resp. Was haben bei H.A. Familie und Kultur miteinander zu tun?

– H.A. unterscheidet, in ihrem Rekurs auf die Antike, klar die Bereiche der“polis” und der Gesellschaft; der Bereich der Privatheit, resp. der Intimität, hat sich erst mit dem Beginn der Moderne klar abzuzeichnen begonnen (cf. Vita activa Kap.2, Par.6, 8, 9). Der Bereich des Politischen dient den öffentlichen (politischen) Interessen (jenen des Handelns), der zweite den “haushaltlichen” (jenen des Herstellens, der Versorgung), resp. den privaten und partikulären, die von allgemeiner Bedeutung sind (a.a… Par.7). Während für den ersten das Prinzip der Freiheit, der Pluralität und Differenz unabdingbar sind, gilt für den zweiten das Prinzip der Notwendigkeit und der Konformität (Normierung des Verhaltens, wobei deren Einhaltung Bedingung für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, zur Solidaritätsgemeinschaft, ist. Ausschluss erfolgt aus der Gemeinschaft, nicht aus der Gesellschaft, ausser diese sei im Sinn von Gemeinschaft verstanden: kulturgeschichtliche Bedeutung der Entstehung des Christentums, einer Gemeinschschaft, die sich als “corpus” verstand, dessen Glieder sich zu verhalten hatten wie die Mitglieder einer Familie, die “Welt” und “Weltlichkeit” ausschloss). H.A. stellt fest, dass (a) mit dem Erstarken des Gesellschaftlichen eine Gegenprozess der Schwächung der Familienstrikturen einherging, dass (b) das Phaenomen des Überhandnehmens von Gemeinschaft anstelle von Gesellschaft ein wichtiges Element im Entstehen totalitärer Systeme ist.

– Die Bedeutung von “privat” ergibt sich aus dem lat. “privare” (berauben, befreien). Das Private “beraubt” der Teilhaftigkeit an etwas Beständigerem als dem vergänglich Partikulären. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess der Differenzierung von Gesellschaftlichem und Privaten spielt das Eigentum (ursprünglich an die Familie gebunden) eine wichtige Rolle; es “befreite” von den Zwängen der Notwendigkeit und erlaubte dem “pater familias” die Teilhabe am öffentlichen Raum. Die modernen Demokratiebewegungen gingen/gehen einher mit der Sozialisierung des Eigentums (ermöglicht die annähernde Erfüllung von Gerechtigkeit, da dadurch alle, die zusammenleben, in gewissem Mass von den Zwängen der Notwendigkeit befreit, am Aushandeln und Entscheiden der Fragen von allgemeiner Bedeutung im öffentlichen Raum teilnehmen können, resp. nicht der Teilhabe beraubt sind): Gegenbewegung zum Prozess der “Enteignung” durch den Kapitalismus.

Wichtig ist die komplementäre Bedeutung der Bereiche und deren Funktionen. Diese können nur erfüllt werden, wenn die Bereiche unterschieden und getrennt sind. H.A’s Aussage, es sei verhängnisvoll, Liebe in die Politik hineinzutragen, folgt aus dieser Erkenntnis. Das Private als das “Eingegrenzte”, “Eingezäunte” (was der Öffentlichkeit entzogen ist) ist unverzichtbar für das Aufrechterhalten von Intimität und Solidarität zwischen den Individuen (Bedeutung von Ehe, Familie, familiären Beziehungen zur Erfüllung der emotionalen Bedürfnisse, der Bedürfnisse der Liebe, der Zuwendung in Komplememtarietät und Reziprozität). Es gehört daher zu den politischen Pflichten, Gesetze zu schaffen, welche den Bereich des Privaten schützen.

Zu diskutieren: Folgen von Kapitalismus/Neoliberalismus/Deregulierung heute auf das Politische, Gesellschaftliche, Private. – Was bedeutet, welche Folgen haben Massengesellschaft, Massenkommunikation heute (z.B. Massenvermarktung des Privaten, cf. “Diana”-Phaenomen). – Unterscheidung von Normen, Werten, Regeln. – Bedeutung von “Versprechen” in den drei Bereichen (Verfassungen, Verträge, Gelöbnisse).

Was versteht Hannah Arendt unter Arbeit?

  1. A. unterscheidet zwischen “der Arbeit des Körpers” und “dem Werk der Hände” (Rekurs auf John Locke, 1688/98, Two Treatises of Government, inbes. Second Treatise of Government, sowie auf die griechische Antike), zwischen dem Arbeiten und dem Herstellen (cf. Unterscheidung der Tätigkeiten, 2. Vorlesung. – cf. Vita activa: 3. und 4. Kap.).

Zum Arbeiten: Da in der Antike die körperliche Arbeit von Sklaven verrichtet – und entsprechend verachtet – wurde, da sie lediglich als Bedingung zur Erfüllung der körperlichen (Über)Lebensbedürfnisse, behielt sie in der westlichen Kultur die Konnotation mit “sklavisch”, “erniedrigend” und “unfrei” (cf. auch den Fluch Jahwes nach dem “Sündenfall”, Genesis 3 16-19:…”verflucht sei der Erdboden um deinetwillen. Unter Mühsal sollst du dich von ihm ernären alle Tage deines Lebens” usw), eine Bewertung, die sich auch nach der Abschaffung der ständischen Hierarchien durch die Tatsache der Arbeitsteiligkeit fortsetzte und sich durch das Entstehen der industriellen Klassengesellschaft verhärtete (durch einseitiges Eigentum an Produktionsmitteln bei den Arbeitgebern und durch Ausbeutung der Arbeitskraft der Arbeitenden, resp. durch Vorenthaltung/Beraubung des Produkts und des Mehrwerts der Arbeit, worin Marx die erste Ursache aller Entfremdung sieht, cf. Karl Marx, geb. 1818. sog. Pariser Manuskripte, 1842, Das Kapital, 3 Bde. 1887-1894, auch wiederum im Rekurs auf Locke, der die Auffassung vertrat, dass Arbeit im Prinzip Eigentum generiert). – Der Unterschied zwischen Arbeiten und Herstellen verwischt sich seit Beginn der Neuzeit zunehmend, wiederum nicht zuletzt wegen der technologischen Erleichterungen (selbst im Zusammenhang mit der sog. Kopf”arbeit”). Arbeiten behält noch etwas vom ursprünglichen Fluch, wenn es spurenlos bleibt, wenn es ausschliesslich der Subsistenz dient, da eines der wichtigsten Grundbedürfnisse darin besteht, herauszutreten aus dem Dunkel (cf. Brecht), ins Licht zu treten, sich sichtbar zu machen und sich auszudrücken: hierdurch Lebensinn zu schaffen. (Die Nichterfüllung/Verhinderung der Erfüllung dieses Grundsbedürfnisses durch Armut, mangelnde Bildung etc. gehört zu den grössten Diskriminierungen. – Was, wenn Arbeiten nicht einmal mehr zur Subsistenzsicherung genügt?).

Mit dem Herstellen von Produkten, die Dauer haben, resp. von Dingen/Gergenständen/ Werken, wird aus der Natur Kultur (resp. die “künstliche Welt”). Mit dem Herstellen dauerhafter Güter und der Notwendigkeit des Warentauschs trat das Geld als symbolischer Tauschwert in Erscheinung. (Entstehen des Wertbegriffs. – Was, wenn Geld Tauschwertcharakter verliert? – nur noch “abstrakter” Börsengewinn bedeutet, oder, bei Mangel und hiermit konkrete Not? – Zu beachten ist Konnex zwischen Massenproduktion und Wegwerfgesellschaft/Abfallentsorgungsproblemen in Hinblick auf Werteverlust, sowie Konnex zwischen Herstellen und Zerstören etc.).

Im Gegensatz zu Hannah Arendt steht bei Simone Weil (1919-1943) bei der Frage der Arbeitsabhängigkeit/Entwürdigung der Arbeitenden (resp. des Proletariats) weniger die Eigentumsfrage im Vordergrund als jene der Instrumentalisierung von Menschen zu einem ihnen fremden Zweck (Rekurs auf Kant. – cf. Simone Weil. Fabriktagebuch, Cahiers etc), und zwar nicht nur im kapitalistischen, sondern auch im staatskapitalistischen System. Simone Weil entwickelt im Sinn einer Korrektur in einer ersten Phase revolutionäre Theorien, in einer zweiten den Begriff der “Spiritualität” der Arbeit.

Was versteht Hannah Arendt unter der “verborgenen Tradition”? – Wie ist Hannah Arendts Verhältnis zum Judentum, zum Zionismus und zum Staat Israel zu verstehen?

Ihre jüdische Herkunft war für H.A. nie Gegenstand des Zweifels oder der Distanzierung, jedoch auch nie Gegenstand einer unreflektierten Identifikation. Sie versuchte, das europäische Judentum in seiner tragischen Entwicklung zu verstehen, so wie sie versuchte, die Elemente und Ursprünge des Antisemitismus zu verstehen. Das Schlüsselereignis, bei dem sie ansetzte, war die – in der Folge der Aufklärung – den Juden in Deutschland und in anderen Ländern angebotene Emanzipation (Gleichstellung, Rechtsgleichheit), wobei insbesondere der trügerischerweise von der Emanzipation abgeleitete Zwang zur Assimilation (Gleichschaltung) sich als verhängnisvoll auswirkte. Ab damals geschah die “Aufspaltung eines in Wahrheit einheitlichen jüdischen Volkskörpers”, bei welchem “diejenigen am schlechtesten wegkommen mussten, welche (…) versucht hatten, die frohe Botschaft der Emanzpation so ernst zu nehmen, wie sie nie gemeint gewesen war und als Juden Menschen zu sein” (aus: Die verborgene Tradition. Vorbemerkung). – H.A. übernahm den Begriff Max Webers vom “Pariavolk”. “Dass das Schicksal des jüdischen Volkes in Europa nicht nur das eines unterdrücken, sondern das eines Pariavolkes (Max Weber) war, kam denjenigen zu klarstem Bewusstsein, an welchen die zweideutige Freiheit der Emanzipation und die noch zweideutigere Gleichheit der Assimilation ausprobiert wurden” (ebenda). H.A. unterschied – auf sehr vereinfachende Weise – in dieser Entwicklung zwei Gruppen von Repräsentanten, die “Parias”, denen ihre Sympathie galt (im eigentlichen Sinn von sym-pathein), da sie die “verborgene Tradition” aufrechterhielten und dieser Ausdruck gaben (z.B. Rahel Varnhagen, Heinrich Heine, Bernard Lazare, Charlie Chaplin, Franz Kafka, Walter Benjamin) und die “Assimilanten”, denen sie ihre Sympathie absprach (cf. Elemente und Ursprünge; das Rahel Varnhagen-Buch; Korrespondenz).

Die entsetzliche Tatsache der systematischen Vorbereitung und Durchführung der Vernichtung ihres Volkes durch die Nazis und deren Helfer versetzte H.A. in grösste innere Not. Das entzog sich dem Verstehen, das entzog sich der Sprache, damit wurde eine Grenze nicht-wieder-gutmachbarer Gewalt überschritten (cf. Nach Auschwitz. Essays und Kommentare. – Eichmann in Jerusalem. – Korrespondenz), in einer furchtbaren Assymetrie zwischen schuldhaften Tätern und schuldlosen Opfern. “Der Schuldbegriff macht nur Sinn, wenn er auf Individuen angewendet wird” (Was heisst persönliche Verantwortung unter einer Diktatur? in: Nach Auschwitz a.a.O.), dagegen spricht H.A. von der “ungeheuerlichen Gleichheit in der Unschuld” im Ereignis der Vernichtung ihres Volkes (Das Bild der Hölle, in: Nach Auschwitz).

Zu den Zionisten und zum Zionismus hatte sie ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits unterstützte sie die Haltung eines seiner Geschichte und Werte bewussten, sich nicht in die Defensive drängenden, kämpferischen Judentums, da sie hierin die einzige Möglichkeit sah, dem organisierten tödlichen Antisemitismus der Nationalsozialisten die Stirn zu bieten (cf. ihre Tätigkeit in Deutschland bis zu ihrer Verhaftung 1933, in Paris zum Zweck der Jugend-Alijah, ihre Stellungnahe für eine gegen Hitler kämpfende jüdische Armee etc.). Andererseits kritisierte sie das nationalistische Projekt des Staates Israel (nicht die Gründung eines binationalen Staates) und warnte vor den Folgen (cf. Der Zionismus aus heutiger Sicht und weitere Essays und Kommentare, in: Die Krise des Zionismus)., ohne deswegen den Staat Israel abzulehnen. Immer gab sie unmissverständlich zu verstehen, dass alles, was Israel betraf, sie zutiefst berührte und engagierte (cf. Korrespondenz mit Blumenfeld, Sholem etc.).

Zu diskutieren: Herkuftsbedingungen und Freiheit / politische Verantwortung – persönliche Schuld.

 

Was vermag “Leidenschaft” in den Aporien des “Glückskalküls” und der “Entfremdung”?

Unter den nachgelassenen Fragmenten Hannah Arendts findet sich eine Schlussbemerkung zur Vorlesung, die sie an der Universität von Berkely im Frühjahr 1955 hielt[1], ein unfertiges Textstück voller Ungereimtheiten und voller Denkanstösse. Sie gibt darin ihrer Klage  über das “Anwachsen von Weltlosigkeit” Ausdruck, über die sich ausbreitende “Wüste in der Welt”, wodurch zwei wichtige, unverzichtbare Vermögen der Menschen bedroht seien: das “Vermögen der Leidenschaft und des politischen Handelns”.  Es sind jedoch diese zwei Vermögen, die dazu befähigen, Räume zu schaffen, in denen Menschen zusammenleben können. Diese Räume bedeuten Welthaftigkeit. Sie sind gekennzeichnet durch Pluralität, durch Sprache und Austausch.

Pluralität, Sprache und Austausch sind die Voraussetzung für politisches Handeln und zugleich dessen lebendiger Ausdruck – in der Aktualität wie in der Geschichtlichkeit. Sie erlauben es den Menschen, sich in die Gestaltung des Zusammenlebens so einzumischen, dass dieses korrigiert und neu definiert wird, wodurch das Getane zwar nie ungetan wird, wodurch aber die Geschichte eine neue Wendung nehmen kann. Diese Art der Einmischung schliesst Gewalt aus, jedoch nicht Leidenschaft.

Leidenschaft? Im Sinn Hannah Arendts bedeutet Leidenschaft die Kraft der rückhaltlosen Zustimmung zum “inter esse”, d.h. zum “Bezugsgeflecht” zwischen den Menschen, eine Kraft, die sich ebenso rückhaltlos in der Ablehnung der “weltzerstörerischen” und menschenverachtenden Gewalt äussert, in der Kritik und im Widerstand dagegen. Politische und soziale Indifferenz und Eskapismus, aber auch privates Profitstreben sind mit “Leidenschaft” unvereinbar. Leidenschaft zeigt sich letztlich als Gebrauch des Vermögens, ein persönliches Urteil zu treffen und für dieses einzustehen, immer zu Gunsten von etwas Grösserem als einem selbst. “Letztlich ist die Welt immer ein Produkt der Menschen”, sagt Hannah Arendt im gleichen Textfragment, “das menschliche Kunstwerk”.

Es geht um die Verbindung zwischen “eros” und “poros” (über “penia”, s. Platon, Symposion). Das Glück ist in der existentiellen Vergänglichkeit nie Besitz, sondern Streben im Wissen um mögliches Glück (s. Freud, Das Unbehagen in der Kultur: “Glück ist in der Schöpfung nicht vorgesehen”). Auch kann Glück unter Bedingungen der Entfremdung nur durch die Aufhebung der Entfremdung wahrhaft erfahren werden (cf. Frühschriften Marx’, insbes. Die “Pariser Manuskripte”). H. A. thematisiert in Vita activa (6. Kap., Par. 43) den Glücksbegriff im Zusammenhang mit dem empirisch-technischen Fortschritt in der Welt der herstellbaren Güter (Aufhebung des “Fluchs” resp. der Mühe der Arbeit) und rekurriert dabei auf Jeremy Bentham’s (1748-1832) “Glückskalkül” (jenes Glück, welches aus der Subtraktion des Unglücks übrig bleibt und das einer möglichst grossen Zahl von Menschen zugute kommen soll). Gemäss H.A. liegt dessen “Hedonismus” ein Misstrauen des Menschen sich selbst gegenüber zugrunde, da er sich selbst und nicht die ihn umgebende Welt als “verderbt” anschaue (ohne dass sie den Gegensatz zu J. J. Rousseau thematisiert). Auf spürbare Weise empfindet H. A. alle “Glückserfahrungen” als defizitär, ausgenommen jene, die sich aus dem – zukunftsgerichteten – Handeln unter Bedingungen der Pluralität ergeben, sowie jene, die aus der Kontemplation gewonnen werden können.

Maja Wicki / Zürich, 5. 2. 1998

[1] Von Ursula Ludz herausgegeben in “Was ist Politik?”, Verlag R. Piper, München 1993

 

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