“Es gab Stufen der Gleichgültigkeit” – Fünfzig Jahre seit der Oktoberdeportation 1940

“Es gab Stufen  der Gleichgültigkeit” – Fünfzig Jahre seit der Oktoberdeportation  1940

 

“Erst hiess es, es sei ja nur eine Internierung, es seien  ja nur Ausländer”, erinnert sich die französische  Politikerin Simone Veil. “Man sagte, man wisse nichts genau. Aber man wollte es auch nicht so genau wissen. Erst gab man sich zufrieden, wenigstens die Kinder unter sechzehn vor der Deportation in die Gaskammern zu retten. Und dann fand man, es sei doch besser, wenn sie mit ihren Eltern gingen”.

Simone Veil war selbst eines dieser Kinder. Als Ueberlebende von Verfolgung, Verschleppung und Todesnähe stand sie im letzten Herbst  auf  dem wiederhergestellten Friedhof des französischen Lagers von Gurs am Fuss der Pyrenäen und gedachte der hier an Schwäche, Krankheiten und Verzweiflung verstorbenen  Frauen, Männer und Kinder. Gurs war neben den ebenfalls in Südfrankreich gelegenen Lagern von Rivesaltes, Le Vernet, Récébédou,  Les Milles,  Saint Cyprien und Noé eine der Vorstationen für die definitive Abschiebung  in  die  Vernichtungslager  in Polen.

Am  22. und 23. Oktober 1940 waren auf Grund eines geheimen Erlasses  des Badischen Innenministeriums  in einer minutiös vorbereiteten Aktion 6500 badische und pfälzische  Juden – Erwachsene, Kinder und alte Leute – aus ihren Wohnungen  und Häusern getrieb. in Banbahnwagen verpfercht  und ohne vorherige Benachrichtigung  der französischen Amtsstellen nach Gurs deportiert worden. Pro Person durften fünfzig Kilogramm Gepäck und hundert Reichsmark Bargeld mitgenommen werden. Einzelne der Betroffenen entzogen sich der Verhaftung durch Selbstmord.   Nach etwas mehr als anderhalb  Jahren  der Not und Entbehrungen wurden vom 7. August 1942 an die in Gurs internierten  Juden in Viehwagen über das in der Nähe von Paris gelegene Lager  Drancy in die Gaskammern von Auschwitz,  Majdanek und Sobibor transportiert.

Zum fünfzigsten Jahrestag der Oktoberdeportationen (die gerade das schweizerische  Judentum zutiefst aufwühlten, bestanden doch zwischen zahlreichen  Familien diesseits und jenseits der Grenze verwandtschaftliche Bande) ist rechtzeitig ein umfangreicher Dokumentationsband  mit einer Fülle  von Briefen, Tagebuchauszügen, Berichten überlebender Zeitzeugen und erläuternder  Essays erschienen*). Unter  vielen Beiträgen mag derjenige des Berner Historikers Jacques Picard über die jüdischen Hilfsaktionen  und die politische Lage der Juden in der Schweiz zwischen  1940  und 1942 besonders   interessieren,  gibt er doch genau belegte Auskunft über die damaligen prekären Verhältnisse in unserer von Kriegsangst und antisemitischer Hetze zerwühlten “Friedensinsel”, von der aus allerdings  auch versucht wurde, mit vereinzelten mutigen Hilfsaktionen das Los der Verfolgten zu lindern, zumeist auf  Initiative von  jüdischen und nicht-jüdischen Frauen.  “Erinnere dich. Vergiss  es  nicht”,   ist  das Motto  des  Buches; Erinnerung an Unrecht, das sich in  keiner Weise  gegen niemanden wiederholen darf.

*)  Oktoberdeportation 1940. Herausgegeben von Erhard R. Wiehn. Verlag Hartung-Gorre, Konstanz 1990. Brochiert, 1032  Seiten, Fr.57.70

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