Ganzheitliches Denken als neuer Führungsstil – “Nicht nur grosse Konzepte entwerfen, danach leben ist wichtig”

Ganzheitliches Denken als neuer Führungsstil – “Nicht nur grosse Konzepte entwerfen, danach leben ist wichtig”

 

“Den Rummel um meine Person mag ich überhaupt nicht”, erklärt Martin Hodler, seit Mai 1986 Konzern-Stabchef der Cellulose Attisholz, gleich zu Beginn des Gesprächs, “jeder Personenkult ist kontraproduktiv für die Sache!” Er macht eine freundlich abwehrende Handbewegung, die gleichzeitig Einladung zum Gespräch bedeutet. Das Gespräch liegt ihm am Herzen, dafür nimmt er sich eine lange Spanne Zeit, darauf lässt er sich voll ein; denn die Tatsache des Gesprächs betrifft die “Sache” selbst, betrifft den lebendigen Austausch von Fragen, Antworten und Rückfragen, von Ideen, Emotionen und Argumenten, von Informationen und von Kritik. Für Martin Hodler ist die offen und vorbehaltlos geführte Kommunikation das A und O einer glaubwürdigen und damit erfolgreichen Unternehmensführung. “Wachstum und Gewinn allein können in Zukunft keinen Fortschritt mehr erbringen. Der Gewinn kann nur noch als Mittel dienen, um wichtigere Zwecke zu erreichen, in kleinen Schritten”.

Sein Schlüsselwort heisst Bescheidenheit, und er meint damit eine Grundhaltung, welche in allen Belangen gleich wichtig ist: In der Kommunikation ermöglicht sie das Zuhören und Geltenlassen gegensätzlicher Meinungen, in der Entscheidungsfindung verhilft sie zu ausgewogenen Schritten, da nicht nur der eigene Standpunkt als der allein “richtige” zum Entscheid führt, in der internen Führung des Unternehmens verschafft sie jedem einzelnen Arbeiter und Angestellten den Status des “Partners” im Betrieb und lässt dadurch die Arbeit wieder sinnvoll werden, in der Geschäftsplanung lehrt sie, sparsam mit den vorhandenen Ressourcen umgehen und die mit der Produktion verbundenen Gefahren fortwährend vermindern oder gar eliminieren.

Es sind Grundsätze, wie sie sich idealer nicht denken liessen, sie klingen wie Präliminarien zu einer neuen, besseren Welt! Aber konkret, lassen sie sich konkret verwirklichen?

Für Martin Hodlers persönliche Belange gelten sie selbstverständlich: Er hat nicht einmal eine eigene Sekretärin, sondern teilt die Präsenz und Schreibkraft Frau Meiers mit den drei anderen Herren der Geschäftsleitung; er kleidet sich in Konfektionsanzüge von der Stange, “möglichst aus einer Serie, die lange fabriziert wird, damit ich sie telephonisch nachbestellen kann”; das Einfamilienhaus in Bern, das er mit seiner Frau und den drei  Töchtern bewohnt, denkt er bei passender Gelegenheit gegen ein Haus in einer Siedlung aufzugeben, irgendwann,  “man kann sich heute nicht mehr mit Thuyahecken gegen Aussen abschirmen”!

Martin Hodler lacht, das Lachen stellt sich bei ihm ebenso ungezwungen ein wie die Nachdenklichkeit. Er spielt auf seinen Abgang bei Hoffmann La Roche Ende April 1986 an, wo er Leiter des Stabsbereichs Oeffentlichkeitsarbeit war. “Sie wissen, dass dort meine Vorstellungen nicht ankamen. Es war wohl alles verfrüht oder ich machte Fehler, jedenfalls stiess ich auf wenig Verständnis und ging. Aber hier in Attisholz liegen die Voraussetzungen günstig!” Hier hat Hodler in Truls D. Berg einen “markanten” Chef, wie er ihn selbst bezeichnet, und zugleich einen langjährigen verlässlichen Freund; die beiden hatten schon von 1979 bis 1984 in der Leitung der Tela Papierfabrik Balsthal zusammengespannt. Truls D. Berg fördert mit Ueberzeugung und Tatkraft alle kleinen Schritte, die mehr Menschlichkeit und mehr Offenheit in den Betrieb bringen. Hier findet Hodler auch eine Firmen-“Philosophie”, welche dem Umweltschutz seit Jahren grösste Bedeutung zumisst. Bereits in den Siebzigerjahren wurden mechanisch-chemische und biologische Abwasserreinigungsanlagen erstellt, Attisholz wollte schon früh keine Dreckschleuder mehr sein. Seit 1985 betreibt die über hundertjährige Cellulosefabrik auch eine Rauchgasentschwefelungsanlage für das Calcium-Bisulfit-Verfahren, dies als Weltpremiere. Der nächste Schritt, der im Sinn des Umweltschutzes erwogen wird, betrifft das zur Zellsfoffbleichung benötigte Chlor. Einerseits werden alle Vorkehrungen getroffen, um im schlimmsten Fall eines Unglücks die Schäden minim zu halten, andererseits wird im firmeneigenen Labor, das allein etwa 40 Leute beschäftigt, darunter 10 Lehrlinge, intensiv nach Möglichkeiten geforscht, die eine chlorfreie Zellstoffbleichung ermöglichen. Die Zielsetzung besteht ja in der gänzlichen, nicht nur in der eventuellen Verhinderung gefährlicher Unfälle, nicht nur durch die Erstellung besserer Präventivmassnahmen, sondern  durch die Entwicklunng neuer unschädlicher Techniken.

Martin Hodler kommt ungern wieder auf sich selbst zurück. “Nach knapp neun Monaten, wo ich hier bin, ist es wahrlich zu früh, von Erfolgen oder Misserfolgen zu sprechen!” Er hebt entschuldigend die Schultern. Gewiss. Aber trotzdem kann er schon einiges vorweisen: Eine neue Mitarbeiter-Zeitung, zum Beispiel, die  im Dezember 1986  erstmals erschien und an deren Herausgabe er wesentlich mitbeteiligt ist. Nicht nur stellt er im Leitartikel seine Kommunikationstheorie – eben theoretisch – vor, sondern setzt diese zugleich ins Praktische um,  indem er alle im Betrieb Beschäftigten auffordert, nicht “die Faust im Sack” zu machen, wenn Ideen und Aenderungen ihren Unwillen erregen, sondern mit ihm das Gespräch zu suchen. Und sie tun es tatsächlich, zwar lang nicht alle sechshundert, die in Attisholz arbeiten, aber einzelne melden sich, wie etwa der alte Arbeiter aus der Werkstatt, der Hodler vorwirft, er könne ja schön und gut reden, aber die Realität sei doch ganz anders. Und Martin Hodler geht auf ihn ein, und allmählich schält sich aus dem Gespräch die Erkenntnis heraus, dass die Realität nicht ein für allemal gegeben ist, sondern dass jeder einzelne für deren Veränderung mitverantwortlich ist, an seinem Posten und aus seiner Sicht. “Letztlich ist es weniger wichtig, was wir tun, als wie wir etwas tun”, betont er; “wie wir sind und wie wir handeln vermischt sich zu einem grossen Ganzen. Daher müssen wir ganzheitlich denken lernen.”

Die Veränderung der Realität, die Martin Hodler beobachtet, betrifft den Mikrobereich der privaten, zwischenmenschlichen Beziehungen ebenso wie den Makrobereich des Wirtschaftlichen und Politischen. “Das verdeckte Emotionale muss wieder aufgedeckt werden. Das heisst nicht, dass die Ratio dadurch verschüttet würde. Im Gegenteil! Die rein analytische Vernunft wird von der Vernunft des Herzens fortan nicht mehr im Stich gelassen!”

Es ist verständlich, dass nicht nur beim langgedienten Arbeiter, sondern auch bei der alten Konzernleitung manchmal ein unwilliges Räuspern laut wird über soviel zündenden Idealismus. Aber auch die Direktoren für Kaufmännisches und für Technisches, Heinz Röthlisberger und Kurt Trottmann erkennen die Zeichen der Zeit. So stimmen sie, zum Beispiel, der Einrichtung von Kaffee- und Begegnungsecken in den Werkhallen zu, auch wenn dagegen erst Bedenken bestanden und die Realisierung erst allmählich erfolgen wird. Diese dezentralisierten Orte des Gesprächs und der kurzen Erholung erscheinen Martin Hodler umso wichtiger, als die Kantine nur von etwa 40 Leuten regelmässig besucht wird. “Die meisten gehen mittags noch nach Hause”, erklärt er. “Es gibt welche, die noch etwas Kleinvieh halten, etwa ein Säuli oder Hühner, das ist der Vorteil der ländlichen Verhältnisse!”

Auf die Frage nach der Logik seiner Entwicklung zögert der promovierte Chemiker und Betriebswissenschaftler nicht lange. “Ich hatte zwei grosse Chancen: mein naturwissenschaftliches Studium mit der Kenntnisnahme von Heisenbergs Quantenmechanik  (und der darin entwickelten Unschärferelation) und Einsteins Relativitästheorie, diesen zutiefst revolutionären und befreienden Weltbildtheorien; und dann, noch in der Studienzeit, die Begegnung mit meiner Frau!” Monica Hodler ist von unbeirrbarer Intuition und von ansteckender Lebensintensität, sprachbegabt und politisch engagiert, und die drei Töchter, von denen die beiden älteren bald erwachsen sind und die jüngste eben erst in die Schule geht, haben sowohl vom Feuer der Mutter wie vom systematisch-grüblerischen Optimismus des Vaters geerbt.

Die Frauenlinie war überhaupt stark in Hodlers Familie. Die Grossmutter mütterlicherseits war Venezianerin, und bis zu ihrem Tod wurde in der Familie Italienisch gesprochen, sie hatte de Luca geheissen, während die Grossmutter auf Hodlers Vaterseite, eine begeisterte Sportlerin der ersten Stunde, noch in jungen Jahren den schweizerischen Damen-Skiclub gründete. Die männliche Ahnenreihe zeichnet sich durch viele tüchtige Juristen aus, auch sie sportentflammt und konservativ-fortschrittsgläubig, aber irgendwo stösst sie auf die Gestalt Ferdinand Hodlers, den Cousin des Urgrossvaters, und damit auf ein Patrimonium überragender Kunstbegabung. Im Ganzen lässt sich sagen, dass sich auf der Männerseite systematisches Denken und Karrierebewusstsein profilieren, und auf der Frauenseite der Sinn für Avant-Garde sich durchsetzt und von beiden Seiten hat Martin Hodler ein gutes Mass mitbekommen!

Die Frage nach Misserfolgen und Enttäuschungen ist unergiebig, und die Gründe dafür liegen auf der Hand. Mit einem derart unverbrüchlichen Optimismus wird alles, was im Leben geschieht, positiv gewertet. “Jede Schwierigkeit ist eine Aufforderung zur Ueberwindung, jede Kritik eine Förderung der Erkenntnis, jede Enttäuschung eine Möglichkeit der Bewährung, jedes Risiko eine Chance”, lautet sein Wahlspruch. Nicht dass er “einfach” nur vom Glück begünstigt gewesen wäre, dem ist nicht so, das “Glück” hat seinen Preis; trotzdem aber lässt sich sagen, dass sein Lebensgeflecht bis anhin auffallend regelmässig und stark geknüpft ist, ohne offensichtliche Fallmaschen, die zu Reisstellen führen könnten. Auch die militärische Karriere erfolgte nach seinen Wünschen.

Er setzte damit schon anfangs 1964 ein, gleich nach der Matura, und als er 1965 zu studieren begann, war er bereits Offizier. Heute steht er im Majorsrang, als Nachrichtenoffizier im Armeestab, und er betont, wie bedeutungsvoll für ihn die im Dienst erfahrene Begegnungsvielfalt und das in der militärischen Ausbildung gewonnene Denktraining seien. “Die Milizarmee, wie wir sie haben, allein auf Verteidigung ausgerichtet, ist ein in Jahrhunderten eindrücklich gewachsenes Gebilde, sie  stellt für die Schweiz das gemeinschaftsbildende Instrument par excellence dar und ist nicht aus unserem Land wegzudenken. Sollte sie abgeschafft werden, könnte keine andere Institution ihre sozialisierende Funktion übernehmen, und nichts Aehnliches könnte je wieder an ihrer Stelle aufgebaut werden.” Die Initiative zur Abschaffung der Armee beschäftigt Hodler offensichtlich, aber weniger die Tatsache der Initiative selbst, als die Verwechslung von Ursache und Wirkung, die sich darin zeigt. “Einmal mehr wird der Sack geschlagen und der Esel gemeint. Denn die Abschaffung der Armee wäre noch keine Abschaffung des Krieges, die Ursachen der tödlichen Animosität wären dadurch noch nicht behoben”, ereifert er sich. Von der militärischen Praxis hat Hodler insbesondere die “worst-case”-Szenarios in die Praxis der Unternehmensführung übernommen. “Nicht was wahrscheinlich geschieht, lohnt es zu planen, sondern der schlimmste mögliche Fall muss eruiert und vorbereitet werden, das grösstmögliche Unglück. Allein durch Training im Zusammenhang des “worst case” lassen sich mindere Unfälle und Schäden ohne Panik bewältigen.”

Je mehr man von und über Hodler erfährt, je mehr wird er einem zum Rätsel. Sicher ist er nicht einfach “a glatte Chaib”, wie ihn nicht wenige im Betrieb einschätzen.Es stört ihn jedoch nicht, als naiv gescholten zu werden. “Wenn mit Naivität Offenheit und Fairness gemeint sind, bin ich gern naiv”, lacht er. Abgebrüht ist er jedenfalls nicht, Intrigen und Machtspiele sind ihm fremd. Er verficht eine Ethik des Handelns und nicht der Zwecke, und er ist überzeugt, dass sich diese Haltung auch geschäftspolitisch bezahlt macht. Truls D. Berg schätzt die Zusammenarbeit mit Martin Hodler hoch, als “ausgezeichneten Mann” rühmt er ihn und wirft  ihm höchstens vor, in allzu kurzer Zeit die Welt verbessern zu wollen. Im Tempo und in der Taktik, nicht in der Zielsetzung, liegen die wichtigsten Differenzen zwischen Berg und Hodler, die beide für die Verdeutlichung ihres “Programms” aufschlussreiche Metaphern aus der Seefahrt brauchen: Während Hodler das Wort von St. Exupéry aufgreift, es genüge nicht, Hol zu sammeln, um ein seetüchtiges Schiff zu bauen,  sondern  man müsse “den Leuten die Sehnsucht nach dem weiten Meer lehren”, vergleicht Berg die Unternehmenspolitik mit einem riesigen “Schlachtschiff”, das heil durch Klippen, Stürme und Distanzen von einem unbrauchbar gewordenen Hafen zu einer neuen Küste geführt werden müsse, “und das geht nicht von heute auf morgen”, gibt er zu bedenken.

Mit Hodlers Zukunftsvisionen geht ein ungeheurer Arbeitseinsatz einher. Als Stabchef des ganzen Konzerns betreibt er die Koordination der strategischen Planung auf der firmenpolitischen und auf der organisatorischen Ebene in Hinblick auf die in Kürze bevorstehende Holding, die sich nach der in den letzten Jahren erfolgten Expansion  (mit dem Kauf der Vlesia AG 1981 und der Hakle-Gesellschaften 1984) aufdrängt. Im Planungsbereich gilt es insbesondere, Synergiepotentiale zu erkennen und zu nutzen, unter Wahrung der Selbständigkeit und der Kompetenzen der Tochter-Firmen. Daneben betreut Hodler die ganze Oeffentlichkeitsarbeit des Konzerns als der firmeninterne PR-Manager, weiter ist ihm das Management-Development anvertraut, sowohl die Weiterbildung der Mitarbeiter wie deren Karriereplanung und optimale Plazierung, er  ist deren Wunsch- und Sorgen-Auffangstelle wie deren Weiterleitungsinstanz. Und, last but not least, besorgt er für Truls D. Berg alle anfallende Stabsarbeit, als Ghostwriter wie als “mover and shaker”, Hodler lacht leicht, “die moderne Bezeichnung für Hofnarr.”

Und wann immer er sich freischaufeln kann, liebt er es zu photographieren, im Winter skizufahren, und Golf zu spielen im Sommer. “Schuten”, bedauert er, “wird langsam gefährlich!” Auch die Teilnahme am firmen-internen Hockey-Match, zusammen mit Truls D. Berg, war eher ein Gaudi als ein ernsthafter Sportwettkampf, lachend zeigt er das Photo seiner behelmten Gleit- und Spielversuche auf dem Eis.

Viel ernsthafter als diese sind seine Bemühungen, immer weiter in Philosophie, Kommunikationstheorie und kreative Managementlehre einzudringen. Seine Leseprogramm ist beachtlich, seine Insistenz im Fragen und Forschen bewundernswürdig. Hat Martin Hodler Vorbilder? Wieder  verweist er auf Heisenberg und Einstein, auf die Verbindung von Wissenschaftlichkeit, Intuition und Menschlichkeit. Im übrigen kümmert er sich nicht um Vorbilder, den Massstab für seinen “Ehrgeiz” – nicht im Sinn der Anerkennung von Aussen, sondern des eigenen Fortschritts – findet er in sich selbst. Und das gibt ihm viel Gelassenheit, das Gefühl, “überhaupt nicht in ständigem Kampf zu sein.”

Und Vorbilder für seine Management-Revolution? “Evolution!” korrigiert  er  mich, “die Umwandlung des reinen Wachstumsdenkens in ein  ganzheitliches  Denken  geschieht ja in kleinen Schritten” Also doch die Linie seines Chefs! Auch hier bedarf er keiner konkreten Vorbilder, die Team-Arbeit mit Truls D. Berg und die kritische Unterstützung durch die übrige Konzernleitung sind ihm Ansporn genug. “Nicht nur grosse Konzepte entwerfen, danach leben istwichtig,” schliesst er und begleitet mich über den spiegelblanken Linoleumflur der Chef-Etage hinaus in den strömenden Regen.

 

 

 

 

 

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