Globale Revolution: Überlebt die Demokratie?

Rigi-Kolloquium  zum Thema:

Globale Revolution:  Überlebt  die Demokratie?

 

Ich möchte zuerst zwei kritische Bemerkungen  zur Rahmenreflexion  unseres Kolloquiums machen,  d.h. zum Titelkonzept  und zur Titelfrage;  danach möchte ich auf ein Defizit in der Analyse des Club of Rome hinweisen und die zentrale Bedeutung dieser nicht erwähnten zusammenhänge kurz erläutern:

(1) Es erscheint mir falsch, von “globaler Revolution”  zu sprechen,  wo es um die dringende Veränderung der desolaten Zustände überall auf der Welt geht, damit ein zukunftsfähiges Leben und Zusammenleben der Milliarden  von Menschen überhaupt ins Auge gefasst werden kann. Der Begriff “globale Revolution” hat Verführungscharakter. Er suggeriert die Vision einer umfassenden Veränderung  zum Guten. Nun aber wissen wir aus der Geschichte wie aus der Gegenwartsanalyse,  dass der Revolutionsbegriff lediglich als Schreibtischbegriff Veränderung  zum Guten bedeutet.  In der politischen  Praxis bedeutet er Repression und Gewalt,  wobei die ideologische  Verdehunge gerade dadurch zustandekommt, dass Gewalt und Repression  durch die Idee des Guten,  die durch die Revolution verwirklicht  werden soll, scheinbar legitimiert werden.  Die Veränderung  zum Guten kann nicht mit  e i n e m  globalen Konzept geplant oder durchgeführt  werden.  Es bedarf ungezählter unterschiedlichster Ansätze,  an der Basis ebenso wie auf Regierungsebene,  entsprechend  den unterschiedlichen  Entstehungsgeschichten und Hintergründen der sozialen,  wirtschftlichen,  politischen und ökologischen Krankheitserscheinungen. Diese Ansätze haben nur dann Aussicht auf Erfolg,  wenn sie sich durch eine breit abgestützte,  selbstverantwortete Partizipation möglichst aller betroffenen Menschen als Aufbau- und Genesungsprozess  zu entwickeln vermögen.   Denn alle weltweiten  Zerstörungserscheinungen, die im Bericht des “Club of Rome” analysiert – werden,  von der Zerstörung  der Erdressourcen zur Zerstörung  der menschlichen Gemeinschaft-durch Krieg,  Gewalt, Hunger,  Migration und kulturelle Entwurzelung bedeuten in erster Linie physisches und psychisches  Leiden. Leiden,  zumal Leiden in diesem unerträglichen,  unsäglichen Ausmass,  aber lässt sich nicht durch revolutionäre Konzepte heilen.  Es bedarf der Befähigung der Leidenden selbst, die Ursachen des Leidens zu erkennen  und andere Möglichkeiten  des- Entscheidens  und Handelns – zukunftsfähige Möglichkeiten  – auf selbstverantowrtliche Weise wahrzunehmen.  Unzulässig  erscheint  mir vor allem,  dass weiterhin von der sogenannten  “Ersten Welt” Rezepte für die sogenannte “Dritte Welt” generiert werden,  ob diese nun die “Marktwirtschaft”  oder die ökologische “Revolution”  betreffen.  Es gibt nicht mehrere Welten,  sondern nur eine Welt,  ein Organismus,  dessen Teile jedoch  auf verschiedene  Weise leiden.

(2) Die Frage,  ob die Demokratie  überleben  kann,  macht keinen Sinn, solange die Demokratie  nicht wirklich lebt. Ich denke,  dass auch bei uns – nicht anders als in den anderen westlichen Demokratien  – Demokratie  in der wirklichen Bedeutung der Idee, nämlich einer-umfassenden Partizipation  aller Frauen und Männer – des gesamten “demos” -an der politischen  Entscheidungs-  und Handlungsmacht,  eine zunehmend gefährdete Utopie ist. Sie ist zum rechtlichen  Formalismus  degeneriert,  zu einer Leerformel, während in der Praxis längst eine Expertokratie  die Entscheidungs-  und Handlungsbefugnisse beansprucht und ausübt. Immer geringere  Beteiligung an Abstimmungen  und Wahlen,  schwindende Mitgliederzahlen bei Solidaritätsgruppierungen,  ob dies Gewerkschaften  oder Kirchen seien, eine abnehmende  Bereitschaft, zivile Pflichten zu übernehmen,  eine wachsende Indifferenz sozialen, politischen  und wirtschaftlichen Missständen gegenüber  – all dies sind Indizien für nicht gelebte Demokratie,  letzlich für fehlenden Gemeinsinn.  An dessen Stelle machen sich zwei komplementäre  Erscheinungen  breit:  einerseits eine zunehmende  Fragmentierung  der Gesellschaft in immer kleinere Einheiten mit Einzelinteressen,  deren schnelle Erfüllung  – unabhängig davon ob diese Interessen wirklichen Bedürfnissen  entsprechen oder Launen – als Anspruch an den Staat und an öffentliche Institutionen  gestellt wird.  Zugleich werden Phänomene der Vermassung   und damit der kollektiven  Verführbarkeit – ob zu Konsum,  zu Gewalt und Krieg,  zu Solidaritätsverweigerung,  zu Fatalismus,  Nationalismus,  Rassismus und anderen Ismen – deutlich,  die ebenfalls mit dem Verlust des Gemeinsinns und der gelebten Eigenverantwortung einhergehen.

(3) Ich denke,  dass sowohl die Notwendigkeit  einer Vielzahl von Veränderungsprozessen – sozialen, wirtschaftlichen,  politischen  und ökologischen  – (anstelle einer von Experten konzipierten  “globalen Revolution”)  wie die Notwendigkeit  wirklich gelebter Demokratie theoretische Postulate bleiben,  solange  e i n e  zentrale Voraussetzung   – eine Voraussetzung sine qua non – unerfüllt bleibt: die Voraussetzung  allgemein zugänglicher,  gründlicher Bildung. Ich meine damit Bildung,  die sowohl Wissen wie Erfahrung vermittelt,  die die persönlichen  Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten ebenso fördert wie die Konfliktfähigkeit  und den Gemeinschaftssinn der Menschen.  Diese Art der Bildung ist auch bei uns – nicht anders als in den übrigen westlichen Ländern  – ein Mangel;  sie fehlt völlig in den Ländern des Armutsgürtels der Welt. Der  “Club  of Rome” hat dieses Bildungsdefizit und die zentrale Bedeutung der Bildungsaufgabe nicht thematisiert.  Wie aber sollen eine· Veränderung  der Wirtschafts-  und Schuldenverhältnisse  zwischen reichen und armen Ländern, wie soll ein Ende der Waffenproduktion sowie der Aufhetzung  zu Krieg und Gewalt, wie soll eine Befriedung der Menschen  (d.h.  Konfliktfähigke im Zusammenleben und gegenseitige Akzeptanz der Differenzen),  wie soll eine gerechte Verteilung  der Rechte und Pflichten,  wie soll Verantwortung  für die Zukunft der Kinder,  wie soll eine dauerhafte Erhaltung der lebensnotwendigen  Ressourcen sowie des tierischen  und pflanzlichen Schöpfungsreichtums,  wie soll das gleiche Recht aller Menschen,  auch der schwächsten und ärmsten,  auf Glück erreicht  werden ohne Bildung, ohne Kenntnis der Zusammenhänge  und der Folgen von Entscheiden,  von andeln und Nicht-andeln?  Es genügt doch nicht, das Bevölkerungswachstum  als Ursache der Armut und der weltweiten Migration zu deklarieren.  Auch  das Bevölkerungswachstum  – nicht anders als der millionenfache Subsistenzverlust  – haben vor allem mit Bildungsdefiziten  zu tun. Als Beispiel mögen die Verelendungserscheinungen in den USA als Folge der unverantwortlichen Wachstumsideologie Reagan’scher und Bush’scher Prägung mit den damit verbundenen Reduktionen  im Bereich von Bildung und Sozialleistungen  (die wiederum auch mit Bildung und Aufklärung  einhergehen,  gerade in den gesellschaftlich zentralen  Zusammenhängen .der ygiene,  der Krankheits-  und der Gewaltsprophylaxe) genügen.

Ich schlage vor,  dass die zusammenhänge von Demokratie  und von weltweiter Veränderung der galoppierenden Zerstörungsprozesse in Genesungs- und Aufbauprozesse  unter dem Aspekt des weltweiten Bildungsdefizits  sowie der prioritären  Bildungsaufgabe zu diskutieren sind.

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