Ein Deutscher auf Widerruf – Zu Hans Mayers “Augenblicke”

Ein Deutscher auf Widerruf – Zu Hans Mayers “Augenblicke”: Aufsätze zu Literatur, Musik, Theater und “in eigener Sache”

 

Rezension publiziert im St. Galler Tagblatt am 30. Mai 1987

 

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“Nicht Vorschein von Heimat, eher ein spätes Licht”

Ueber: Hans Mayer, Augenblicke: Ein Lesebuch, Suhrkamp Verlag, Frankfurt  a.M.  1987

“Ein eigenes Land besitze ich nicht mehr. Ich bin Staatsbürger, Profes­sor im Ruhestand, deutscher Schrift­steller. Doch glaube ich immer noch meine eigene Landschaft zu besitzen. Darüber  kann und will ich noch immer reden. Reden über die eigene Land­schaft und die eigene Sprache. Das ist nicht Vorschein von Heimat, wie Ernst Bloch gehofft hatte, eher ein spätes Licht. Aber ein Licht: nach so viel Dunklem”.

So schliesst Hans Mayer sein “Reden über das eigene Land” ab, über das Land Deutschland, einst Heimat und dann “Heimat auf Widerruf”, wie er es nennt, verlorene Heimat der Wirr­nis und der Schuld, aber immer und unaustauschbar Ort der Zugehörigkeit durch Dichtung,  Musik  und Philosophie,  durch Lehrer  und Freunde: durch Sprache.

Zu Hans Mayers  80. Geburtstag,  der während  dieses ganzen Jahres zu  fei­ern ist, wurde viel über den grossen Denker geschrieben,  über den Litera­tur-­ und Kulturkritiker, der durch seine Rückkehr  ins  ­geistig und physisch ­zerstörte Deutschland un­mittelbar nach Kriegsende, dann durch seinen Entscheid, 1948  aus der amerikanischen Zone nach Leipzig und 1953 wieder nach Westdeutschland zu ziehen, immer  lehrend und schreibend,  als ” Pr o f e s s o r ” und als  ” S c h r i f t s t e l l e r “, vor allem aber als einzelner  die gewaltsam zerstörte deutsch-jüdische Kultursymbiose  wieder  aufgebaut  hat, aus der Trauer über deren  Zerstörung und aus der – in ihm selbst unzerstörten – Verpflichtung  zur Humanität. In diese Arbeit der kulturellen und persönlichen Auseinandersetzung mit Deutschland gibt das vorliegende “Lesebuch” Einblicke: “Augenblicke” der  Teilhabe an der Brillanz von Hans Mayers Literaturanalytik, etwa mit dem Aufsatz über Werthers  “Leiden”, dem ersten und “perfektesten”  von Goethes Romanen, in dem des  Dichters eigenes Erleben zeitübergreifende Sprache wird, in dem “alles  sich  durch  Sprache vollzieht”, sagt Hans Mayer. Sprache: “Die hatte es so noch nicht gegeben. Nicht “schöne” Sprache, sondern genaue, die zuerst sich durch ihre Tatbestände auffinden und benennen musste”. Das trifft auf Hans Mayers eigene Essays  zu, da, wo er Goethes  Doktor Faust und Büchners Prinz Leonce einander gegenüberstellt, oder wo er über Karl Kraus, den “Gr o s s e n N ö r g e l er”, den prophetischen, nachdenkt, oder über Bertold Brecht.  Andere “Augenblicke”, Begegnungen ähnlich, bieten die “Skizzen und Portraits”: Ernst Bloch, Adorno, Paul Celan, Erika Mann, Günther Anders, Elias Canetti, Peter Brückner, Ernst Busch werden vorgestellt aus der besonderen Kenntnis des empfindlichen und kongenialen Zeitgenossen. “Augenblicke” sind auch Begegnungen und Erlebnisse  an fremden Stätten, präzise erfasst und wiedergegeben in den “Reisebildern” aus Moskau, aus China und aus dem Senegal. “Imaginäre Gespräche” sodann, in einem imaginären Parnass geführt, wo weder Vergangenheit noch Imagination Realitätsabbruch bedeuten, von Geschöpfen weit entfernter  Dichter geführt – Mayor  von Tellheim upd Felix Krull – über so grosse  Themen wie Redlichkeit, oder von Dichtergestalten  selbst – Albert Camus und Hermann Hesse – über Zeit und Welt, über Revolution, Nihilismus  und Leben, vergnüglichste “Augenblicke” der  Teilhabe an hochkultivierten Argumentationsspielen. “Augenblicke im Theater”  folgen und “Augenblicke  der Musik”,  und immer führt Hans Mayer den Leser anhand der Sprache selbst in den Dialog ein, anregend und herausfordernd, nie belehrend, immer im selbstverständlichen Rekurs auf die allen gemeinsame  Kultur. Auf vollendete Weise  geschieht dies, wo er “in  eigener  Sache” spricht, auf den letzten fünfzig Seiten des fast 400-seitigen Buchs,  wo er “Augenblicke” aus seiner  Jugend, aus seiner Studienzeit und aus den Jahren der zweifachen Rückkehr  nach Deutschland schildert,  wo er  zudem sein intimstes literarisches  Wissen preisgibt: jene Gedichte, die er aus dem grossen Patrimonium der deutschen Dichtung als “seine” Gedichte bezeichnet, nicht diejenigen, die zum eisernen Bildungsbestand gehören, sagt Hans Mayer, “kein  Schatzkästlein”, sagt Hans Mayer, dies ebenso wenig, “das man öffnen könnte,  um die Juwelen herauszunehmen…  Literatur  ist niemals ewiger Besitz, obwohl oder gerade weil sie dauerhafter zu sein pflegt als alle ephemeren Ereignisse des Tages. Die grossen Werke können warten, die Gedichte vor allem. Ihnen nähert man sich, falls man sie früher einmal kennenlernte und zu lieben begann,  immer wieder  im Verlauf eines Lebens …”.

Um Annäherung, Begegnung und – vielleicht  – Uebereinstimmung geht es in allen ausgewählten “Augenblicken”, um Hans Mayer selbst geht es, um Deutschlands  Dichtung und Dichter und Sprache: um das Lichthafte, letztlich, das immer wieder gegen das Dunkle antritt. Verse aus Peter Huchels “Winterpsalm, Hans Mayer gewidmet”,  sind  dafür beispielhaft:

“Wohin du stürzt,  o Seele / Nicht weiss es die Nacht. Denn da ist nichts / als vieler Wesen stumme Angst. / Der  Zeuge  tritt hervor.  Es  ist  das Licht”.

Das  Licht. Hans Mayer selbst  spricht vom “späten Licht”, nicht  “Vorschein von Heimat, aber ein Licht, nach so viel Dunklem”.

Es  gibt keine stärkere Antithese als Licht und Dunkel. Die Aufklärung hat sich mit der Lichtmetapher erklärt, das wachsende Leben ist ganz und gar abhängig vom Licht, die reichsten Wahrnehmungen und mithin die untrüglichsten Rückschlüsse für Erkenntnis geschehen durchs sehende Auge, mithin durchs Licht: ohne Licht ist Tod, Stumpfheit und Grauen.

Hans Mayers  “Augenblicke”  sind – in diesem  Sinn – ein helles  Manifest.

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