Kontingenz – Über die subjektive Deutung und Bedeutung eines Begriffs

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Kontingenz

Über die subjektive Deutung und Bedeutung eines Begriffs

Forum vom 29. April 2005 an der Hochschule für Gestaltung, Zürich

 

Mit dem Begriff “Kontingenz” verbindet sich ein erstaunlicher Vielklang an Bedeutung. Dieser ist sowohl in den Werkdeutungen der von Regine Munz gewählten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts[1] präsent wie hinsichtlich des Begriffs Kontingenz in ihrer Einleitung zum Buch. Und ebenso wird der zugleich polyphone und dichte Wert dessen, was Kontingenz bedeutet, in der denkerischen und gestalterischen Vorbereitungsarbeit zum heutigen Forum durch die verantwortlichen Nachdiplomstudentinnen vermittelt. Ich freue mich, im ersten Teil meines Referats kurz auf die analytische Methode der Deutung und Bedeutung eines Wortes – sowohl auf die sprachanalytische wie auf die psychoanalytische – einzugehen, wodurch sich die Vielfalt von Sinngebung erläutern lässt. Im zweiten Teil werde ich mich auf die Klärung der Differenz von Kontingenz zwischen Simone Weil und Hannah Arendt reduzieren, im Sinn von Fallbeispielen.

 

  1. Die analytische Methode

 

Bei jeder Art analytischer Untersuchung geht es um ein Aufgliedern von Erkenntnis, um ein Hinterfragen des Vordergründigen auf die Zusammenhänge des Hintergründigen, des  Verborgenen im Menschen, in der menschlichen Kommunikation und im Handeln.  Das Vordergründige wird bewirkt durch das Hintergründige, das Sichtbare und Hörbare – überhaupt das Wahrnehmbare – durch das Verborgene.

Das Verborgene im Menschen selber besteht einerseits im genetischen Reichtum, der bei der Zeugung von Mutter- und Vaterseite her dem menschlichen Wesen mitgegeben wird, dieses über kaum ermittelbar viele Generationen zurückreichende Erbe geheimer und gelebter Fähigkeiten, besonderer Merkmale, kulturell geprägter Beziehungsgeschichten und genereller Zeiterfahrungen. Andererseits wird im Verlauf der pränatalen Zeit dem allmählich heranwachsenden Kind durch die Wahrnehmungen und Erfahrungen der Mutter ein individuelles Empfinden von Wohlbehagen, von Lebenswert und Sicherheit oder von Angst, von Unruhe und Bedrängnis vermittelt. Sodann ermöglichen von den frühesten Momenten des eigenen Lebens an die Sinnesorgane –  die Augen über das Sehen und die Ohren über das Hören, die Nase über das Riechen, die Zunge über das Schmecken und Kosten sowie die Haut, insbesondere die Haut des Gesichtes, der Hände und Füsse, über das Erfühlen und Ertasten – jeden Teil von Kommunikation, der von der Aussenwelt vermittelt wird: von den nächststehenden Menschen und Beziehungselementen sowie von den weiteren Einflüssen auf Raum und Zeit.  Auf je persönliche Weise werden diese Wahrnehmungen und Erfahrungen in die eigene Innenwelt aufgenommen und lösen wiederum je  persönliche Reaktionen aus – sowohl psychische wie intellektuelle Reaktionen -, welche der Wahrnehmung eine je subjektive Bedeutung verleihen und ein entsprechendes Agieren auslösen, sei es ein Verstehen und Weiterdenken, eine Neugier, zu erkunden und mehr zu wissen,  ein Sprechen, ein Lachen, eine Bewegung, ein Handeln – oder ein Rückzug in eine ängstliche Abwehrhaltung, in Widerstand oder Verweigerung, in eine latente Verstärkung schützender Aufmerksamkeit, um überleben zu können. Das ganze menschliche Verhalten – in der Abwehr von Kommunikation wie in der Zustimmung, im vorsichtigen Zaudern wie im Mut zu Handeln, in der Angstbesetztheit und Abwehr wie im erkundungsfreudigen Wissenshunger oder gar in der Aggressivität – wird geprägt durch die frühesten Erfahrungen, die im Unbewussten gespeichert bleiben. Auch die Geschlechterzugehörigkeit – Weiblichkeit oder Männlichkeit – sind von Vorbildern, Verboten und Geboten sowie von einer Vielzahl frühkindlicher Erfahrungen geprägt, ebenso die Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder einer Religion, letztlich alle nicht wählbaren, sondern mit der Geburt auferlegten “Stempel” (Signaturen, Merkmale etc.), mit welchen das Kind und der heranwachsende Mensch in ein Verhältnis zu sich selbst zu gelangen hat. Träume lassen manchmal einen Einblick in verborgene, im Unbewussten gespeicherte Erfahrungen zu, wenn der Mensch mit neuen Erfahrungen belastet wird, die der Klärung bedürfen und diese zulassen. Die Arbeit, die mit jeder Art von Klärung einhergeht, die psychoanalytische Arbeit besteht im Erkunden und Deuten des hinter dem Manifesten oft vielfach Verborgenen.

Auch Worte werden durch frühesten Gebrauch aufgenommen und angenommen, als Teil der vielschichtigen Kommunikation. Deren Bedeutung wird in erster Linie geprägt durch autoritäre Verwendung, durch Richtigerklärung und durch Bedingungen der Anpassung. Wenn die Kreise der Kommunikation sich öffnen, wird spürbar, dass ein einzelnes Wort Missverständnisse auslösen kann, durch welche sich unterschiedliche Reaktionen ergeben: ein Nachfragen und Erkunden der Bedeutung, ein Suchen nach Synonyma, überhaupt eine Sorgfalt im Verstehen sowie im Verhindern von Missverstehen und Nicht-Verstehen, oder Schuldzuweisungen und feindselige Verhärtungen, manchmal ein Rückzug ins Schweigen oder in andere Vermittlungsmöglichkeiten von Empfinden und Denken als in jene der Worte, etwa in jene des Bildes oder in jene des wortlosen Tons, des Klangs, der Musik. Auch hinter jeder Art von Gewalt steht das Versagen der Sprache. Ich verweise u.a. auf Ludwig Wittgenstein, der, geprägt durch die “Allmacht” des Vaters und durch den Suizid von drei Brüdern, als junger Freiwilliger im Ersten Weltkrieg hinter der Front begann, die Bedeutung der Worte zu hinterfragen, um selber nicht im Misstrauen gegenüber der missbrauchten Sprache der mächtigen Machthabenden zu verstummen. Der “Tractatur logic-philosophicus”, der damals entstand, setzte sich den „Philosophischen Untersuchungen“ fort. Diese leitete Wittgenstein mit einem langen Zitat aus Augustinus‘ „Confessiones“ über das Wörterlernen ein, worauf er festhielt: „Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht.“ Wittgenstein fügte bei, dass jedoch “mit dem Benennen eines Dings noch nichts getan ist”. Es habe auch keinen Namen, sondern nur “Bedeutung im Satzzusammenhang”, wie er schrieb, d.h. nur Bedeutung in der Funktion, welche vom Subjekt gemäss einer grammatikalischen Zuweisung – gemäss eines Beziehungsrasters – bestimmt wird. Zusätzlich zur Funktionsbedeutung hat das Wort einen präzisen und eindeutigen oder einen vielfachen Sinn, wie die sprachanalytische Arbeit in den damit verbundenen Untersuchungen zu erkennen ermöglicht, sowie – gemäss der mit dem Wort einhergehenden etymologischen Geschichte – auch eine oft erstaunliche Vielzahl von Herkunfts- und Entstehungsgeschichte. Allmählich wird deutlich, dass jedes Wort, das verwendet wird, letztlich eine sorgfältige oder unsorgfältige Übersetzung des persönlichen, eigentlich wortfreien Erlebens, Empfindens und Denkens bedeutet.

So möchte ich zum Abschluss des ersten Teils auf das Wort eingehen, das heute von zentraler Bedeutung ist, auf “Kontingenz”. Wie ich erläutert habe, ist in sprachanalytischer Hinsicht sowohl die wortspezifische, etymologische Bedeutung zu untersuchen – d.h. die sprachliche Herkunfts- und Verwandtschaftsgeschichte – wie die Sinnerklärung des Wortes durch die persönliche Geschichte des Menschen, der/die das Wort braucht. Eine ausführliche Erklärung der philosophie- und theologiegeschichtlichen “Lesart” von Kontingenz bietet Regine Munz in der Einleitung zum vorliegenden Band über die Denkerinnen des 20. Jahrhunderts an, auf welche ich erneut verweise.

Von zentraler Bedeutung erscheint mir beim Wort “Kontingenz” die Ausgangsbedeutung von “tangere”, die Bedeutung von “berühren” und “anrühren” sowohl in körperlicher wie in psychischer Hinsicht. Diese Bedeutung verbindet sich mit positiven wie mit negativen Aspekten, entspricht doch “tangere” nicht nur der sachten, taktvollen Begegnung – des “Taktes”, der dem Rhythmus des Herzen entspricht, oder der “Tangente”, wodurch die auf einen Punkt reduzierte Berührung einer Geraden mit einem Kreis gemeint ist -, sondern auch jener von “prellen” und “schlagen” (z.B. flagello tangere) sowie – in passiver Form – von “getroffen werden” (z.B. de caelo tangi, vom Blitz getroffen werden, oder “petra tangi”, von einem “Felsen”, einem Stein getroffen sein). Immer geht es beim Verb “tangere, tetigi, tactus” oder passiv “tangi” um Grenzerfahrungen, die je nach der Art und je nach dem Ausmass wohltuend oder leidvoll, ja sogar zerstörerisch sein können. Was den Menschen “tangiert”, lässt auf wärmende und stärkende Weise aufmerken oder es bewirkt eine Verletzung, eine Wunde oder ein “Leck”, mithin ein “Trauma” (gr. abgeleitet von “titroskein” – verwunden, zu “teirein” – reiben, aufreiben). Die Abwehrhaltung im “noli me tangere” vermittelt diese negative Bedeutung auf deutliche Weise.

In “contingere, contegi, contactus” findet sich die Verstärkung von “tangere”, sowohl in der Übersetzung von “berühren, anrühren” wie in der Komplexität aller Bedeutungszusammenhänge. Das altlateinische “com/con (quom/quon)”, das zu “cum” wurde, hat in jeder Art von Verwendung die Bedeutung des persönlich, sachlich oder zeitlich begleitenden “mit” im Sinn der Verstärkung dessen, um was oder um wen es geht (z.B. im Italienischen und Spanischen blieb das ursprüngliche “con” erhalten, etwa “contigo”, “con te”). Die Worte “Takt” und “Kontakt” sind daher von der kommunikativen Bedeutung her eng verwandt. Ob es sich um den rhythmischen oder den sprachlichen Austausch von Begegnung handle, immer geht ein klanggebundener Teil mit einher, der geprägt wird durch die Beachtung oder Nichtbeachtung eines Regelsystems, analog zu jenem der Grammatik. Was “kontingent” ist, berührt daher nach unterschiedlichem Regelsystem. Dieses mag ein inneres, vom Unbewussten gesteuertes sein, oder ein äusseres, das ebenso unbekannt ist, da das, was den Menschen berührt, von ihm  selber nicht erklärt werden kann, sondern ihm einfach “zufällt”. Auch was mit “Zufall” bezeichnet wird, verbindet sich mit Nicht-Erklärbarem. Kontingenz hat die Bedeutung der Summierung von Nicht-Erklärbarem, das berührt, das bewegt oder das so belastet, dass traumatisierende Folgen damit einhergehen. Wie alle auf –anz/-enz mündenden Substantive (z.B. Absenz, Abstinenz, Delinquenz, Differenz, Dominanz, Eminenz, Frequenz, Konsequenz, Konstanz, Militanz, Sequenz etc.) drückt Kontingenz ein Ergebnis sich wiederholender Erfahrungen oder Geschehnisse aus, das als Tatsache erklärt wird.

Diesen sprachanalytischen Untersuchungen entspricht letztlich die vielseitige Diversität der Bedeutung von “Kontingenz” bei den Denkerinnen des 20. Jahrhunderts wie bei deren Deutung durch Denkerinnen von heute. Auf die spezifische Differenz zwischen Simone Weil und Hannah Arendt, zwei ungleichen Nicht-Verwandten, die verwandt sein könnten, werde ich nun im zweiten Teil kurz eingehen, im Sinn psychoanalytischer Fallbeispiele. Dabei sollen insbesondere die Differenz im Umgehen mit den nicht wählbaren und nicht planbaren Zusammenhängen von Weiblichkeit und jüdischer Herkunft thematisiert werden, mit der dabei zu Tage tretenden Kontingenz von Ablehnung oder Zustimmung sowie den damit verbundenen denkerischen und existentiellen Folgen.

 

  1. Überlegungen zu Hannah Arendt und Simone Weil

Die Altersdifferenz zwischen Simone Weil (geb. 1909) und Hannah Arendt (geb. 1906) ist klein. Sie beträgt drei Jahre. Die Differenz gelebter Jahre ist gross. Hannah Arendt starb 1975, mit 69 Jahren, infolge eines Herzschlags, nach einem mit Freunden verbrachten Abend in ihrer Wohnung in New York, während Simone Weil 1943, damals 34 Jahre alt, infolge von Anorexie und Lungentuberkulose in einer Klinik in England starb, einsam und erschöpft.

Die Herkunftsdifferenz ist in gesellschaftlicher Hinsicht ebenfalls klein. Beide waren Töchter assimilierter jüdischer Eltern, die, ob in Paris oder in Königsberg, den Lebensstandard intellektueller Offenheit, grossbürgerlicher Freiheit und sozialer Verpflichtung pflegten. Bei Simone Weil wie bei Hannah Arendt stammten die Mütter aus wohlhabenden Familien, die ursprünglich in jüdischen Gemeinden Russlands gelebt hatten, jedoch auf Grund von Pogromen ins westliche Europa fliehen mussten, deren Väter (resp. die mütterlichen Grossväter) von Hannah Arendt in Königsberg und von Simone Weil in Antwerpen infolge von Klugheit, Wissen und Tüchtigkeit wieder zu Ansehen kamen und ein grosses Haus führen konnten, gleichzeitig auch die jüdischen Traditionen zum Teil beibehielten. Sowohl die Mutter von Simone Weil wie die Mutter von Hannah Arendt waren vielseitig begabte, sehr belesene Frauen, die sich für Psychologie interessierten, Tagebücher und Briefe schrieben, jedoch noch kein Studium hatten machen können. Die Väter dagegen stammten aus mittel- und nordeuropäischen Gebieten, wo die von Lessing und Mendelssohn mit klugen Begründungen geforderte und in Revolutionen zum Teil erkämpfte Emanzipation und Assimilation, worauf ich kurz eingehen werde, als Fortschritt angestrebt und umgesetzt wurde: Bernard Weil, der Medizin studiert hatte und als Arzt tätig war, aus dem Elsass, und Paul Arendt, ein Ingenieur und überzeugter Sozialist, aus Königsberg.

  • Emanzipation betraf einerseits die Gleichberechtigung der Religionen wie die Gleichberechtigung der Geschlechter, resp. die Befreiung der Frauen aus der patriarchalen Macht- und Unterwerfungsstruktur sowie aus der damit einhergehenden Rechtlosigkeit; dass auch Töchter lernen und studieren sollten, nicht nur Söhne, war in beiden Familien selbstverständlich.
  • Assimilation dagegen betraf von christlicher Seite her Forderungen der Anpassung und von jüdischer Seite her Bemühungen der Anpassung, ohne dass eine wechselseitige Akzeptanz der je anderen und je eigenen gleichwertigen Besonderheit sich wirklich ergeben hätte. Forderungen der Assimilation gehen mit Überheblichkeit einher, Bemühungen der Assimilation mit geringem Selbstwertgefühl und mit dessen Verdrängung.

Die grosse Differenz in der Entwicklung der zwei Denkerinnen bestand in der Rolle und Beziehungsstruktur als Tochter und im Selbstverständnis als Jüdin. Hannah Arendt war das einzige Kind ihrer Eltern, sehr geliebt von beiden, die sich als Mitglieder einer sozialistischen Bewegung kennen gelernt hatten. Als Hannah Arendt fünf Jahre zählte, musste ihr Vater wegen der Folgen von Syphilis in die Psychiatrie von Königsberg eingeliefert werden; 1913 starb er. Die Infektion hatte er noch vor der Heirat zugezogen und sie seiner Frau gegenüber nicht verheimlicht; beide waren überzeugt gewesen, dass eine Heilung möglich sein sollte. Im gleichen Jahr, als Hannah Arendt ihren Vater verlor, starb auch ihr väterlicher Grossvater, der ihr während der Kindheit, insbesondere während der Krankheitszeit ihres Vaters, nahe gestanden hatte.

Dieser doppelte Verlust geliebter männlicher Bezugspersonen schaffte in Hannah Arendt ein Hungergefühl und ein Bedürfnis nach Ersatz, das sie prägte. Ihre Verhältnisse der Freundschaft und Anhänglichkeit, der Bewunderung und Liebe zu Männern waren in intellektueller und körperlicher Hinsicht vielseitig fordernd, aktiv und intensiv, teilweise auch schwer ertragbar (etwa der Abbruch der heimlichen Liebesbeziehung zum beinah zwanzig Jahre älteren, verheirateten Heidegger, den dieser mit der kaum achtzehnjährigen Studentin nach einem Jahr als notwendig bezeichnete, ohne auf die Folgen zu achten, die Missbrauch und Abbruch bei ihr bewirkten; oder der Abbruch der jahrelangen Freundschaft durch Gershom Scholem, Hans Jonas, Kurt Blumenfeld u.a. nach der Veröffentlichung  ihres Buches über Eichmann in Jerusalem resp. über die Banalität des Bösen). Das Erstaunliche ist, dass Hannah Arendt deswegen nicht am Wert von Liebe und Freundschaft zweifelte, im Gegenteil. In wissenschaftlicher wie in existentieller Hinsicht vertiefte sie sich in die Bedeutung tiefgreifender zwischenmenschlicher Überzeugung und deren existentielle Folgen. Ihre Dissertation befasste sich mit dem Liebesbegriff bei Augustinus. Als Habilitationsarbeit  geplant, gewissermassen als wissenschaftliche Ablenkung nach dem schwer tragbaren Abbruch der Liebesgeschichte mit Heidegger, begann sie, die Geschichte Rahel Varnhagen’s, deren Sehnsüchte, Bestrebungen und Leidenserfahrungen unter den Zeitbedingungen des 19. Jahrhunderts zu erarbeiten.

Nie war ein grundsätzlicher Zweifel in Hannah Arendt an der Bedeutung der sich ergänzenden Werte und Kräfte des Männlichen und des Weiblichen. Als Frau fühlte sie sich  zugleich unterschiedlich und ebenbürtig, in dieser Hinsicht geprägt durch ihre Mutter, welche sie in der Kindheit gelehrt hatte, nie klein beizugeben, nie Diskriminierungen zu ertragen, sondern grad zu stehen und “laut zu sagen, was ist”, wie dies Rosa Luxemburg ausgesprochen hatte. Die Liebe, die sie ungefähr vom dreissigsten Lebensjahr an mit Heinrich Blücher verband, prägte ihr Leben und Werk bis zu dessen Tod und darüber hinaus, eine Liebe, in welcher die Anziehungskraft des Andersseins, des Streitgesprächs und der Übereinstimmung sich ergänzten. Es war letztlich die Nähe zu diesem aus dem nichtjüdischen Arbeitermilieu stammenden trotzkistischen Marxisten “masculini generis”, wie sie oft betonte, welche ihr eine nähere Auseinandersetzung mit politischen Theorien und einen anderen Blick auf die Geschichte ermöglichte. Das grosse Werk über “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft”, das 1951 in New York erschien, wie auch einzelne ihrer späteren Werke sind das Resultat fortgesetzter gemeinsamer Diskussion und Arbeit. Ihre in “Vita activa” sieben Jahre später vertretene Überzeugung, dass dem Menschen dank der mit der Gebürtlichkeit verliehenen Freiheit Wahlmöglichkeiten zustehen, die auf vornehmste Weise selbst das Verzeihen ermöglichen, hat ihr eigenes Denken und Verhalten geprägt. Trotz allem Leidvollen, das als nicht wählbarer Teil der Lebens- und Zeitgeschichte auch ihr auferlegt wurde, in persönlicher Hinsicht wie hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zum Judentum, die sie nie in Frage stellte, auch wenn sie die Staatsgründung Israels mit Skepsis betrachtete und offen den sich manifestierenden, einseitig religiös begründeten Nationalismus kritisierte, bestand sie auf dem Wert des freien Entscheids resp. auf “dem Preis der Kontingenz”, den sie mit einer  – letztlich bedingungslosen – Lebenszustimmung verband.

Simone Weil dagegen, das zweite Kind ihrer Eltern, im achten Monat – einen Monat zu früh – zur Welt gekommen, war geprägt durch eine ständige Infragestellung ihres Lebenswertes. In analytischer Hinsicht ergibt die Untersuchung der Ursachen eine komplexe Vielschichtigkeit. Allein schon die Tatsache der Frühgeburt gehört dazu, waren doch die Überlebenschancen eines zu früh geborenen Kindes in jener Zeit geringer und daher noch belastender als heute. Dass Simone Weil überlebte, war zum grossen Teil dank der Fürsorge und steten Präsenz ihrer Mutter möglich; gleichzeitig muss im Kind selber eine genügende Lebenskraft die zahlreichen Erkrankungen, Ernährungsprobleme und Schwächezustände in den lebensgefährdenden Auswirkungen limitiert haben. Die Ursachen für die spätere Infragestellung ihres Lebenswertes, für die zunehmende existentielle Erschöpfung und für die Ermattung jeder Art von Widerstand gegen den Tod waren somit nicht eine mangelnde Beziehungsstruktur in der frühen Kindheit, nicht mangelnde Elternliebe und Fürsorge, nicht Erfahrungen schwerwiegender psychischer- eventuell auch körperlicher- Verletzungen auf Grund von Gewaltübergriffen, wie dies bei sich suizidal entwickelnden Lebensgeschichten oft der Fall ist. Die Ursachen der so unterschiedlichen Entwicklung Simone Weil’s im Vergleich zu jener von Hannah Arendt waren komplexer, erwiesen sich in den Untersuchungen doch auch  die kulturellen, zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der zwei Familien als vergleichbar, vergleichbar auch deren Verhältnis zum Judentum in den Anfängen des zunehmenden Antisemitismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere in den Dreissigerjahren.

Entscheidend für die Differenz der zwei Denkerinnen im psychischen Werteverständnis war die Kontingenz in Fragen der Identität im frühen Erwachsenenalter. Sehr ungleich zu Hannah Arendt war Simone Weil’s Verhältnis zu sich selbst in ihrer Weiblichkeit; sie gestand ihr nur Abwehr zu, nur angstbesetzte Scheu und Missachtung, weder Zustimmung noch Entfaltung. Gemäss einer inneren Wahrnehmung unterschiedlichen Geschlechterwertes – eventuell geprägt durch ihre Mutter, welche selber damit haderte – war sie seit der späteren Kindheit überzeugt, als Mädchen keine Chance zu haben, ihrem älteren Bruder, dem späteren Mathematiker André Weil, der nach dem zweiten Weltkrieg auch an der ETH unterrichtet hatte, im Erkennen, im Denken und Wissen ebenbürtig zu werden. Das von einem rigiden Cartesianismus geprägte Schulsystem muss sie in diesem Urteil beeinflusst haben; den damals beginnenden Feminismus nahm sie zwar wahr, lehnte ihn jedoch ab, wie dies auch Simone de Beauvoir, mit welche Simone Weil gleichzeitig an der Sorbonne studierte, in ihrer Biographie kurz erwähnt.

Ebenso ungleich zu Hannah Arendt erlebte Simone Weil die lebensbedrohliche Situation nach der nationalsozialistischen Machtübernahme: nicht frühe Flucht an einen Ort, der Sicherheit bedeutete und eine neue persönliche Entfaltung zuliess, sondern ein möglichst langes Ausharren im Widerstand gegen die nicht tragbare Diskriminierung als jüdische Französin. Erst im letzten Moment, als kein Ausharren mehr möglich war, gestand sie sich die Flucht zu – gemeinsam mit ihren Eltern – zuerst nach Südfrankreich, nach langem Warten weiter über Marokko nach New York, von dort allein zurück nach London in die Nähe der französischen Exilregierung. Die Kreise des jüdischen Widerstandes in Paris, durch welche Hannah Arendt schnell eine Zugehörigkeit zu einem intellektuellen Kollektiv von Emigranten und Emigrantinnen erleben konnte, waren Simone Weil fremd. Nicht als Jüdin mochte sie in Kommunikation und Opposition gegen die nationalsozialistische Diktatur sowie gegen Krieg und Besetzung durch die deutsche Armee eintreten, sondern als Französin und als überzeugte, trotzkistisch geprägte Marxistin.

Die Kontingenz im Widerspruch wesentlicher Elemente gelebten Lebens kann kreative Kräfte wecken; bei Simone Weil bewirkten sie Erschöpfung. Frau sein und jüdisch sein ging für sie einher mit so vielfachem Ungenügen und Minderwert, dass sie während einigen Jahren sich kämpferisch dagegen aufgelehnt hatte – als Denkerin, als Fabrikarbeiterin, durch ihr Engagement im Spanischen Bürgerkrieg, als Philosophielehrerin, als gesellschaftsanalytische Forscherin. Mit der Vichy-Regierung, insbesondere mit dem Beginn des Kriegs und der Verfolgung auch in Frankreich wurde ihr jedoch bewusst, dass jede Auflehnung aussichtslos war. Auch damals verband sie die zunehmende Verzweiflung hinsichtlich ihrer Identität noch mit der Verdichtung ihres Erkenntnis- und Wissenshungers im religiösen und politischen Bereich – durch sorgfältige vergleichende Untersuchung der grossen Weltreligionen sowie durch Annäherung an Mystik, andererseits durch den Entwurf einer politischen und sozialen Wertestruktur menschlichen Zusammenlebens nach dem Krieg, der zu ihrem letzten Werk wurde. Ihre kämpferischen Lebenskräfte waren verbraucht, die Resignation im Erleben der Ohnmacht gegenüber dem Nichtwählbaren nahm überhand. Den Hunger bis zum Ende durchzustehen – die suizidale Anorexie – war ihr Entscheid: Entscheid des Auswegs aus der Ausweglosigkeit.

Die Zeilen aus einem der frühen Gedichte Simone Weil’s, mit welchen ich die Untersuchung im von Regine Munz herausgegebenen Band abschloss (S. 84), sollen auch den heutigen Beitrag abschliessen:

“Nur der unendliche Raum aus Leere und Licht

war mit einem Mal vollkommen da,

erfüllte das Herz und wusch die Augen,

fast erblindet unter dem Staub” (Cahiers I, 367).

 

 

[1] Regine Munz (Hrsg.) Philosophinnen des 20. Jahrhunderts. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004.  Darin S. 54-85 Beitrag von Maja Wicki-Vogt: Simone Weil. Kontingenz im Widerspruch der Identität.

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