“Der Angst den Mut entgegen setzen” – Interview in “reformiert” von Christa Amstutz

«Der Angst den Mut entgegensetzen»

 

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PHILOSOPHIE / Maja Wicki ist überzeugt, dass es Wege gib aus der Angst. Sie befasst sich nicht nur philosophisch mit der Angst, sondern auch als Therapeutin von traumatisierten Menschen.
“Früher glaubte ich, dass Angst zumindest eine Warnfunktion hat. Heute sehe ich vor allem ihre hemmende, unterdrückende Seite. Kritisches, kreatives Denken ist der bessere Ratgeber. Angst hat viel mit Unterwerfung unter nicht fassbare Autoritäten zu tun, die scheinbar keine Wahlmöglichkeiten zulassen, um Glück und Sicherheit zu erlangen. Oft beginnt diese Dressur schon in der Kindheit. Ein Kind, das in einem Klima von freiem Denken, von erlaubtem Widerstand aufwächst, wird mit weniger Angst durchs Leben gehen.”

Sich nicht ohnmächtig fühlen. Kollektive Ängste, Angst vor Fremden, vor Verlust des Arbeitsplatzes, vor sozialem Abstieg, Angst vor der Zukunft* bauen auf denselben Mechanismen auf. Die Wirtschaft ist ein undurchschaubares Machtsystem, dem sich Menschen aus Angst, ausrangiert zu werden, unterwerfen, notfalls auf Kosten anderer. Angst und Schuld sind vernetzt. Doch es gibt Wege aus der Angst. Zum Beispiel, statt als einzelner um jeden Preis den Besitzstand zu verteidigen, setzen wir uns mit anderen gemeinsam für eine gerechte Verteilung von Einkommen und Lebensqualität ein. Das bedeutet nicht möglichst viel für wenige, sondern genügend für möglichst alle.

Die Gegenkraft zur Angst ist der Mut. Mut – Courage – bedeutet die Kraft des Herzens. Etty Hillesum, die 1943 in Auschwitz ermordet wurde, hat den Begriff des «denkenden Herzens» geprägt. Der kritische Verstand und der Impuls der Gefühle halten sich dabei die Waage. Wird der Angst das denkende Herz entgegensetzt, wird vieles möglich. Bei jedem Entscheid lassen sich die Folgen des Tuns bedenken: Was ist gut für mich, aber auch für die anderen und für die, die nach mir kommen? Was verursacht möglichst wenig Leid? So kann die Spirale von Angst und Gewalt, die sich oft über Generationen fortsetzt, unterbrochen werden. Nicht Leere ist die Alternative, sondern ein Raum wachsenden Vertrauens.

Ich bin überzeugt, dass man der Angst nicht ohnmächtig ausgeliefert ist. Als Traumtherapeutin habe ich mit Menschen gearbeitet, die unvorstellbares Grauen erlebt haben. Meine ersten Patientinnen waren KZ-Überlebende, dann Folter- und Kriegsopfer aus aller Welt, Opfer innerfamiliärer Gewalt, Opfer von Behördenwillkür, viele mehr. Traumata lassen seelische Wunden und schwerste Ängste zurück. Doch diesen Erfahrungen lassen sich meistens andere entgegenstellen, so die Erinnerung an Freundschaft, an Menschen, die einen verlässlichen, liebevollen Halt boten. Diese erweist sich als tragende Kraft, auch bei der Aufarbeitung des Erlittenen. Manchmal stellt sich ein Staunen ein: «Das alles habe ich überlebt.» Aufzeichnung: christa amstutz

 

maja wicki-vogt, 76. Philosophin, Psychoanalytikerin, Traumatherapeutin und Buchautorin in Zürich.

 

Bücher, die ich empfehle:

Etty Hillesum. Das denkende Herz. Die Tagebücher 1941-1943. ISBN 3 4999 15575 3

Etienne de la Boëtie. Von der freiwilligen Knechtschaft.  ISBN 3 454 00704 0

Ergänzung:

  • Die Angst vor der Zukunft beruht auf der Angst vor der fremd geregelten, berechneten und bewerteten Zeit, die nicht der inneren Zeit der Menschen entspricht. Das Nichtübereinstimmen von gesellschaftlich geregelter Zeit und innerer Zeit bewirkt den Stress, der einen grossen Teil der Menschen belastet und krank werden lässt. Allerdings ist auch die innere Zeit für viele mit Angst verknüpft, mit der Angst vor der schwindenden Dauer, vor Sterben und Tod, ob es um die eigene Lebenszeit oder um die Lebenszeit geliebter, nahestehender Menschen gehe.

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