Gibt es aus Kolonisation und Revolte einen kreativen Weg zum guten Zusammenleben?

Gibt es aus Kolonisation umd Revolte einen kreativen Weg zum guten Zusammenleben?

Vor wenigen Jahren lernte ich die algerische Schriftstellerin Assia Djebar hier in der Schweiz kennen. Sie präsentierte ihr neues Buch “Le Blanc d’Algérie” und einen Film  “La Zerda ou les chants de l’oubli”, den sie 1982 geschrieben und produziert hatte, und wir führten Gespräche. Dieser Film, aus Archivaufnahmen zusammengebaut, schildert die generationenlange Geschichte der maghrebinischen Kolonisation, eine Geschichte der nationalen kulturellen Fremddefinition, eine über unzählige Menschengeschichten sich fortsetzende und sich vervielfachende Geschichte der Beherrschung über die Sprache (resp. über die Namengebung), über die Kontrolle der Bedürfnisse, eine Geschichte der mangelnden Anerkennung, der Unterwerfung und der unendlichen Demütigung. Die Demütigung, das wurde deutlich, bestand und besteht in der Verunmöglichung der Eigendefinition der Bedürfnisse und der Art und Weise deren Erfüllung.

Verun-Möglichung bedeutet, im Sinn des Wortes, Unterbindung von Möglichkeit. Was als Möglichkeit unterbunden wird, soll nie Realität werden. Zumeist resultiert Verunmöglichung aus dem Missbrauch von Macht, als Folge von Herrschaft. Dass jede externe Definitionsmacht Missbrauch generiert und in gewaltbesetzte Herrschaft ausartet, wurde mir bei der Betrachtung des Films in der Abfolge der Bilder einmal mehr klar, und ich war davon erschüttert. Ich fragte mich, ob mit dieser Erkenntnis eine Erklärung der oft unklärbaren kollektiven Aufstände, zugleich aber auch individueller menschlicher Wutausbrüche einhergeht.

Ich erinnere mich, wie eine ähnliche Erschütterung von Frantz Fanon’s Buch “Les damnés de la terre” ausgegangen war, diesem Manifest des 1924 in der Französischen Kolonie Martinique geborenen Bauernsohns, der in Frankreich Philosophie und Medizin studiert hatte, während des Zweiten Weltkriegs in der Résistance mitkämpfte und anschliessend als Psychiater in Algerien während drei Jahren eine psychiatrische Klinik leitete, worauf er in einem öffentlichen Brief an den französischen Generalgouverneur demissionierte und sich der Algerischen Nationalen Befreiungsfront anschloss. 1961 erschien Fanon’s Buch in Paris, mit einem Vorwort von Jean Paul Sartre, in welchem dieser die europäischen Länder, die “Mutterländer”, aufruft, sich in Fanon’s Buch zu vertiefen, damit sie verstehen, was auf sie zukommt, nämlich die Frucht der Demütigung, nämlich die während Generationen  zurückgehaltene Wut, die sich lange nicht als Gewalt gegen das “Mutterland” und dessen Herrschaft zu richten wagte, sondern im kolonisierten Land internalisiert und in sog. “Bruderkriegen” ausgetragen wurde. Sartre schrieb im Vorwort, dass “der Bruder, der sein Messer gegen seinen Bruder erhebt, glaubt, das verabscheute Bild ihrer gemeinsamen Erniedrigung ein- für allemal zu tilgen”. Er versuchte deutlich zu machen, worum es Fanon ging: um die Notwendigkeit, eine kollektive Neurose zu heilen, die von den Kolonialherren durch die Einführung des “Eingeborenenstatus” geschaffen worden war, eines Status der Unmündigkeit, jenem ähnlich, der für die Kinder defininiert wird.

Das zutiefst Neurotisierende daran war, dass mit dem “Eingeborenenstatus” zugleich der Status des “Menschen” verlangt und verleugnet wurde, mit anderen Worten, dass von den Kolonisierten einerseits verlangt wurde, dass sie sich wie Angehörige des “Mutterlandes” bewegten, kleideten, arbeiteten, marschierten, als Soldaten kämpften, Steuern bezahlten, auch Schulen besuchen und studieren durften, dass sie sich aber andererseits immer ihrer Abhängigkeit und ihrer Minderwertigkeit bewusst bleiben sollten. Wollten sie den Status von “Menschen” im Sinn des “Mutterlandes” erlangen, mussten sie zu Komplizen der Kolonisierung werden.

Um die kollektive Neurose zu heilen, gibt es, nach Frantz Fanon, nur die Gewalt. Fanon rief mit seinem Buch zur Gewalt auf, zum Mut zur Gewalt. “Die Dekolonisation, die sich vornimmt, die Ordnung der Welt zu verändern, ist, wie man sieht, ein Programm absoluter Umwälzung. Sie kann nicht das Resultat einer magischen Operation, eines natürlichen Erdstosses oder einer friedlichen Übereinkunft sein”. Und Fanon  fuhr fort, dass so, wie sich die Kolonisierung unter dem Zeichen der Gewalt abspielte und erzwungen wurde, sowohl äusserlich in der Organisation des Landes, wie innerlich in den Köpfen der Kolonisierten, die Dekolonisierung nur durch Gewalt erfolgen könne. Nur über die Gewalt könne der Prozess der Rückgewinnung der zur Folklore denaturierten, fremdbeherrschten eigenen Kultur und der politischen sowie der ökonomischen Unabhängigkeit eingeleitet werden, dieser Prozess der Identitätsfindung, der letztlich unabschliessbar ist.

Ich weiss nicht, wer Fanon’s Buch noch kennt. In den sechziger Jahren, als es erschien, wirkte es wie ein Fanal. Ich war damals knapp über zwanzig. Der Aufruf zur Gewalt, die Gewalt selbst erschreckte mich. Gleichzeitig aber ahnte ich, dass der mit Gewalt verbundene Aufstand die kollektive Sprache für jene Auflehnung war, die ich selbst seit meiner Kinderzeit als Notwendigkeit empfand, für die ich einen Ausdruck suchte und auch auf unterschiedliche Weise fand, je nach den Möglichkeiten, über die ich vorweg verfügte. Ungehorsam, Widerspruch, Fluchten (“fugues”), künstlerische, resp. symbolische oder literarische Formen des Ausdrucks, dann auch internalisierte Gewalt, etwa ein schwerer Unfall, stets der Versuch von Gegenentscheiden zu jenen der Eltern bezüglich meiner Entwicklung und Bildung, erneute “fugues” und Eigenentscheide, eine politische Eigendefinition in völliger Abkehr von der von den Herkunftskreisen vertretenen Bürgerlichkeit, welche die Kolonisierung der Frauen als Programm aufrechterhielt, damit eine Absage an die vorgegebenen Modelle der bürgerlichen Sicherheit, Zustimmung letztlich nur noch zum eigenen Programm der Auflehnung gegen Herrschaft, gegen Missbrauch der Menschen in allen Bereichen, daher Zustimmung zu meinen Kindern als Sujekten, nicht als kolonisierbaren Objekten, Zustimmung zur Auflehnung der Schwachen im eigenen Land und anderswo, welche durch die Auflehnung stark wurden, kurz Zustimmung zu Programmen der Subversion von Herrschaft und der Eigendefinition.

Immer gab es Zeiten der Ermattung, in denen es schien, dass die Kraft zum Widerstand abhanden gekommen war. In diesen Zeiten, stellte ich fest, verlor ich das Gefühl von Realität, auch das Gefühl für den Rhythmus der Zeit, selbst das Gefühl für Recht und Unrecht. Die Unterwerfungszugeständnisse, die ich in solchen Zeiten machte, demütigten mich vor mir selber in einem Mass, dass Frustrationen und Selbstentfremdung mich immer kleiner und ohnmächtiger fühlen liessen. Um des puren Überlebens willen liess ich die Kolonialmacht gewähren, begehrte nicht mehr auf, aber spürte, wie ich buchstäblich erstickte. Der Verlust der Widerstandskraft bedeutete Verlust der Liebe zum Leben. Als ich mir dessen gewahr wurde, verstand ich, in welchem Mass der Kampf um die eigene Definition, der Kampf um die interne, eigene Definitionsmacht dem kollektiven Prozess der Dekolonisierung entspricht. “Es gibt kein richtiges Leben im falschen”, schreibt Adorno in den “Minima Moralia”. Der Prozess um das “richtige Leben” ist der Weg zur Heilung des verletzten Lebens. Er schliesst Fehlentscheide ein, Umwege und Irrwege, er ist ermüdend und kräftezehrend, er ist unabschliessbar, doch er ist die einzige Garantie für ein gelingendes Leben: im Sinn der Zustimmung zu einer zwar kolonial geplünderten, durch Kriege zutiefst zerstörten, jedoch wieder aufbaubaren Welt, in der ein vorweg neu zu leistender Aufbruch das knappe, aber menschlich tragende Glück des lebendigen Lebens bedeutet.

 

Verarbeitung eines Vortrags, der am 26. 10. 1996 anlässlich des European Women’s College in Zürich gehalten wurde.

 

 

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