Cherchez la femme – Über 200 Jahre Menschenrechte: Vom Ausschluss der Frauen zu einer Re-Vision der Menschenrechte

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Cherchez la femme

Über 200 Jahre Menschenrechte: Vom Ausschluss der Frauen

zu einer Re-Vision der Menschenrechte

 

Tagung am 2. Dezember 1994 in Bern

 

Feminismus – ein emanzipatorisches Projekt:

nicht Utopie, sondern verpflichtender Zukunftsentwurf

 

Ein “Schlusspunkt” wird von mir erwartet. Feministischer Philosophie steht es jedoch nach ihrem Selbstverständnis kaum zu, einen Punkt unter einen Prozess wie den des heutigen Tages zu setzen, im Gegenteil: Jetzt muss ja erst die Arbeit beginnen, die politische Arbeit an der Basis und in allen Bereichen, damit Feminismus nicht zum Diskursmodell verkommt, sondern im emanzipatorischen Sinn als Ferment wirkt, als Ferment zur tatsächlichen gesellschaftlichen Veränderung: einer Veränderung zu einem gleichberechtigten, angstfreien und gerechten Zusammenleben von Menschen jeden Alters und jeder Herkunft, unabhängig von Geschlecht, Schicht- oder Berufszugehörigkeit. Damit die Vorstellung eines solchen Zusammenlebens nicht als Utopie, nicht als unrealistischer Traum beiseitegeschoben werden kann, bedarf es der emanzipatorischen und solidarischen Arbeit. Über diese Arbeit möchte ich sprechen.

Was bedeutet Feminismus als emanzipatorisches Projekt?

Wir müssen uns heute in der Schweiz, und nicht nur in der Schweiz, die Frage in aller Eindringlichkeit stellen. Fast fürchte ich, angesichts gewisser Erstarrungserscheinungen, die sich unter anderem als moralisierende Schwarz-Weiss-Erklärungsmuster für Misstände zeigen, die Bedeutung dessen, was Emnzipation wirklich beinhaltet, könnte vergessen gehen. Erinnern wir uns: Die Frauenbewegung entstand im vergangenen Jahrhundert, so wie der Sozialismus, aus dem Bedürfnis derjenigen, die ohne Recht und ohne Stimme waren, nach der eigenen Stimme, nach der eigenen Bedürfnisinterpretation, nach der gleichberechtigten, selbstbestimmten Gestaltung der Arbeitswelt, nach der gleichberechtigten und aktiven Mitgestaltung der politischen und gesellschaftlichen Strukturen und Entscheide, nach der Gestaltung der eigenen Rolle innerhalb der menschlichen Gemeinschaft. Emanzipation bedeutete – und bedeutet noch immer – Befreiung zur Mündigkeit. Da nun das feministische – wie das sozialistische – Projekt politische, kulturelle und materielle Mündigkeit nicht nur für einzelne Individuen anstrebete, nicht nur für einzelne Frauen oder für einzelne Arbeiter und Arbeiterinnen, sondern für die Gesamtheit der Rechtlosen, ging es darum, das Projekt als Befähigungsprojekt zu verstehen. Hierzu erfordert war ein grosser Einsatz im Bereich der Bildung sowie eine Veränderung der alltäglichen Praxis, eine Veränderung des Zusammenlebens zu grösserer Solidarität. Ohne diesen Einsatz, ohne diese Vernetzung der Menschen untereinander wären Feminismus und Sozialismus reine Theorie geblieben.

Doch wie steht es heute bei uns? Ist überhaupt von diesem emanzipatorischen Auftrag und Selbstverständnis noch etwas erhalten geblieben? Es herrscht allenthalben ein Klima der Angst. Angst der Jugend vor der Zukunft, Angst der Alten vor Verarmung und Vereinsamung, Angst der Arbeitenden vor Arbeitslosigkeit, Angst der Frauen vor dem Krankwerden, vor Geldnot und vor dem Gang zur Fürsorge, Angst der Kinder vor dem Erwachsenwerden, Angst der Ausländer und Ausländerinnen vor dem Zugriff der Polizei, vor Ausweisung und Ausschaffung.

Im Dezember 1994 wurde das Gesetz über Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht angenommen, das auf erschütternde und folgenschwere Weise den Geist der Emanzipation verleugnet, das eine Gesinnung und eine Praxis des Gegenteils, der “mancipatio”, zu legitimieren versucht, der Rechtlosigkeitserklärung und der Ungleichbehandlung von Menschen durch andere, der – mehr oder weniger willkürlichen – Verfügung über diejenigen, die keine Stimme haben und die sich nicht zur Wehr setzen können, durch jene, die Macht haben. Unter dem Vorwand der Bekämpfung des Drogenhandels wird eine weitere Beschneidung des Rechts auf Asylgesuchstellung vorgenommen, können Menschen auf blossen Verdacht hin in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und verhaftet werden. Heute werden tagtäglich Menschen mit Handschellen gefesselt, in Flugzeuge abgeschoben und in Heimatländer zurückgeschafft, aus denen sie geflohen sind, Menschen, die zumeist nichts anderes “verbrochen” haben, als dass sie in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt haben. Seit das Gesetz angenommen wurde, hat sich das Klima der Angst über unserem Land noch verdichtet. Angst aber ist immer zugleich Nährboden für Gewalt und Gegengewalt und neue Angst – eine sich verengende Spirale, in der das Zusammenleben zum Albtraum wird. Kosova-albanische Asylsuchende, auch junge Männer im dienstpflichtigen Alter, werden zurückgeschafft, obwohl ganz Kosova von Krieg, Vertreibung und brutaler Gewalt  terrorisiert wird. Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien sollten pauschal im Sommer 1998 die Schweiz verlassen, darunter alleinstehende Frauen mit Kindern, viele schwer traumatisierte, alleinstehende Jugendliche, „ethnisch gemischte“ Paare, kranke menschen – alle ohne eine Lebensperspektive im kriegsversehrten Land mit den zahlreichen ungelösten Problemen der Binnenflüchtlinge, der Arbeitslosigkeit, der prekären medizinischen Versorgung, der enormen seelischen Kriegswunden.

Der anti-emanzipatorische Geist zeigt sich in unserem Land jedoch nicht nur im Ausländerrecht, sondern in allen Bereichen des Zusammenlebens: Die Budgets für Schule und Bildung werden massiv verkleinert, obwohl weiss Gott bekannt ist, dass deren Erhöhung und Ausbau die wichtigste Investition für die Zukunft unserer Jugend wäre, die beste Hilfe gegendie überhandnehmende Verunsicherung und Sinnentwirtung, die beste Prophylaxe gegen das Abdriften in Drogensucht und Kriminalität. Ebenso werden die Sozialleistungen an diejenigen gekürzt, die eine momentane oder längerfristige Stütze brauchen, sodass unzählige Menschen noch schwächer und abhängiger, noch frustrierter und gewaltanfälliger werden. Dazu kommt, dass die Behörden unter dem Druck kurzfristiger Rentabilitätskrisen es zulassen, dass überall im Land Betriebe geschlossen werden oder “rationalisieren”, dass die Löhne gekürzt, dass unzählige Arbeitnehmende in das furchtbare Los der Arbeitslosigkeit entlassen werden, ohne dass andere wirtschaftliche Optionen, etwa breit angewandte Arbeitszeitverkürzung, Arbeitsteilung, genossenschaftliche Übernahme von Betrieben und andere innovative wirtschaftliche Reformen in einem breiten Rahmen gefördert und ermutigt würden.

Die Aufzählung müsste fortgesetzt werden, doch vielleicht genügen schon diese Hinweise, um deutlich zu machen, in welchem Mass in unserem Land reaktionäre Strategien der Entmündigung, der Einschüchterung und der Rechtsschwächung sich durchsetzen, in welchem Mass die Angst geschürt, die Schwachen noch mehr geschwächt und die Starken geschützt werden. Es wäre jedoch falsch, dies einfach festzustellen und zu resignieren. Ebensowenig dürfen wir uns damit begnügen, die Geschlechterdifferenz als alleinige Ursache des wachsenden gesellschaftlichen Unglücks zu deklarieren, oder uns Frauen fortwährend in der Opferrolle zu beklagen. Wenn wir Feminismus als emanzipatorische Politik verstehen, das heisst als politisches Engagement, das sich die Befähigung zur Selbstbestimmung, zur eigenen Stimme und zur eigenen Bedürfnisinterpretation aller Menschen zum Programm macht,, insbesondere der traditionell Schwachen und Stimmlosen, der Abhängigen und Furchtsamen, das Koalitionen ermutigt, die zu mehr Gerechtigkeit führen, Koalitionen nicht nur unter Frauen, sondern auch mit Männern, die das gleiche Ziel anstreben, so müssen wir uns ganz einfach an die Arbeit machen. “Furchtlos gegenwärtig sein” war die Parole der sizilianischen Frauen, die sich zusammenschlossen, um der Einschüchterung durch die Mafia die Stirn zu bieten. Wir können diese Parole für uns übernehmen.

Was heisst das für uns heute, die wir Feminismus als emanzipatorisches Projekt ernstnehmen wollen?

Es heisst, dass wir uns gegen den funktionsspezifischen Machtmissbrauch zur Wehr setzen, der überall in unserem Land die emanzipatorischen Initiativen lähmt, von den höchsten Regierungsstellen bis hinein in die einzelnen Betriebe und Familien. Nicht das Geschlecht allein und nicht allein die grössere Zahl der Männern in Führungsfunktionen schafft das anti-emanzipatorische, auf Einschüchterung, Kontrolle und Beherrschung ausgerichtete System, sondern die breite Duldung – auch durch Frauen – des je funktionsspezifischen Machtmissbrauchs, diese bequeme Akzeptation des – scheinbar geringeren – Übels. Es gibt nicht ein einzelnes Handlungsrezept dagegen. Wichtig ist, dass Unrecht nicht mehr verschwiegen und geduldet wird und dass Menschen, die Macht ausüben, zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie ihre Macht missbrauchen. Wichtig ist, dass wir selbst Macht und Machtausübung neu definieren: als zeitlich befristete Aufgabe, deren Erfüllung besondere Kompetenz und besondere Integrität erfordert, der jedoch innerhalb demokratischer Strukturen nicht grössere Bedeutung zukommt als jeder anderen Aufgabe. Wichtig ist, dass wir bereit sind, Macht anzunehmen und auszuüben, eben in diesem Sinn der verantwortlichen Partizipation an der Gestaltung unserer Gesellschaft, im Sinn eines emanzipatorischen Beitrags zu mehr Frieden, zu mehr Gerechtigkeit, zu weniger Demütigung und zu weniger Unglück.

Es heisst, dass wir uns in allen Bereichen, in denen wir eine Stimme haben, in den privaten ebenso wie in den öffentlichen, für gegenseitige Achtung einsetzen, dass wir für ein Menschenbild kämpfen, das nicht mit Misstrauen und Angst verknüpft ist, sondern das wir für uns selbst in Anspruch nehmen: ein Menschenbild, das der Einzigartigkeit, der Wandlungsfähigkeit, dem Glücksbedürfnis und der Bedrohtheit jeder einzelnen Existenz gerecht wird. Aus diesem Grund kämpfen wir für das Recht der Kinder auf eine sinnhafte, friedvolle Zukunft, aus diesem Grund kämpfen wir gegen die heute so übliche Praxis der Austauschbarkeit der Menschen nach Kriterien des “rendement” und der Effizienz, ob in den Betrieben oder in den Beziehungen, aus diesem Grund kämpfen wir gegen die Instrumentalisierung und den Missbrauch von Menschen zu nationalistischen Zwecken.

Dies alles gehört zur Arbeit, die wir vor uns haben, da wo wir leben und arbeiten, in den Betrieben und Schulen, in den Gremien, Kommissionen und Arbeitsgruppen, in den Familien und Beziehungen, in den Gemeinden, Kantonen, im Staat und darüber hinaus, in den politischen und gesellschaftliche Zusammenhängen. Wenn wir Feminismus als emanzipatorisches Projekt ernstnehmen, können wir uns nirgends von dieser Arbeit dispensieren.

 

siehe auch den Artikel für DAS MAGAZIN vom 28. April 1989:

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