Fremde sind wir uns selbst – Über Identität und Differenz

Fremde sind wir uns selbst

Über Identität und Differenz

 

  1. Mai 2001

 

Wie wird de Begriff „fremd“ empfunden? – wesentlich negativ, als Bedrohung, als Schecken? – oder irgendwie neugierweckend, als anziehende Differenz? – cf. in anderen Sprachen: étrange-étranger/-ère, strange – stranger, strano-straniero… Womit sind ie persönlichen Emüfindungen des Fremden / der Fremden verknüpft? – mit welche Erfahrungen? – mit je persönlichen, sozialen, ökonomischen, kulturellen, geschlechtermässigen, altersmässigen, sprachlichen, religiösen? – oder eher mit Doktrinen, Lehren, Ideologien und Definitionen, Fahnen und Pässen? Wie und wann wurden diese Empfindungen vermittelt? Gab es schon i der frühen Kindheit ein Erkennen der multiplen differenz des eigenen Ich im Vergleich, in der eigenen Wahrnehmung oder in der „Behandlung“, in den Talenten oder in der Art der Körperlichkeit in der Familie? – ev. Differenz in den Wünschen, Sehnsüchten und Ängsten? Welches waren die frühesten emotionalen Reaktionen auf Fremdes? – ev. Idealisierung, Projektion von Wünschen, von erniedrigungsphantasien, oder Ungeduld, Gefühle der Ablehnung, der Verunsicherung und Beklemmnis, da tradierte Normen nicht erfüllt wurde, sodass gerade diese Normen als Kriterien der Sicherheit verteidigt wurden (obwohl sie ev. generell abgelehnt wurden)? Waren mit dem Gefühl des eigenen Fremdseins Gefühle der Erniedrigung verbunden? – der des höheren Wertes, im Sinn der Unvergleichlichkeit?

(b) Ersten Absatz in Kristevas „Toccata“ S. 11 lesen.

 

Warum suchen wir über die Sprache nach uns selbst? Ist dies nicht zum vornherein ein trügerisches Unterfangen? Trägt die Sprache vielfach dazu bei, dass wir uns selbst Fremde sind?

Die Frage mag erstaunen. Sie muss jedoch so gestellt werden. Das heisst, sie kann auch anders gestellt werden: Gibt es überhaupt Erinnerungen an Erfahrungen, die der Sprache vorangingen? – ich meine Erfahrungen, die mit unserem Ich zu tun haben? Erinnerungen an Erfahrungen, an Geschehnisse, an Beziehungszusammenhänge aus der vorsprachlichen Zeit? Erinnerungen aus dieser frühen Zeit, über die wir verfügen, sind im Unbewussten gespeichert, sind aufspürbar und weckbar mit Hilfe von Träumen und Traumdeutungen, wie mit Hilfe von Bildern, z.B. Photos, oder von Schilderungen durch andere, eventuell uns nahestehende Menschen, durch welche starke Empfindungen geweckt werden, die sich im Verborgenen als Erinnerung erhalten konnten. Die sprachlichen Möglichkeiten, diese wiederzugeben, nähern sich vielleicht Bildern. Wir bezeichnen sie als Erfahrungen der Kälte oder der Wärme, des Erschreckens oder des Wohlbefindens, als gosses Dunkel oder Licht, als rot, grün, schwammig und so weiter. Träume, Fieberphantasien und andere Nachterfahrungen prägten sich auf diese Weise ein, früheste Erfahrungen der Berührung oder der Verlassenheit, des Alleinseins und des Schmerzes. Wir wissen nicht genau, wie und wann sich die Worte in uns festsetzten, die das Ich als Ich in Verbindung mit dem Namen und mit den Empfindungen zusammenbrachten. Doch wir wissen, dass die angelernten Worte sich schnell des Wortlosen bemächtigen, dass seither – quasi auf Abruf – auch das Sprachlose und Unausgesprochene bei Bedarf in ein Wortkleid gesteckt werden kann.

So früh und so unausweichlich wurden wir durch die Sprache in die Welt eingebunden, dass für alles, was uns angeht, eigentlich nur die Namen, Prädikate und Verben, die “Pfui” und “Brav” zur Verfügung standen (vielleicht heute noch zur Verfügung stehen), die den Bildern und Empfindungen aus Erziehungsgründen übergestülpt wurden, die das Beziehungsgeflecht ordneten und hierarchisch werteten und die unsere ersten Handlungen als anarchisch und unerlaubt oder als ordentlich und mithin als erlaubt klassifizierten. Die bewirkten – neben vielen anderen Begleitumständen (z.B. die Beziehung der Eltern zu einander, die gesellschaftlichen Umstände, vorangehende oder nachfolgende Geschwister, Gesundheit oder Krankheit etc.) – dass wir uns selbst Fremde wurden, mit Ausnahme einiger weniger Aspekte der Ich-Gewissheit.

Wir waren, falls Deutsch gesprochen wurde, z.B. das “es”: das Kind, das Mädchen. “Es” schläft, hiess es, “es” trötzelt, “es” ist ein liebes Kind oder eben “es” ist kein liebes Kind. Dem lieben Kind – dem fleissigen, bescheidenen und gehorsamen Kind, demjenigen, das nicht maulte, das schwieg, wenn die Erwachsenen sprachen, das nicht neugierig war, das zum Schlafen die Händchen über der Bettdecke faltete, dem lieben Kind taten die bösen Tiere und Riesen nichts im Wald und eines Tages würde der Prinz kommen und “es” wachküssen, wenn “es” nur lange genug vor sich hindämmerte. Die Märchensprache war nicht anders als die reglementierte Sprache der grossen und kleinen Herrschaftsstrukturen – derjenigen von Familie, Schule und Gesellschaft -, in die wir eingebunden waren. Realität und Fiktion unterschieden sich nicht in der Sprache. Wohin konnte die Phantasie entfliehen, in welche Konstrukte der Ich-Sicherheit, des Ich-Werts? Und vor allem:

Wie konnten wir mit dieser Sprache lernen, mit dem Ich unsere eigene vielfältige, unbekannte Subjektivität zu meinen – nicht das “es”, mit dem wir bezeichnet wurden? Wie kamen wir dazu, die Sprache unserem Bedürfnis gefügig zu machen, unsern Phantasien und der Erfahrung, einen eigenen Willen und starke Wünsche zu haben, Widerstand zu spüren gegen Anweisungen und Befehle, Wahres von Unwahrem zu unterscheiden, kurz: ein anerkanntes, respektiertes Subjekt zu sein – und nicht ein Es-Objekt?

Wie bauten wir die Beziehung zwischen unserer Innenwelt und der Sprache auf, diese innerweltlich-sprachliche Spiegelbildlichkeit, diese nicht irgendwann gefestigte, sondern die ständig sich verändernde und ständig in Frage gestellte Beziehung? So schnell kann sie abbrechen. Manche von uns, die glaubten, die Sprache – “ihre” Sprache – gefunden zu haben, sind wieder verstummt. “Schmal ist die Identität der Sprache”, sagt Herta Müller vor einigen Jahren in einem Interview. Auch die Sprache wird zum fremden Objekt gemacht.

Durch eine sorgfältige analytische Arbeit, manchmal durch Begegnungen und berührende Gespräche, häufig durch Musik oder durch Bilder, auch durch Texte von Dichterinnen (denn alle sind sie Dichterinnen, die Schriftstellerinnen, Denkerinnen, Lyrikerinnen und briefeschreibenden Revolutionärinnen etc.), die auf irgend eine Weise vermögen, Verborgenes zu wecken, die z.B. versuchten (oder versuchen), die “schmale Identität”, die wir über die Sprache gefunden werden kann, zu verdichten. Doch der Weg dahin ist Nachtweg oder Tagweg, Schmerzensweg häufig. Manchmal gibt es ein Innehalten, eine Zeitlosigkeit, ein Glück: Nischen, die sich unversehens öffnen. “Zu wissen, dass die Zeit eine Einbildung ist und nichts mich zur Eile drängt. Ich möchte einmal wirklich schauen dürfen und die Dinge (in mir drin) so sehen, wie sie sich uns nie zeigen” schreibt Marlen Haushofer. Die Nischen sind oft trügerische Rastplätze. Wer unbekümmert den Schritt hinein wagt, fällt ins Leere. Die Liebe? fragt ihr. Die Liebe als stärkster Hunger, immer als unbenennbare Sehnsucht und zugleich als einzelner, konkreter Wunsch?

“Liebe”, das brennende, zentrale Hungergeflacker des Ich, ist über die Sprache ein Wortkleid, das im Lauf der Sprachdomestizierung seit der frühen Kindheit vielem übergestülpt wurde, vorweg, immer wieder, das nicht den Hunger stillt. Ob das Wortkleid stimmt oder nicht, ob es übereinstimmt mit der eigenen, vielleicht trügerischen subjektiven Erfahrung – von der “Rippe Adams” und der “Trennungsagonie” (Silvia Plath) zum “schönen Beischlaf” (Elfriede Jelinek) zum “Lebewohl” und Verzicht aus Grossmut (Karoline von Günderrode) zu “Christa schluckt viel” (Sabine Peters) zur “Lust am Taumel” (Friederike Mayröcker) bis zu den “Blicken meines Kindes” (Sibilla Aleramo)  –  wer kann es wissen, ausser der sprachesuchenden, ichsuchenden, schreibenden einzelnen Menschen?  “Die Liebe ist die Zeit und der Raum, in denen sich das ‘Ich’ das Recht nimmt, aussergewöhnlich zu sein”, hält Julia Kristeva fest.

Und gibt es neben dem verborgenen Ich ein “gewöhnliches” Ich, das nicht fremd ist? Dasjenige, das mir z.B. im Angsttraum entgegenblickt, das auf erschreckende Weise “von mir weggeführt wird in einem Sträflingskleid” (Hilde Domin)? – Spiegelbild des gedemütigten Objekts, das dem um seine “schmale Identität” bangenden Subjekt ständig zum Verwechseln ähnlich ist? Wie eine Stärkung verstehe ich daneben das Bekenntnis Rosa Luxemburgs, das sie während des Gefängnisaufenthaltes in einem Brief an den fernen Geliebten festhielt: “Aber ich schreibe ja eigentlich nur für eine Person: für mich selbst. Die Zeit, als ich die “Akkumulation” schrieb, gehört zu den glücklichsten meines Lebens.”

Warum war sich Rosa Luxemburg selber in keiner Weise sicher? Können wir tatsächlich die Sprache als Weg zu uns selbst einsetzen? Vielleicht trotz aller Verfänglichkeiten, trotz der Zweifel und des Verstummens einer der untrüglichsten Wege?

Nochmals, genauer: die Sprache entsteht im Geflecht der Kindheit. Die Kindheit ist der dunkle Erdteil der Kolonisation. Die Kolonisation setzt mit der Namengebung ein. Die Namengebung ist die erste Besetzung des Kindes durch die Eltern. Diese Besetzung erfolgt durch eine mächtige Projektion von Bildern und Geschichten – seien dies die vorbildhaften gelebten Geschichten verstorbener Angehöriger oder irgendwelcher Helden und Heldinnen, toter, vielleicht auch noch lebender; seien dies die heimlichen nicht gelebten Geschichten der Mutter oder des Vaters, die Traumgeschichten und Wunschgeschichten, die sich um ein Bild, resp. um einen Namen ranken oder die, auf einen Namen eingefärbt, auf das Kind geheftet werden wie eine definitive, nicht austauschbare, nicht abwaschbare Farbe, lange bevor das Kind beginnen kann, seine eigenen Geschichten zu wagen. Der Name entspricht dem Bild, das die Eltern aus sich schaffen, aus dem ihnen gemässen Mass und Format, ein statisches, ein fixiertes Bild, das sie dem Kind als Vorgabe für sein Verhalten in der Welt auferlegen, je nach dem, ein Bild des unauffälligen, blassen und angepassten Verhaltens oder aber des ungewöhnlichen, auffälligen, vielleicht sogar des exotischen. Dieses Bild richtet sich in erster Linie nach geschlechtsspezifischen und rollenspezifischen Eigenschaften, welche Vater oder Mutter für sich selbst oder für den Partner, resp. die Partnerin beanspruchen, oder welche sie vermissen und in einer kompensatorischen Projektion mit dem Namen dem Kind überziehen wie ein viel zu grosses Kleid. Bei Hannah Arendt wird Gebürtlichkeit der Freiheit gleichgesetzt, doch ausserhalb des existenzphilosophischen Modells, in welchem das Verhängnis der Sterblichkeit einer dialektischen Gegensetzung bedarf, eben jener derFreiheit, gibt es für das Kind zuerst vor allem die von den Eltern definierte, durch sie geschaffene Konditionalität, in welche es hineingeboren wird und in welche es hineinwächst. Aber indem das Kind in das kulturell und biographisch elternmassgeschneiderte Kleid hineingestellt wird,  in das durch die persönlichen Wünsche der Eltern und durch gesellschaftliche Normen enggeheftete Identitätskorsett, ergibt sich die erste und die vorweg wichtigste Anforderung an die Freiheit: aus der gebürtlichen Potentialität in die Aktualisierung zu treten und dieses Korsett zu sprengen. Doch davon später.

In Fortsetzung der Namengebung des Kindes erfolgt durch die Eltern die Namengebung der Welt. Existenz ist immer zugleich Welthaftigkeit. Beide sind Gegenstand kulturell definierter, über Generationen konstruierter Beherrschungsstrategien. Das Kind selbst bietet Laute, Namen an für die Gesichter, die sich ihm zuwenden und für die Dinge, die es erblickt, die es ertastet oder kostet und hört, Laute und Namen in allen Sprachen der Welt, welche die Eltern zwar zur Kenntnis nehmen, sogar mit Entzücken, aber verwerfen und durch andere, “richtige” ersetzen, durch Namen, mit denen sie die Gesichter benennen und die Dinge bezeichnen. Die Gesichter neigen sich nicht zu und die Dinge bleiben unerreichbar, wenn sie nicht mit den richtigen Namen bezeichnet werden. Mit den Namen wird die Bedeutung der Dinge definiert. Daher kann selbst die Sprachvermittlung als eine Herrschaftsstrategie verstanden werden, nicht nur als “Sprachspiel” im Wittgenstein’schen Sinn. Augustinus hält in den “Confessiones” (I/8) fest: “Nannten die Erwachsenen irgend eine Gegenstand und wandten sie sich dabei ihm zu, so nahm ich das wahr und ich begriff, dass der Gegenstand durch die Laute, die sie aussprachen, bezeichnet wurde, das sie auf ihn hinweisen wollten. (…) So lernte ich nach und nach verstehen, welche Dinge die Wörter bezeichnen (…) Und ich brachte, als nun mein Mund sich an diese Zeichen gewöhnt hatte, durch sie meine Wünsche zum Ausdruck”. Fügt man sich der Namengebung nicht, bleiben die Wünsche unerfüllt. Als ich sechs Jahre alt war und infolge eines schweren Unfalls einen ganzen Sommer im Krankenhaus verbringen musste, wünschte ich mir sehr, Früchte zu essen, die ich einmal gesehen, aber nie gekostet hatte, Früchte mit süssem Duft, mit pelziger Haut und roten Wangen. Ich nahm an, sie hiessen Aprikosen, da ich diesen Namen in Verbindung mit köstlichen Früchten gehört hatte, die ich wiederum auch nicht kannte. Erwachsene brachten mir Aprikosen, in der Meinung, damit meinen Wunsch zu erfüllen, doch es waren nicht die Früchte, die ich zu essen wünschte. Den Namen “Pfirsich” kannte ich nicht, so dass mir den ganzen Sommer über und noch länger der Genuss dieser Früchte verwehrt blieb.

Mit der Namengebung setzt die Kolonisierung der Existenz und Welthaftigkeit des Kindes ein, und gleichzeitig nimmt die Kontrolle seiner Bedürfnisse ihren Anfang. Die tatsächliche Stillung und Erfüllung der Bedürfnisse, aber auch deren verweigerte oder prekäre Erfüllung geschieht nie anders als in Verhältnissen der Abhängigkeit. Abhängigkeit aber bedeutet Unterwerfung und Unfreiheit, ein Verhältnis, dem das Kind zustimmen muss, um nicht Hungers zu sterben. Zu den dringendsten materiellen Bedürfnissen gehört jenes nach Nahrung wie jenes andere nach Entledigung von der Nahrung, nach Defäkation. Die Kontrolle sowohl der Nahrungseinnahme wie der Ausscheidungen schafft grosse Macht, und noch viel mehr Macht schafft  die Koppelung der Erfüllung der materiellen Bedürfnisse mit der –  genügenden oder der ungenügenden – Erfüllung des Bedürfnisses nach Anerkennung und nach Liebe. Die Erfüllung dieser wichtigsten immateriellen Bedürfnisse wird mit einem komplizierten konditionalen System verknüpft, in welchem Beschämung und die Erzeugung von Scham beim Kind über sein ungenügendes Verhalten – ungenügend in Hinblick auf die namen- und vorbildverknüpfte normative Erwartung der Eltern –  eine wichtige Rolle spielen. Beschämung und Scham sind interne Konstrukte der Erniedrigung, die auf der Seite der Eltern wiederum wettgemacht werden durch unerreichbare Grösse sowie durch Güte, jedoch zumeist durch ein konditionales Zugeständnis von Güte. Für das Kind wird klar, dass das So- und-nicht-anders-sein-Sollen, aus welchem das Identitätskorsett geschaffen ist, nie erfüllbar ist,  dass es immer in der Schuld bleiben wird. So zeigen sich als Möglichkeiten des Verhaltens vor allem zwei: Anpassung, d.h. eine Art der demütigen Unterwerfung unter die nicht erfüllbare Norm, oder Auflehnung und Eigendefinition der Norm. So wird am einzelnen kleinen Menschen geübt und durchexerziert, was ganzen Völkern und Nationen, ganzen Kontinenten von ihren “Mutterländern” angetan wurde, zum Teil heute noch angetan wird – und was diese zu sprengen versucht haben: Kolonisation.

Vor einigen Jahren lernte ich die algerische Schriftstellerin Assia Djebar hier n der Schweiz kennen. Sie präsentierte damals ihr neuestes Buch “Le blanc d’Algérie” und einen Film  “La Zerda ou les chants de l’oubli”, den sie 1982 geschrieben und produziert hatte. Dieser Film, aus Archivaufnahmen zusammengebaut, schildert die generationenlange Geschichte der maghrebinischen Kolonisation, eine Geschichte der nationalen kulturellen Fremddefinition, eine über unzählige Menschengeschichten sich fortsetzende und sich vervielfachende Geschichte der Beherrschung über die Sprache (resp. über die Namengebung), über die Kontrolle der Bedürfnisse, eine Geschichte der mangelnden Anerkennung, der Unterwerfung und der unendlichen Demütigung. Die Demütigung, das wurde deutlich, bestand und besteht in der Verunmöglichung der Eigendefinition der Bedürfnisse und der Art und Weise deren Erfüllung.  Verun-möglichung bedeutet, im Sinn des Wortes, Unterbindung von Möglichkeit. Was als Möglichkeit unterbunden wird, soll nie Realität werden. Zumeist resultiert Verunmöglichung aus dem Missbrauch von Macht, als Folge von Herrschaft. Dass jede externe Definitionsmacht Missbrauch generiert und in Herrschaft ausartet, wurde mir bei der Betrachtung des Films in der Abfolge der Bilder einmal mehr klar, und ich war davon erschüttert.

Ich erinnere mich, wie eine ähnliche Erschütterung von Frantz Fanon’s Buch “Les damnés de la terre” ausgegangen war, diesem Manifest des 1924 in der Französischen Kolonie Martinique geborenen Bauernsohns, der in Frankreich Philosophie und Medizin studiert hatte, während des Zweiten Weltkriegs in der Résistance mitkämpfte und anschliessend als Psychiater in Algerien während drei Jahren eine psychiatrische Klinik leitete, worauf er in einem öffentlichen Brief an den französischen Generalgouverneur demissionierte und sich der Algerischen Nationalen Befreiungsfront anschloss. 1961 erschien Fanon’s Buch in Paris, mit einem Vorwort von Jean Paul Sartre, in welchem dieser die europäischen Länder, die “Mutterländer”, aufruft, sich in Fanon’s Buch zu vertiefen, damit sie verstehen, was auf sie zukommt, nämlich die Frucht der Demütigung, nämlich die während Generationen  zurückgehaltene Wut, die sich lange nicht als Gewalt gegen das “Mutterland” und dessen Herrschaft zu richten wagte, sondern im kolonisierten Land internalisiert und in sog. “Bruderkriegen” ausgetragen wurde. Sartre schrieb im Vorwort, dass “der Bruder, der sein Messer gegen seinen Bruder erhebt, glaubt, das verabscheute Bild ihrer gemeinsamen Erniedrigung ein- für allemal zu tilgen”. Er versuchte deutlich zu machen, worum es Fanon ging: um die Notwendigkeit, eine kollektive Neurose zu heilen, die von den Kolonialherren durch die Einführung des “Eingeborenenstatus” geschaffen worden war, eines Status der Unmündigkeit, jenem ähnlich, der für die Kinder defininiert wird. Das zutiefst Neurotisierende daran war, dass mit dem “Eingeborenenstatus” zugleich der Status des “Menschen” verlangt und verleugnet wurde, mit anderen Worten, dass von den Kolonisierten einerseits verlangt wurde, dass sie sich wie Angehörige des “Mutterlandes” bewegten, kleideten, arbeiteten, marschierten, als Soldaten kämpften, Steuern bezahlten, auch Schulen besuchen und studieren durften, dass sie sich aber andererseits immer ihrer Abhängigkeit und ihrer Minderwertigkeit bewusst bleiben sollten. Wollten sie den Status von “Menschen” im Sinn des “Mutterlandes” erlangen, mussten sie zu Komplizen der Kolonisierung werden.

Um die kollektive Neurose zu heilen, gibt es, nach Frantz Fanon, nur die Gewalt. Fanon rief mit seinem Buch zur Gewalt auf, zum Mut zur Gewalt. “Die Dekolonisation, die sich vornimmt, die Ordnung der Welt zu verändern, ist, wie man sieht, ein Programm absoluter Umwälzung. Sie kann nicht das Resultat einer magischen Operation, eines natürlichen Erdstosses oder einer friedlichen Übereinkunft sein”. Und Fanon  fuhr fort, dass so, wie sich die Kolonisierung unter dem Zeichen der Gewalt abspielte und erzwungen wurde, sowohl äusserlich in der Organisation des Landes, wie innerlich in den Köpfen der Kolonisierten, die Dekolonisierung nur durch Gewalt erfolgen könne. Nur über die Gewalt könne der Prozess der Rückgewinnung der zur Folklore denaturierten, fremdbeherrschten eigenen Kultur und der politischen sowie der ökonomischen Unabhängigkeit eingeleitet werden, dieser Prozess der Identitätsfindung, der letztlich unabschliessbar ist.

Ich weiss nicht, wer Fanon’s Buch noch kennt. In den sechziger Jahren, als es erschien, wirkte es wie ein Fanal. Ich war damals knapp über zwanzig. Der Aufruf zur Gewalt, die Gewalt selber erschreckte mich. Sie richtete sich zugleich gegen die erlittene Gewalt, auf Grund des eigenen Fremdseins, wie gegen fremdes Fremdsein. Ich ahnte damals, dass der mit Gewalt verbundene Aufstand die kollektive Sprache für jene Auflehnung war, die viele Menschen seit der Kinderzeit als drängende Notwendigkeit empfinden, je nach den Möglichkeiten, über die sie verfügen, den Hunger nach Liebe zu stillen, in der hoffnung, dadurch das Fremdsein aufzulösen. Ungehorsam, Widerspruch, Fluchten (“fugues”), künstlerische, resp. symbolische oder literarische Formen des Ausdrucks, dann auch internalisierte Gewalt, etwa ein schwerer Unfall, Süchte, der Versuch von Gegenentscheiden zu jenen der Eltern bezüglich der Entwicklung und Bildung, erneute “fugues” und Entscheide, der Versuch politischer Eigendefinitionen in völliger Abkehr von der von den Herkunftskreisen vertretenen Bürgerlichkeit, welche die Kolonisierung der Frauen als Programm aufrechterhielt, damit eine Absage an die vorgegebenen Modelle der bürgerlichen Sicherheit, Zustimmung letztlich nur noch zum eigenen Programm der Auflehnung gegen Herrschaft, gegen Missbrauch der Menschen in allen Bereichen, später eventuell Zustimmung zu eigenen Kindern als Subjekten, nicht als kolonisierbaren Objekten, Zustimmung zur Auflehnung der Schwachen im eigenen Land und anderswo, welche durch die Auflehnung stark wurden, kurz Zustimmung zu Programmen der Subversion von Herrschaft und der Eigendefinition – immer der Versuch, das eigne Fremdsein zu ertragen oder zu klären.

Immer gibt es Zeiten der Ermattung, in denen es scheint, dass die Kraft zum Widerstand, eventuell die kreative Kraft, abhanden gekommen ist. In diesen Zeiten kann das Gefühl von Realität verlorengehen, auch das Gefühl für den Rythmus der Zeit, selbst das Gefühl für Recht und Unrecht. Unterschiedliche Unterwerfungszugeständnisse, die in solchen Zeiten gemacht werden, demütigten den Menschen vor sich selber in einem Mass, dass Frustrationen und Selbstentfremdung ihn sich immer kleiner und ohnmächtiger fühlen liessen. Um des puren Überlebens willen lässt er vielleicht die Kolonialmacht gewähren, begehrt nicht mehr auf, aber spürt, wie er/sie buchstäblich langsam erstickt.

Der Verlust der Widerstandskraft bedeutet Verlust der Liebe zum Leben. Wer sich dessen gewahr wird, beginnt zu verstehen, in welchem Mass der Kampf um ein Erkennen des eigenen Ich, auch um eine breite, eigene Definition des Ich dem kollektiven Prozess der Dekolonisierung entspricht. “Es gibt kein richtiges Leben im falschen”, schrieb Adorno in den “Minima Moralia”. Der Prozess um das “richtige Leben” ist der Weg aus der verletzten, ungestillten Sehnsucht nach Wunscherfüllungen zur sorgfältigen Autonomie des sich in seiner Vielfältigkeit langsam erkennden Ich. Auc dieser Weg schliesst Fehlentscheide ein, Umwege und Irrwege, er ist ermüdend und kräftezehrend, er ist, solange das lebendige Leben sich entfalten kann, unabschliessbar. Er ist die einzige Garantie für ein gelingendes Leben – im Sinn der Zustimmung zu einer zwar teilweise noch fremden, kolonial geplünderten, jedoch wiederaufbaubaren Welt, in der ein vorweg neu zu leistender Aufbruch das Glück der Freiheit bedeutet, auch dieses als tief verwurzelte Sehsucht noch kaum voll entfaltet, aber zunehmend stärker verknüpft mit dem eigenen Ich.

Text lesen aus dem Beginn von Julia Kristeva.

 

 

 

(2) Identität: Begriffsklärung

Und was bedeutet der Begriff “Identität”? In welchen Anwendungen finden Sie ihn? (Identitätspapiere, Identitätsbestätigung bei Warenkontrollen, Identitätserziehung, Identitskrise, Berufsidentität, weiblliche/männliche Identität, kulturelle Identität etc.). “Identität” ist ein relationaler Begriff, d.h. er stellt ein Verhältnis dar: ein Verhältnis der Gleichheit, resp. der Übereinstimmung. Das dem Wort “Identität” innewohnende “idem” (eadem, idem) bedeutet “derselbe”, “dasselbe”, “dieselbe”. Die ursprüngliche Bedeutung findet sich am klarsten in der mathematischen Gleichung: a = a. Schon weniger klar ist die Bedeutung von Identität etwa beim Vergleich von Waren und Warendeklarationen, oder von Person und Personalausweis. (Fälschungen bei persönlichen Dokumenten oder im Warenverkehr kommen vor; falsche Papiere waren häufig fürs Überleben von Menschen unerlässlich). Bei kultureller, resp. nationaler “Identität wird deutlich, in welchem Ausmass die Bedeutung problematisch werden kann, da es dabei um kollektive Phaenomene geht, die Wertcharakter besitzen. Wer setzt die Massstäbe für “Gleichheit” fest? Wer darf dazugehören, wer nicht? Welches sind die Konsequenzen?

Die – nicht-problematische – Bedeutung von “Identität” findet sich am klarsten in der existentiellen Befragung meiner selbst, bei der ich mich als dasselbe Individuum wiedererkenne, das ich vor einer Woche, vor einem Jahr oder vor dreissig und mehr Jahren war, auch wenn die meisten äusseren Erkennungsmermale sich verändert haben. Ich kann diese Erfahrung durch die rekonstruierbare und erzählbare individuelle Geschichte belegen, in der ich mich als das gleiche handelnde oder leidende, resp. als das gleiche aktive oder passive Subjekt wiedererkenne.

Der existenzphilosophische Ansatz der Befragung von Identität gründet somit in der Frage nach dem Subjekt des Handelns. Diese Frage impliziert jedoch weitere Fragen: jene nach der Wahl des Handelns und jene nach der Legitimation dieser Wahl. Wie komme ich dazu so zu handeln, wie ich handle? Dabei wird vorausgesetzt, dass ich im Prinzip gut handeln will. Wie aber weiss ich, was gut handeln bedeutet? Worauf stützt sich meine Wahl? Auf eine externe Autorität (z.B. Eltern, Religion, Staat, politische Führungsgestalt)? Auf eine interne Autorität (das Über-Ich, das Gewissen)? Auf einen nur auf der Subjekthaftigkeit begründeten und daher nicht weiter hinterfragbaren Grundsatz wie etwa den kategorischen Imperativ, gemäss dem die subjektiven Gründe fürs handelns so gewählt sind, dass sie allgemeines Gesetz werden könnten? Über den Rekurs auf eine externe oder interne Autorität, auf ein Prinzip oder, eventuell, auf meine eigene Urteilskraft entscheide ich selber. Unter verschiedenen Möglichkeiten wähle ich eine aus.

Die existenzphilosophe Frage nach der Identität mündet somit ein in die Frage nach der Freiheit. Sie wird dadurch zur ethischen Frage.

Bevor wir weiter auf diesen existenzphilosophischen Ansatz eingehen, bevor wir auch klären, was wir unter Existenzphilosophie, unter Ethik und Moral verstehen, will ich erläutern, was die konventionellen ontologischen Identitätstheorien kennzeichnet und worin ich deren Mangel sehe. Auch hier stellt sich die Frage nach der Identität als Frage einer Relation, einer Relation der Gleichheit oder der Übereinstimmung, jedoch als eine, die das Sein betrifft. Es geht mithin um eine metaphysischen Relation z.B. zwischen dem absoluten Sein und dem menschlichen Sein oder zwischen dem Fürsten und dem Untertanen, dem Vater oder der Mutter und dem Kind usw. Identität in der traditionellen Bedeutung setzt Gleichheit voraus und verbindet diese Voraussetzung mit der Forderung, sie durch gutes Verhalten, durch entsprechende Anpassung zu erreichen. Es geht hier um eine ontologisch begründete Übereinstimmung des Abbilds mit dem Bild oder dem Vorbild, des Untergeordneten mit dem Übergeordneten, des Kinds mit den Eltern, des Lehrlings mit dem Meister, des Schülers mit dem Lehrer, der Frau mit dem Mann, deren Realisierung als Erziehungs- oder Unterwerfungsleistung gefordert wird.

Meine These ist, dass alle ontologischen Identitätstheorien, sowohl die religiösen wie die politischen, der Legitimation von Herrschaft dienen. Dass sie eine Disziplinierungsfunktion gegenüber dem bedrohlich Wilden der Individualität anstreben, gegenüber dem Anarchischen, das möglicherweise allein schon Kindsein oder Weiblichkeit beinhaltet, letztlich gegenüber der Freiheit des Subjekts. Dass sie letztlich jedes Sosein an einem “Sein an sich”, an einem absoluten Sein messen. Auf unausgesprochene Weise liegen sie der patriarchalen Geschlechterordnung zugrunde sowie den einseitig auf Gehorsam und Unterordnung ausgerichteten Erziehungstheorien. Sie machen die Normativität der Assimilationsforderung Fremden gegenüber aus. Auf überaus deutliche Weise zeigen sie sich in den Gleichschaltungsforderungen antifreiheitlicher politischer Parteien, auf extreme Weise in totalitären Systemen. Identität im konventionellen Sinn konstituiert sich vor allem durch die Differenz zu jenen (oder jenem), die (oder das) “anders” sind (oder ist).  So entsteht auch jenes Phaenomen, das als kollektive Identität Zugehörigkeit zu einer grösseren Einheit bedeutet. Da “dazugehören” in den meisten Fällen als etwas Erstrebenswert gilt, d.h. mit positiven Werten besetzt ist, wird die Differenz resp. das Anderssein negativ bewertet, als minderwertig oder als bedrohlich. Die Folgen dieser impliziten oder expliziten Wertung von  Differenz oder Divergenz sind Sanktionen und Ausschluss (z.B. Exkommunikation durch die katholische Kirche, Cherem in der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde, Pranger, Landesverweisung, oder Enterbung resp. Ausschluss aus der Familie, Ausschluss aus einem Verein, Nichtzulassung zu einer Veranstaltung, Diffamierungen wie “der/die ist kein/e echte/r Schweizer/in, etwa bei den Armeegegnern/-gegnerinnen, bei den Kommunisten/Kommunistinnen, Atheisten/Atheistinnen, Ausschluss bis zu den Rassegesetzen, bis zum “J” in den Pässen, zum Judenstern und zur Selektionsrampe, bis zur Vernichtung des “unwerten” Lebens).

Die Folgen der kollektiven Identität zeigen sich als Gefühle der Stärke, die sich auf das einzelne Mitglied des Kollektivs übertragen, ob dieses selbst schwach und bedeutungslos sei. Um die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv deutlich zu machen, werden häufig sichtbare Identitäsmerkmale geschaffen, Merkmale einer – für die Mitglieder positiv besetzten – Erkennbarkeit  (Uniformen, Trachten, die Glatze bei den Skin Heads, Rastafafrisuren, der Fisch auf den Autos der Evangelikalen etc.). Indem diese Merkmale übernommen werden, wird häufig nicht nur Zugehörigkeit, sondern Unterwerfung unter eine kollektive Identitäts signalisiert,d.h. Verzicht auf Individualität, Verzicht auf persönliche Differenz und auf persönliche Autonomie.

(Mit dem Identitätsbegriff verwandt ist der Begriff “Heimat”: ein ganz und gar emotionaler Begriff, die Vergrösserung oder Verstärkung von “Heim” (da, wo man zuhause ist; wo man unterkommt; “foyer”: da, wo das Herdfeuer brennt). In welchen Anwendungen kennen wir den Begriff? (Heimatgefühle, Heimatdichtung, Heimatlieder, Heimweh, aber auch Heimwehr etc.). Da er ebenfalls die Bedeutung von “Zugehörigkeit” miteinschliesst, ist er dem Identitätsbegriff nahe, wird jedoch häufig auch im metaphorischen Sinn verwendet (“meine Heimat ist meine Sprache”, “meine Heimat ist in den Herzen derjenigen Menschen, die ich liebe”  etc). Der Begriff wird dann problematisch, wenn er, analog zum Begriff “Vaterland” (Mutterland?) zu politischen Zwecken instrumentalisiert wird (Blut- und Bodenideologie, die türkische “Mutterlandspartei”, die sog. Patriotische resp. vaterländische Front etc).

Wohl gab es seit dem Beginn der Neuzeit Denker und Denkerinnen, die die programmatische Unterwerfungs- und Zähmungsabsicht identitätsorientierter Weltbilder und damit verbundener Erziehungssysteme durchschauten und kritisierten. So etwa der 1530 in Sarlat im Périgord geborene Etienne de la Boëtie, der mit 33 Jahren in Germignan starb, von dem posthum – im Jahre 1577 – von seinem Freund Michel de Montaigne ein Buch veröffentlicht wurde, das einzige Werk, das von ihm erschien und dessen Titel “Contr’un” oder “Discours de la servitude volontaire” allein schon Aufruhr verursachte, dessen Inhalt umso mehr. Es ist eine bittere Kritik am mangelnden Widerspruch gegen Unterwerfungsforderungen, die durch Herrschaftsstrukturen und Erziehung vermittelt werden, eine Kritik, die bis heute ihre Sprengkraft nicht verloren hat. “Wohl bestimmt die Natur den Menschen zur Freiheit und verleiht ihm den Willen dazu, aber sein Wesen ist so, dass er die Züge trägt, die die Erziehung ihm aufprägte. Daraus folgt, dass dem Menschen alles, wozu man ihn erzieht und gewöhnt, zur zweiten Natur wird”. Daher kommt es zum sklavischen Angleichungsstrebens der Untertanen an den Fürsten, an den “Tyrannen” . “Sie müssen nicht nur tun, was er sagt, sondern denken, was er will und oft noch seinen Gedanken zuvorkommen, um ihn zu befriedigen. Es reicht nicht, ihm zu gehorchen, sie müssen ihm auch noch zu Gefallen sein, (…) sein Vergnügen für das ihre halten, den eigenen Geschmack um seinetwillen aufgeben, ihren Charakter verändern und ihre Natur verleugnen. (…) Heisst das wohl glücklich leben? Heisst das leben?” fragt Etienne de la Boëtie.

Etienne de la Boëtie stellt fest, dass autoritäre Identitätsforderungen, denen widerstandslos stattgegeben wird, nicht nur die Freiheit, den Geschmack, den Charakter, ja die “Natur” der Menschen pervertieren, sondern zutiefst das Glück, das wirkliche Leben in Frage stellen.

Zweihundert Jahre später formuliert Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) seine in “Emile” niedergelegte Erziehungskritik einer ähnlichen Linie entlang, die dann weitere Erziehungstheoretiker aufnahmen, so etwa Karl Philipp Moritz oder Pestalozzi, Fröbel und später viele andere mehr. Rousseau ist der Überzeugung, dass Erziehung der naturgemässen Entwicklung der individuellen Anlagen des Kindes keine Hindernisse entgegenstellen darf, auch dass die von der Gesellschaft diktierten Angleichungs- und Unterwerfungsforderungen die Natur des jungen Menschen verderben. (Bei Rousseau mündet die Erziehungskritik allerdings in eine frauendiskriminierende Geschlechterdifferenz ein sowie in eine allgemeine Kulturnegation, in die generelle Forderung des “retour à la nature”, die wiederum verhängnisvoll ist).

Dass identitätsstiftende Angleichungsforderungen vor allem der weiblichen Natur keine eigenständige Entfaltung zugestehen, kritisierte als eine der ersten Rahel Varnhagen. Sie lebte von 1771 bis 1833. Ihre Kritik am Paria-Dasein der Frauen soll stellvertretend für die lange Reihe von Frauen erwähnt sein, die bis heute das Leiden an frauenfeindlichen gesellschaftlichen Erwartungen nicht einfach hinnehmen, sondern sich dagegen auflehnen. Es geht dabei nicht um Auflehnung gegen das Frausein, sondern gegen ein von patriarchaler Selbstüberschätzung geprägtes pauschales Bild des weiblichen Daseins und der Rolle, die Frauen einzunehmen haben, es geht um Auflehnung gegen den gesellschaftlichen Druck, diesem Bild zu entsprechen. Rahel Varnhagen  formulierte ihre Erbitterung in ungezählten Briefen. So etwa schrieb sie am 8. Juni 1826 der Freundin Pauline Wiesel: “Keine Freiheit. Wollen Sie noch mehr wissen? Oft wundere ich mich, dass ich lebe, dieselbige bin und so weit von mir abkam. (…). Man ist nicht frei, wenn man in der bürgerlichen Gesellschaft etwas vorstellen soll: eine Gattin, eine Beamtenfrau usw.”.

Noch heftiger formuliert die gleiche Anklage eine Zeitgenossin Rahel Varnhagens, die französisch-peruanische Schriftstellerin Flora Tristan, die von 1803 bis 1844 lebte. Sie erkannte als eine der ersten, dass Frauenfrage und Arbeiterfrage eng miteinander verknüpft waren. Zur offenen Rebellin wurde sie, als sie feststellte, dass ihr als Frau nicht einmal zustand, sich gegen Gewalt und Unrecht, das ihr durch ihren Ehemann zugefügt wurde, zu wehren. Nachdem dieser sie zu töten versucht hatte und sie ihn verliess, wurde ihr – und nicht ihm – der Prozess gemacht. “Ich war Frau, ich war Mutter”, schreibt sie, “aber die Gesellschaft hat mir das Herz gebrochen. Jetzt bin ich nicht mehr Frau, nicht mehr Mutter, ich bin die Paria”.

Dass die Frauenfrage in erster Linie eine Sozialisations- und Erziehungsfrage ist, dass Klage und Anklage nichts verändern, solange Frauen und Männer nicht durch Erziehung vermittelte ebenbürtige Möglichkeiten haben, als Indviduen ihre eigene Stimme zu haben, war die erregende Botschaft, die 1792 in London durch Mary Wollstonecraft mit ihrem Buch “Vindication of the Rights of Women” der Öffentlichkeit vorgelegt wurde. Diese *Einforderung der Rechte der Frauen” ist die erste feministische Gesellschaftkritik, in welcher die durch Erziehung und Bildung vermittelten Geschlechterrollen thematisiert werden. Die 1759 geborene streitbare Frau hatte selbst nur eine Dorfschule besucht. Dank ihrem Wissenshunger und ihrer Verstandeschärfe hatte sie sich jedoch nicht nur grosse Belesenheit und Sprachenkenntnisse erworben, sondern auch eine Kenntnis der Ursachen der gesellschaftlichen Misstände, für deren Behebung sie ein eigentliches Programm entwickelte. Vor allem, hielt sie fest, gelte es, von der herrschenden Vorstellung eines “Geschlechtscharakters” abzukommen, bei der alle Vernunft den Männern zugeschrieben werde, den Frauen keine, mit anderen Worten: derzufolge die Frau nur das ungenügende Abbild des Mannes sei. Diese Vorstellung zerstöre nicht nur die Moral, sondern auch die Politik. Es gebe keine Legitimation dafür, dass Männer über Frauen herrschen und noch gar in “deren Interesse”. Sowohl in den privaten Beziehungen wie in der Politik müsse der gleiche gegenseitige Respekt zwischen den Geschlechtern Ausdruck finden. Dieser Geist des gleichen gegenseitigen Respekts müsse die Erziehung der Kinder bestimmen, damit die Misstände in der Gesellschaft behoben werden.

Doch bis in die jüngste Zeit waren Herrschaftsstrukturen und damit verbundene Identitäts- und Unterordnungsforderungen stärker als Erziehung und Einübung im Respekt vor der wechselseitigen Differenz. Frauen, die sich wehrten, wurden ausgegrenzt, wurden zur Paria, Frauen, die sich nicht wehrten, waren zwar gesellschaftlich konform, erlebten aber, wie sie flügellahm wurden und nach und nach seelisch erstickten. Dabei spielte das Bürgertum die verhängisvollste Rolle. Das Bürgertum, die bürgerliche Ehe und die bürgerliche Familie war das kulturelle Korsett, das ein Ausmass an subtiler weiblicher Repression schuf, an struktureller Repression, wie sie sich sonst in keiner anderen gesellschaftlichen Schicht vorfand, weder in der Arbeiterschaft noch in der Landwirtschaft. In der Generation meiner Mutter und meiner Grossmutter gab es in dieser Schicht kaum eine Frau, die nicht unter schweren Depressionen litt. Sigmund Freuds Psychoanalyse war das eigentliche Produkt dieser zwar sprachfähigen, aber zutiefst in ihrem Selbstwert verletzten, zur Stützung des männlichen Ich ganz und gar instrumentalisierten Klasse von Frauen (s. “Dora”, resp. die Geschichte Berta Pappenheims). In konservativen Schichten wurden diese Strukturen bis in die jüngste Zeit aufrechterhalten. Es ist etwas mehr als zwanzig Jahre her, dass Ingeborg Bachmann starb (1926 – 1973), die in ihrem Buch “Todesarten” in verschiedenen Beispielen festhielt, mit welch unmerklicher Gewalt das weibliche Ich, das nach Männerdiktat und gesellschaftlicher Usanz unterwürfig und gesichtslos sein soll, nach und nach vernichtet wird.

Aus all dem folgt: Identitätsforderungen im konventionellen Sinn sind mit Angleichungszwängen an ein mächtiges, autoritä definiertes Über-Ich verknüpft. Dem individuellen Ich bleiben dabei kaum Chancen, ein eigenes, vom grossen Vorbild abweichendes Selbstbild zu entwickeln, es sei denn über Auflehnung, Leiden und Ausgrenzung. Das Pariabewusstsein ist Ausdruck davon. Es bleiben ihm auch kaum Chancen, ein solidarisches Menschheits-Ich zu entwickeln, in dem das Anderssein das Gleichsein nicht ausschliesst, sondern einschliesst.

Auflehnung und damit verbundenes Leiden führen jedoch nicht notwenigerweise und ausschliesslich zu Ausgrenzung oder in schwere Depression, sondern sind auch Voraussetzung, damit ein Prozess der Emanzipation – der Befreiung – beginnen kann. Dieser ist unabschliessbar. (Auch hierfür ist die Geschichte der Berta. Pappenheim ein Beispiel). Dieser Prozess richtet sich auf ein Ziel aus, das weder dem Bild im Spiegel entspricht noch dem Menschen, als den die Gesellschaft einen halten möchte, sondern das vorweg im Handeln realisiert wird, wohl auf ständig unvollkommene Weise. Dieser Prozess mag von einer Vorstellung geleitet sein, die wie eine geheime Sehnsucht das Heranwachsen und Älterwerden begleitet: die Vorstellung, wie man geliebt sein möchte. Sigmund Freuds Erkenntnis, in welchem Mass die Differenz zwischen den beiden Ich-Idealen – das heisst die Differenz zwischen dem gesellschaftlich aufgezwungenen Ich-Ideal, das zugleich das gemeinsame Ideal einer Familie oder einer Nation, oder das gemeinsame Ideal eines Standes oder einer Berufsgruppe ist, und dem unterdrückten, durch Schuldgefühle verdunkelten, geheimen Selbstbild -, in welchem Mass dieses Differenz Ängste, Aggressionen und andere seelische Störungen bewirkt, vermag zum Teil zu erklären, warum so viele Menschen – Frauen und Männer – mit sich selbst überworfen sind, woher ihre mangelnde Selbstachtung und Selbstliebe rührt, warum auch Misstrauen vor der Differenz, vielleicht sogar Verachtung das Verhältnis so vieler – gleichgestellter – Menschen bestimmen.

Anstelle der ontologischen Identitätsfrage stelle ich daher die Frage nach dem Werden über das Handeln: “Wie bin ich zum Menschen geworden, der so und so handelt”. Nach welchen Masstäben handle ich? Sind diese Masstäbe (verhaltensbestimmende) Regeln? – (gewissensregulative) Normen? – (verallgemeinerbare) Gesetze? Worin bestehen die Unterschiede? Gibt es Unterschiede in Hinblick auf  die zwingende Wirkung dieser Massstäbe? Wer hat die Normen als Normen festgesetzt? Eine Autorität? Welche Autorität? Was ist das Gewissen (- das Über-Ich)? Sind die Masstäbe, die ich als Normen akzeptiere,  für mich richtungweisend in Hinblick auf die Unterscheidung von gutem und schlechtem Handeln, von Schuld und Verdienst?  Wie wissen wir, was gut und schlecht ist? Ist dies ein untrügliches Wissen? Wie werden die Normen begründet? Gibt es eine Norm, die unabhängig von partikulären Begründungen (der Vater, ein Vorbild, die Bibel, eine bestimmte Religion, ein Strafgesetzbuch etc) kulturübergreifend und verallgemeinbar ist?  – Ist es die Reziprozitätsregel – was ist sie? – (nicht vergessen: (1) über den kategorischen  resp. den praktischen Imperativ (2) über die Grundbedürfniserfüllung zu begründen). 

Bis hierher für den 1. Abend.

 

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  1. März 1996

Kurze Rekapitulation des 1. Abends durch die Teilnehmenden

Einführung in den Normenbegründungsdiskurs, sowie im besondern auf die Folgen für das Geschlechterverhältnis.

Wir haben festgestellt, dass sich die Frage nach der Identität am klarsten, intellektuell vielleicht am redlichsten in existenzphilosophischer Weise stellt, nämlich als Selbstfragung des Subjekts in seinem Werden und Handeln. Das Subjekt konstituiert sich als das erkennbare gleiche Ich nicht nur, indem es Ich sagt, sondern indem es sich in dieser “Ichheit”, in dieser Individualität durch die erzählbaren Geschichten als handelnd oder leidend, als aktives oder als passives Subjekt wiedererkennt und sich auch so als das gleiche Subjekt empfindet, als bedürftiges und zugleich als starkes Ich, das sich von den anderen Ichs unterscheidet, das in dieser Differenz als Du angesprochen wird und so als Subjekt in dialogischen Verhältnissen steht, oder als Er oder als Sie dargestellt, referiert werden kann, auch in der Referenz als Subjekt erkennbar. Denn ob als Ich in der Selbstreferenz, als Du (respektive als Ihr oder Sie) in der direkten Ansprache, d.h. in der dialogischen Referenz, oder als Er und Sie in der indirekten Referenz, immer kann das Subjekt als Subjakt des Handelns oder Erleidens erkannt werden.

Wir haben auch festgestellt, dass, indem wir dem Handeln entlang die Identitätsfrage stellen, wir nicht umhin können, uns zu fragen, warum wir so und nicht anders handeln, resp. wie wir die Wahl des Handelns begründen. Die Tatsache, dass wir unter verschiedenen Optionen des Handelns wählen können, bedeutet Freiheit. Auf Grund dieser Freiheit ist das Subjekt für die Wahl des Handelns, damit auch für die Folgen des Handelns belangbar, verantwortbar. Je nach der Begründung für die Wahl des Handelns wird diese Verantwortung allerdings delegiert oder abgeschoben. Dies mag vordergründig eine Entlastung des Subjekts bedeuten, führt jedoch zu dessen Schwächung und, in der Folge, auch zu einer Schwächung der seiner Identität. Wir werden später daruf zurückkommen.

Nun, worauf greifen wir zurück, wenn wir die Wahl des Handelns begründen und rechtfertigen? Sind es religiöse Vorschriften, etwa die zehn Gebote? Dies mag für Menschen, die gläubig sind, richtig sein, da sie ihrem Glauben mit Ernst verpflichtet sind, nicht nur im Zwiespalt des Handelns, sondern in allen existentiellen Fragen. Daher bedarf es für sie tatsächlich keiner anderen Begündung dafür, dass sie die Frau des Nächsten oder den Mann der Nächsten oder fremdes Eigentum repsektieren als dieses religiöse Gebot. Ich weiss nicht, wie viele Menschen aus dieser Sicherheit des Glaubens heraus versuchen, gut zu handeln. Es sind gewiss nicht wenige. Ich denke jedoch, dass für diejenigen, die nicht gläubig sind, es unredlich ist, sch trotzdem auf diesen Normenkodex abzustützen, da seine verpflichtende Begründung nur durch den Glauben erfolgen kann. Worauf stützen sich Menschen in ihren Handlungsentscheiden ab, die nicht gläubig sind, die keinen religiösen Normen verpflichtet sind? Genügt zu,m Beispiel das Schweizerische Strafgesetzbuch oder das Obligationenrecht? Die Geschichte hat allerdings zur Genüge bewiesen, dass von Menschen geschaffenen staatliche Gesetze Unrechtsgesetze sein können. Die Tatsache, dass ein bestimmtes Handeln gesetzlich gefordert oder verboten wird, bedeutet noch nicht, dass das Handeln gut ist. Ich erinnere an die Rassegesetze im Dritten Reich, an die schweizerischen Ausländergesetze aus derselben Zeit, auch das erst jüngst erlassene Gesetz über Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht scheint mir ein Unrechtsgesetz zu sein (Verhaftung oder Abschiebung von Ausländern und Ausländerinnen auf blossen Verdacht hin). Wenn schon die staatlichen Gesetze fragwürdig sind, selbst demokratisch erlassene, um wie viel fragwürdiger ist dann die partikuläre Autorität irgend eines Menschen, z.B. jene eines Offiziers für seine Untergebenen, oder eines parteipräsidenten für die Mitglieder einer partei, oder eines chefarzts für seine Assistenten und Assistentinnen etc.  Der Rekurs auf dessen autorität mag zwar im Augenblick des Handelns entlastend sein, doch falls der Entscheid, so und nicht anders zu handeln, nicht zugleich der autonome Entscheid des handelnden Subjekts sein kann, führt die Delegation der Handlungsverantowrtung zu einer zunehmenden Subjektentfremdung und dadurch zu einer Schwächung der Identität. Wie soll ich mich in der Selbstbefragung als dasselbe Subjekt erkennen, wenn ich mich in der Begründung des Handelns nicht erkenne? resp. wenn ich mich als fremdbestimmt erkenne, letztlich als manipuliert? Ist diese Subjektschwäche, diese Subjektentfremdung nicht Grund für zahlreiche kompensatorische Ichstärkungen ? – sei dies Alkohol oder materieller Besitz, schnelle Autos oder was immer?

Der Weg zur Aufhebung der Entfremdung führt, wenn diese in der Selbstbefragung erkannt wird, in einen schwierigen Prozess, der als Krise erlebt wird, als Orientierungskrise, als grosse Verunsicherung. Was soll gelten? Welche Masstäbe, welche Normen? Die Krise kann Gefahr oder chance sein, je nachdem. Sie kann Gefahr sein, wenn das Bedürfnis nach schneller Absicherung, nach Abstützung auf einer Autorität überwiegt. Sie kann aber Chance sein, wenn das Wagnis der Freiheit eingegangen wird, wenn auch nur allmählich als langsames Training. Vom Standpunkt der Existenzphilosophie aus ist es unwichtig, wann der Mensch die Chance erkennt und wahrnehmen kann, als Subjekt zur eigneen Handlunsbegründung zu finden, nur abgestützt auf sein eigenes Urteil, ob als Kind oder als junger Mensch oder als Erwchsener oder im hohen Alter. Was zählt, ist allein die Tatsache, dass die Chance der Freheit und damit der Eigenverantwortlichkeit, die Chance des Verzichts auf jegliche implizite oder explizite Verantwortungsdelegation, erkannt und wahrgenommen werden kann. Denn sie bedeutet ein Ende der “freiwilligen Knechtschaft”, wie Etinne de la Boëtie sie untersucht und kritisiert hat. Sie bedeutet Autonomie und dadurch – Glück.

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