Die Bedeutumg des geschriebenen Worts – Gespräch im Club Hrotsvit in Zürich am 22. 2. 1995

Die Bedeutumg des geschriebenen Worts

Gespräch im Club Hrotsvit in Zürich am 22. 2.  1995

 

Sie haben mich nach der “Bedeutung des geschriebenen Worts” gefragt.  Es wurde viel darüber nachgedacht, seit Menschen schreiben.  Warum soll ich es auch tun? Weil Schreiben meine tägliche Tätigkeit ist? Weil gerade das, was wir täglich tun, auf seine Bedeutung hin zu befragen ist? Oder,  abgesehen von meiner Person, weil die sokratische Tradition in unserer Kultur,  das heisst die Wissensvermittlung über die Erfahrung und über das gesprochene Wort, wenig Platz hat, weil sich, insbesondere in den Geisteswissenschaften, eine – erfahrungsängstliche – Tradition des Bücherwissens verfestigt hat? Oder weil seit der Mitte dieses Jahrhunderts infolge der elektronischen, bildkonzentrierten Informationsflut selbst die Wissensvermittlung über das “geschriebene Wort” mehr und mehr ausgeblendet wird ?

Das geschriebene Wort:  “Wort”  steht metonymisch für “Sprache”, wie “Brot” für· Nahrung’, wie “Auschwitz” für die Vernichtung des jüdischen Volkes, wie “ethnische Säuberung” für ein politisches Programm und einen Krieg mit nicht wiedergutmachbarer  Zerstörung von Menschenleben, von Zusammenleben und von Kultur.  Die Metonymie ist nicht nur Verkürzung,  sondern auch Verdichtung dessen, worum es geht, sie ist die Chiffre, die mehr und Grösseres einschliesst, das unausgesprochen mitverstanden wird.  Doch ich nehme an, dass in Ihrem Wunsch an mich nicht die Chffre gemeint ist, die als “logos” und “verbum” in der Philosophie und in den Religionen unseres Kulturkreises so bedeutungsschwer ist, sondern dasjenige, was mit der Chiffre gemeint ist:  die geschriebene Sprache,  die Texte, die Bücher und deren Bedeutung.

Wie kam ich dazu, eine Schreibende zu werden? Ich wuchs mit Büchern auf: mein Vater war ein Sammler von Büchern,  er glaubte an die Kraft der Bücher,  an die generative Kraft des Geistes, die über die Bücher die Welt zu verändern vermag.  Jedes Buch in seinen Händen war etwas Kostbares. Deshalb wurde er, der eigentlich ein Kaufmann war, zum Verleger.  Sein Anliegen war,  den Schreibenden, den Denkern und Denkerinnen, den Dichtern und Dichterinnen einen Weg aus der privaten Eingeschlossenheit des Schreibens in die Welt des Lesens,  und unter die Menschen zu öffnen, ihren Textenjene Wirkkraft zu ermöglichen,  an die er glaubte und die nur über die Multiplikation der Werke erfolgen kann, nur über deren Verbreitung in Gestalt von Büchern,  die von Hand zu Hand gehen,  die gelesen,   besprochen und zitiert werden,  deren Inhalt damit nicht zu Ende geschrieben  ist, sondern  durch jede Lektüre weiterwächst und zu einem neuen  Text wird, unendlich multiplizierbare Gestaltwerdung von Denken,  Zweifeln und  Analysieren, von Fragen,  Empfinden und Erklären, von Empörung und Begeisterung, von Freiheit,  von Liebe, von Verrat,  von  Tod- Wirkkraft, weil Bücher  die Flüchtigkeit und das Verklingen des gesprochenen Wortes  zu bannen vermögen, weil sie das Gesetz  der Zeitlichkeit  – scheinbar – überwinden, weil sie Menschheitserbe bedeuten.

Meine  Sozialisation  erfolgte also über  die Bücher, über das Lesen.  Ich war noch  ein Kind, als ich ins Gespräch trat mit den grossen  Schriftstellern und Schriftstellerinnen – Initiation  nicht nur in die Literatur, sondern  in die Welt.  Dies klingt prahlerisch, ich weiss,  aber es war ja nicht die Wahl und Leistung  des Kindes,  sondern  das Geschenk  des Elternhauses, es war  die Nahrung,  die in den Kriegs-  und Nachkriegsjahren in reicherem Mass vorhanden war als Lebensmittel.  Landschaften und  Städte wurden mir vertraut,  die ich später,  als ich reisen konnte, wiederentdeckte, als ich versuchte, die Hotels und Strassen wiederzufinden, wo ich lesenderweise Begegnungen, Gesprächen und Abschieden  beigewohnt hatte,  als ich auf Bahnsteigen oder in Cafes immer wieder  stutzte,  verwirrt  und manchmal  erschreckt, wenn ich plötzlich in ein Gesicht blickte,  das ich zu erkennen  meinte.  Wien, Moskau, Prag,  Triest, Paris, Deauville, Warschau,  Berlin, Florenz hatten die Farbe von Bucheinbänden und  den Geruch von Papier und Staub, ich braucht keinen Pass für die Grenzübergänge, kein Eintrittsbillet in die Trauerspiele und Komödien des Welttheaters.  Meine Identität  baute  sich auf und veränderte sich vorweg durch die wechselnden Identifikationen mit Frauen und Männern  aus meiner geheimen,  kulturenübergreifenden, zeit- und ortenthobenen Familie, aus Vorbildern, die sich mir nie entzogen,  sondern  die immer verfügbar waren, nachschlagbar und nachlesbar,  die meinen Phantasien standhielten,  die mit ihren Fragen und Aussagen,  mit ihren bewunderswerten oder  schrecklichen Entscheiden, mit ihrem Handeln  und ihrer Ohnmacht  für mich Massstäbe setzten.  Ich weiss noch,  wie ein lähmendes  Grauen in mir wuchs,  als ich das erstemal von den Bücherverbrennungen durch die Nazis erfuhr, dass ich sofort begriff dass sich diese Gewalt  gegen  die Wirkkraft des Geistes richtete und gegen  diejenigen,  die die Bücher geschrieben hatten und ebenso  gegen  diejenigen,  die sie lasen und liebten und hüteten wie etwas Lebendiges.

Die Bedeutung des geschriebenen Worts?  Der Vater hielt mich und meine Schwester nicht nur zum Lesen, sondern  auch zum Schreiben  an, und nicht nur zum Schreiben,  auch zum Zeichnen und Malen, kurz zu jeder  Art von Formgebung und Gestaltung dessen, was in der Phantasie und im Denken  sich abspielte.  Er brachte uns zu diesem Zweck  aus der Buchdruckerei “Blindbände”  mit, schön gebundene  Bücher  ohne Text.  Die Bezeichnung war rätselhaft.  Ich verstand sie auf meine Weise.  “Blind” bedeutete für mich, dass ich “nicht nachschauen”  durfte, dass ich “nicht abschreiben”  durfte.  Und ich begriff dass ein “Band” nicht nur in die Zöpfe geflochten  wurde,  sondern  auch ein Buch war.  Mit dem Schreiben begann  die Erfahrung der Vieldeutigkeit der Worte,  die Erfahrung der Schwierigkeit mit dem richtigen  Ausdruck, eine – wie ich heute weiss  – unabschliessbare Erfahrung, die durch die verschiedenen Sprachen,  die ich sprechen und schreiben  lernte, vervielfacht und zugleich relativiert  wurde,  da zugleich  das Vergnügen an der Variation wie an der Präszision wuchs.  Ich liebte es, Briefe zu schreiben, und ich wurde  nicht müde,  während  der langen Wege,  die ich zu gehen hatte  – Schulwege  und andere – fertige  Sätze, Argumente, Briefe, Geschichten und andere  Texte  “im Kopf’ vorzuschreiben.  Und wenn ich “im Kopf’ nicht schrieb, beschäftigten mich andere  Texte, auswendig  gelernte  Gedichte,  die ich lautlos  auch mit Melodien kombinierte, Variationen zu Gedichten  und Liedern,  Übersetzungssprachspiele, Alliterationen oder Reimübungen, nie erschien mir ein Weg lang oder langweilig.

Zum zwanzigsten Geburtstag schenkte  mir der Vater  eine portable  Schreibmaschine, eine Hermes  Media, die mich fortan auf allen Reisen und auf allen Wohnsitz-  und übrigen Lebenswechseln begleitete und auf der ich, bis ich mich vor wenigen  Jahren zu einem PC überzeugen liess, alle Bücher  und Artikel  schrieb. Doch  die Gewohnheit, auf meinen Wegen, während der langen  Strassenbahnfahrten und Stadtspaziergänge,   “im Kopf’  Texte vorzuschreiben oder mir Texte in Erinnerung zu rufen, habe ich nie aufgegeben.  Ich bin überzeugt, dass Sprache und  Schrift Partizipation an der Schöpfung  sind, dass sie zudem ebenso  sehr Welthaftigkeit bedeuten wie Liebe, Kinder gebären und  aufziehen,  Landbau  und Schiffahrt,  Städtebau oder Handel mit lebenwichtigen Gütern,  das heisst wie all jenes,  was der aufbauenden und fortdauernden Beziehungshaftigkeit der Menschen dient.  Gerade über  das Schreiben entstand  und  entsteht  vorweg eine Textualität der Welt und der darin lebenden Menschen,  die Beweis  ist für das stärkere,  Gewalt und Tod überdauernde Leben  des Geistes.

Ich bin daher überzeugt,  dass diejenigen,  die sich über  das Schreiben  einmischen in die fortdauernde Gestaltgebung der Welt, eine besondere Verantwortung tragen.  Ob es sich um Wissenschaft oder um Fiction handle, um Versuche  der möglichst  exakten Wirklichkeitswiedergabe oder -analyse, um ganz subjektive Welt- und Lebensdeutungen oder um welche  Texte  auch immer,  die Lüge  sollte ausgeschlossen und das Streben nach Wahrhaftigk.eit, Wahrhaftigk.eit  allein schon in der Wah1 und Gewichtung der Worte, verpflichtend sein.  Ist dies eine zu hohe,  eine zu grosse  Forderung? Kann ihr überhaupt entsprochen werden?  Ich nehme  an, dass die Schwierigkeit, ihr zu genügen,  einer der Gründe für die imm er wieder von neuem  quälenden  Schreibhemmungen und -blockaden sind, für die Etfahrung,  dass das Schreiben immer von neuem  eine unausweichliche Selbstprüfung bedeutet. Wenn dem nicht  so wäre, könnte  es den Anspruch erheben,  Teil eines nicht abbrechenden grossen  Gesprächs zu werden,  das die vorweg  sich gestaltgebene Welthaftigkeit dokumentiert? Käme dem “geschriebenen Wort”  ausserhalb dieses Anspruchs überhaupt Bedeutung  zu?

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