Die Kulturen der Kommunikation – Jede Kommunikation ist Übersetzung – Was heisst „Übersetzung“? – Über die Bedeutung der Sprache zum Zweck der kollektiven Dialogik

publiziert als Buchbeitrag in: Roger Blum / Peter Meier / Nicole Gysin (Hrsg.) “Wes Land ich bin, des Lied ich sing – Medien und politische Kultur”, Berner Texte zur Kommunikations- und Medienwissenschaft Band 10, Haupt Verlag Bern 2006, ISBN 978-3-258-06940-1

 

Die Kulturen der Kommunikation – Jede Kommunikation ist Übersetzung

Was heisst „Übersetzung“? – Über die Bedeutung der Sprache zum Zweck der kollektiven Dialogik

 

Jubiläumstagung zum 10jährigen Bestehen des Instituts für Medienwissenschaft der Universität Bern

„Wes Land ich bin, des Lied ich sing“ – Medien und politische Kultur

1.–2. November 2002

„Die Türen der Welt wissens’s nicht                           „Le porte del mondo non sanno

dass draussen der Regen sie sucht.                              Che fuori la pioggia le cerca.

Sie sucht und sucht. Geduldig,                                     Le cerca. Le cera. Paziente

mal abirrt, zurückkehrt. Das Licht                                si perde, ritorna. La luce

weiss nichts vom Regen. Der Regen                            non sa della pioggia. La pioggia

weiss nichts vom Licht. Die Türen,                              non sa della luce. Le porte,

die Türen der Welt sind verriegelt:                               le porte del mondo son chiuse;

Versperrt vor dem Regen,                                             serrate alla pioggia,

versperrt vor dem Licht.“[2]                                            serrate alle luce.“

 

 

Lieber Roger Blum

Verehrte Damen und Herren

 

Die Zeilen, mit denen ich Sie begrüsse, mögen Sie erstaunen. Es geht um ein Gedicht des italienischen Dichters Sandro Penna, übersetzt von Hans Günther Hirschberg, der im Frühjahr dieses Jahres im Alter von 73 Jahren in der Schweiz starb, ein im Alltag eher schweigsamer und verschlossener Mensch, der, 1929 in Deutschland geboren, während seiner Kindheit und Jugend in den Dreissiger- und Vierzigerjahren unter dem Diktat des Schweigens aufgewachsen war, als Sohn einer gesellschaftlich und materiell gesicherten Familie, deren höchster Wert, wie ich annehme, „Sicherheit“ war und daher „Augen-Ohren-Mund-zu“ hiess, auch innerhalb der Familie zwischen Eltern und Sohn. Nach dem Krieg schloss er seine Ausbildung als Maschineningenieur ab, wurde Industrie-Ingenieur, Autor technischer Fachbücher und trug als Dozent an der Universität von Stuttgart sein technisches Wissen vor. Dass er im Zusammenhang seiner beruflichen Tätigkeit nicht nur in anderen Ländern arbeitete, sondern auch versuchte, anderen Kulturen mit Hilfe deren Sprache näherzukommen, zugleich aber mit deren Sprache zu sich selber zu finden, das führte ihn dazu, aus Africans, Englisch und Französisch, Holländisch, Isländisch und Italienisch, Latein, Portugiesisch und Spanisch, Russisch und Schwedisch Gedichte in die deutsche Sprache zu übertragen, seine Kindheitssprache, in welcher er der richtige Wortklang ihm nicht vermittelt worden war.

Dies mag deutlich machen, wie sehr „Kommunikation“ als grundlegendes menschliches Bedürfnis nach Erfüllung sucht, auch wenn – oder gerade weil – diese Kommunikation infolge von Regelsystemen der Sprache nicht zugelassen ist: von Regelsystemen, die unter dem Vorwand von „Kultur“ das Bedürfnis ersticken. Die deutsche Sprache war, als sie Hirschbegr beigebracht wurde, als Mittel des politischen Machtbetrugs – des Betrugs von menschlicher sicherheit – zum Zweck der Destruktivität von Kommunikation benutzt worden; sie ging einher mit dem Missbrauch der Worte wie mit dem Missbrauch des Schweigens. Die Sprache, die ihn prägte, war, wie ich annehme, ein Netz, das ihn zugleich trug und beinah erstickte, wie auch Ludwig Wittgenstein die Sprache, die ihm beigebracht worden war, empfand, der die Sprache als „ein Wesen“ bezeichnete, das „aus heterogenen Teilen bestehe, das in sein Leben eingreife, unendlich mannigfach“[3]. Hirschberg konnte dieses Netz nicht abschütteln, versuchte jedoch, die Spaltung, die er in sich empfand, zu heilen, insbesondere über die Klage, für welche er mit Hilfe des Übersetzens den richtigen Ton suchte. Interessanterweise gehörte auch die Klage über das durch seine Sprache geschaffene Rollenbild der Geschlechter in seiner Kultur dazu. Warum nur ist „Leben“ im Deutschen ein Neutrum? – ist „Leben“ ein Ding? Und warum ist in der deutschen Sprache „Liebe“ weiblich, „Tod“ aber männlich? – fragte er im Vorwort zu seinem Gedichtband[4].. War seine eigene Männlichkeit für ihn ängstigend? –wurde sie gar als seine eigene Bedrohung empfunden?

 

„Wes Land ich bin, des Lied ich sing“… steht als Leitzeile über der heutigen Tagung. Genügt es, die Landeszugehörigkeit zu benennen, um die Tonart zu finden? Was bedeuten „Land“ und „Lied“? Geht es dabei um „Kulturen“ der „Kommunikation“?

Es ist ein weiter Fächer, den Roger Blum mir mit dem Thema übergab – ein Thema, das „mir nahestehe“, wie er mit heiterer Stimme seine Einladung an mich begründete, als er mich anrief und fragte, ob ich sie annehme. Ich fühlte mich – fühle mich auch heute – von dieser Einladung in wissenschaftlicher Hinsicht wie in meinem innersten Ich-Haus berührt. Ich danke dafür und hoffe, die vorgegebene Zeit einzuhalten – was etwas vom schwierigsten ist. Berührt fühle ich mich nicht zuletzt wegen der Festlichkeit des Anlasses, hier an der Uni Bern, wo ich im alten Gebäude vor ungefähr zwölf Jahren, als es noch kein Institut für Medienwissenschaft gab, von Hans Jörg Müller eingeladen worden war, während des Wintersemesters im Rahmen seiner juristischen Fakultät Vorlesungen mit anschliesssendem Seminar zu halten, in denen ich auf Frauen aus dem 19. Jahrhundert einging, welche über die Sprache an die Öffentlichkeit gelangt waren, in einer Auffächerung der Kulturen. Ich arbeitete damals in meinem Verständnis gesellschaftsanalytischer Philosophie als Journalistin und führte die Studierenden in den Mut von Frauen ein, welche das ihnen auferlegte Schweigen über das Schreiben durchbrachen, eine dichte Reihe von Frauen, von Olympe de Gouges und Flora Tristan zu Mary Wollstonecraft, von Rahel Varnhagen über Dorothea Schlegel alias Brendel Mendelssohn zu Rosa Luxemburg und zu vielen weiteren. Die Erinnerung daran hat die Auswahl der mit dem heutigen Thema verbundenen denkerischen Ressourcen anderer Menschen mitbeeinflusst, indem ich beschlossen habe, nicht die mir nahestehenden Denkerinnen in mein Referat miteinzubeziehen, sondern auf Denker einzugehen, die mir allerdings auch irgendwie nahestehen, insbesondere Ludwig Wittgenstein und Walter Benjamin, im Sinn einer besonderen Art des Übersetzens – des männlichen Denkens ins weibliche. Unter den vielen Kulturen der Kommunikation gehört jene zwischen den Geschlechtern zu den komplexesten.

Auch für mich war in meiner Kindheitsgeschichte das Erlernen von Zuhören und Schweigen, von Verstehen und Sprechen zahlreicher Sprachen auf entscheidende Weise prägend, durch das Zuviel wie durch das Zuwenig. Bücher und Natur, Malereien und Musik, Religionen und Architektur, manchmal selbst Spiele – all dies war Sprache. Trotzdem – „die Meinung fällt aus der Sprache heraus“[5], wie Wittgenstein festhielt. Es war während des Zweiten Weltkriegs, in einem Elternhaus, das geprägt war durch die gesellschaftlichen Regeln des 19. Jahrhunderts, durch Lebensmittelcoupons und durch die Präsenz von Menschen aus Kriegsländern – von Erwachsenen aus Polen und aus Italien, von Kindern aus Bruxelles, aus Strasbourg und aus Wien -, in mir selber, die ich nicht der erwartete Sohn, sondern eine Tochter war, geprägt durch das Bedürfnis, schwer Verständliches oder schwer Annehmbares zu hinterfragen, manchmal durch Neugier, manchmal durch Widerstand und durch das Suchen eigener Wege, in einer früh gespürten Reziprozität von Subjektsein und Objektsein.

Das Gedicht, mit welchem ich Sie begrüsst habe, mag auf „symbolische“ Weise Anlass geben, auf die Frage einzugehen, was ich unter „Kulturen der Kommunikation verstehe, im Sinn des griechischen Wortes „symbolon“: „Erkennungszeichen“, auch „Sinnbild“, abgeleitet vom Verb „symballein“ – „zusammenbringen, vergleichen“. Substantiv und Verb sind verknüpft mit der vorsokratischen Kultur, innnerhalb welcher das Eigene und das Andere, das Vertraute und das Fremde durch Reisen und Handel, durch den Wunsch zu entdecken und zu klären, eventuell auch zu besitzen und zu beherrschen schon eine Differenz schuf zwischen denjenigen, welche zurückblieben und denjenigen, die anderswohin gingen. Wenn jemand sich einen Weg erschliessen wollte, ob über das Meer oder über Land, und daher von einem Freund – eventuell auch von einer Freundin – Abschied nahm, wurde ein Ziegel – in der Ursprungsbedeutung des Altgermanischen galt „Ziegel“ auch für „Spiegel“ – in zwei Teile gebrochen, wovon ein Teil denjenigen, der in die Fremde ging, begleitete, während der andere Teil zurückbehalten wurde. Kam ein Reisender aus fernen Ländern und fremden Kulturen zurück, vielleicht mit anderem Aussehen und anderem Ton der Stimme, und war es möglich, die zwei gebrochenen Teile zusammenzubringen, so dass sie „kommunizierten“, so bestand trotz der durch den Ablauf der Zeit geschaffenen Verschiedenheit kein Zweifel, dass es sich um den Freund handelte.

Eine Erzählung, analog einem „Lied“? Ein Mythos („my“-, auch „mou“-, aus dem Indogermanischen abgeleitet, steht für „Ton“) ist es, womit über die Geschichte des „symbolon“ die griechische Kultur ein Einläuten dessen vermittelt wird, was „Kommunikation“ bedeutet:

 

  • In erster Linie ein Grundbedürfnis, aus dem mit Trennung und Absonderung verbundenen Mangel, resp. aus der Isolation der eigenen Besonderheit in den Austausch mit anderen Menschen und deren Besonderheit zu gelangen, in eine „Kommunikation“ – gemäss der Wortbedeutung im Lateinischen -, in eine „Verbindung“ und „Verständigung“, die ein „Mit-teilen“ im Sinn des gegenseitigen und gemeinsamen „Teil-habens“ an dieser Welt ermöglicht. „Kommunikation“ bedeutet daher ein Grundbedürfnis, das häufig kaum erfüllbar ist, da die Besonderheit infolge der Abgrenzungen Ahnung bleibt, vielleicht zu Missverständnissen oder zur schmerzlichen Sehnsucht führt, die „munitio“, d.h. die „Schanze“[6] zu übersteigen oder, falls sie eine „Abgrenzung“ bedeutet, sie „zusammen“ – „com“ – niederzureissen, auch kaum erfüllbar, weil die Sorgfalt des „aufmerksamen Wartenkönnens[7]“ – der „attention“ – übergangen wird (darüber später), diese innere Haltung, welche erfordert ist, um die Besonderheit des/der anderen Menschen zu verstehen. Ursache dieses Grundbedürfnisses mag der mit der Geburt verbundene Verlust des symbiotischen Dialogs mit der Mutter sein, der symbiotischen Einheit von Herzrhythmus und –ton, von Sigmund Freud als massgebliches „Trauma“ (nach der griechischen Bedeutung „Wunde“, Verletzung“) menschlichen Lebens bezeichnet. Zugleich aber setzt mit dem Beginn des eigenen Atems des Kindes, mit dem ersten Weinen und dem ersten Aneinanderfügen von Lauten der Rhythmus des persönlichen Dialoges ein, des Ausdrucks der Besonderheit eigener Empfindungen, welche anderen Menschen mitgeteilt werden, zusätzlich zum Ton über den Blick der Augen und über die Bewegung der kleinen Hände und Beine, auf unterschiedliche Weise, je nachdem, ob das Kind sich verstanden fühlt oder nicht.

 

Interessanterweise ist vom Ethymologischen her im Begriff „Kommunikation“ – „com-municatio“ – viel von diesen Primärerfahrungen enthalten: die Silbe „com“- verweist immer auf etwas, was „gemeinsam“ ist oder was „zusammen“ getan wird, während das Substantiv„munus, -eris/ munia“ (lat. n.) zugleich „Pflicht, Obliegenheit“ wie „Liebesdienst“, ja sogar „Geschenk, Gabe“ bedeutet, auch „Festspiel“. Was zugleich die Bedeutung von „Pflicht“ und von „Gabe“ hat, drückt somit das aus, was ich als „Reziprozität“ bezeichne: immer zugleich ein „Rückwärts“ (lateinisch „recus“) und ein „Vorwärts“ (lateinisch „procus“) in der Subjekt- und Objekthaftigkeit menschlichen Lebens, sowohl ein Handeln und Handelnkönnen wie ein Ertragen und Ertragenmüssen dessen, was Folgen des Handelns anderer Menschen ist, wahrnehmbar und spürbar, in jeder Hinsicht erlebbar. Massgeblich für die Art und Weise des Erlebens sind dabei, meine ich, die Regeln der „Grammatik“ – von der griechischen Bedeutung des Wortes „grammatikos“ her die Anfangsgründe und Anfangskenntisse der Sprache -, gemäss deren Beachtung geschieht auch, dass jeder Mensch einerseits als Nominativ die Form des aktiven oder passiven Verbes bestimmt, andererseits als Genitiv, Dativ, Akkusativ oder Ablativ den Bezug zu einem Nominativ deutlich werden lässt.

 

  • Kommunikation beinhaltet nach meinem Verständnis daher immer ein Übersetzen, d.h. ein Vermitteln dessen, was im Bedürfnis nach Austausch gemeint ist und was des Ausdrucks bedarf, um vermittelt werden zu können. Übersetzen in diesem Sinn heisst Überbrücken der Differenz zwischen den Menschen – der Generationendifferenz, der Geschlechterdifferenz, der Herkunftsdifferenz, der kulturellen Differenz , ob diese den Alltag, die Religionen, die Art und Weise des Sprechens oder der gesellschaftlichen Gestaltung betreffe -, heisst eine Brücke bauen zwischen den je persönlichen Besonderheiten, aber auch zwischen der je individuellen und/oder der kollektiven Besonderheit, mit Hilfe von Sprache, in jeder Bedeutung von Sprache, über den Blick und die Mimik, über Gestik und Haltung des Körpers, über den Klang der Stimme, die einem Instrument gleicht, und über den Rhythmus des Sprechens, auch über Telephon, über das Fragen, Zuhören, Antworten und Fragen, über das vielfache Schreiben – eventuell auch über Fax, e-mail und Internet.

 

Übersetzen heisst Übertragen dessen, was im geheimen Bereich der Psyche an Empfindungen gespeichert ist und was in die vom Intellekt gesteuerten und von den Sinnen umgesetzten Möglichkeiten der Sprache zur Kommunikation wird, wobei Übertragen (resp. „Übertragung“, gemäss der Terminologie von Sigmund Freud, wiederum in der Gleichzeitigkeit von Subjekt- und Objektsein, zugleich „Gegenübertrag“ beinhaltet oder bewirkt. Immer ist dieser Austausch verbunden mit einem „Deuten“, resp. einem „Auseinanderfalten“ („ex-plicatio“ – in den vom Lateinischen geprägten  Sprachen) dessen, was vermittelt wurde/wird. Verstehen, Missverstehen oder Nichtverstehen bewirken, infolge der Gegenübertragung, als nächste Übersetzung Antworten – über Schweigen, über Sprache und Agieren. So kommt es zum Austausch, der „Kommunikation“ heisst, von der frühesten Kindheit an in allen Etappen des Lebens, auf unterschiedliche, manchmal sehr ungenügende Weise, immer Ausdruck von Bedürfnis und von Bemühen, Wichtiges zu vermitteln und Verstehen zu ermöglichen, je nachdem in der angelernten oder auferzwungenen Pflicht, Regeln im Gebrauch der Sprache einzuhalten, die nicht mit den eigenen Bedürfnissen übereinstimmen. Dabei entstehen Erschwernisse und Aufgaben – je nach persönlicher Bedingung des In-der-Welt-seins und je nach Kultur, je nach Bedeutung von Sprache und je nach Zweck oder Zielsetzung des Austauschs, zumeist seit der frühesten Kindheit. Fritz Mauthner[8], dieser zeitkritisch-mutige Sprachphilosoph, zu dessen „Wörterbuch“ er anlässlich der Herausgabe selber schrieb, es gehöre „nicht eben Ängstlichkeit“ dazu, dass er es so bezeichne, entgegen dem Rat von Freunden; doch er verstehe „Sprachkritik als Arbeit an dem befreienden Gedanken, dass die Menschen mit den Wörtern ihrer Sprache niemals über eine bildliche Darstellung der Welt hinaus gelangen können“[9]. Sein Kapitel zur Kinderpsychologie schloss er mit der Hoffnung ab, dass vielleicht irgendwann „die Kinder sich zu einer grossen Kinderrevolution gegen die Wörter der Schule vereinigen“ werden[10]. Darauf möchte ich im zweiten Teil meines Referates eingehen.

Mauthners – wie Wittgensteins – skeptische Überlegungen zur Sprache richten sich auf das aus, was mit „Kultur/Kulturen“ in der lateinischen Bedeutung der Worte ursprünglich verknüpft war: „cultura“ – im Sinn von Bearbeitung und Bebauung der Erde, auch von Pflege und Veredlung des Anbaus der Erde – und „cultus“ – zusätzlich zur Bedeutung von Anbau und Wartung auch jene von Bildung, ja sogar von Verehrung – richteten sich vom Zweck her auf das gute Leben und Zusammenleben, auf die „Lebensweise“ der Menschen aus, welche von der Pflege und „Wartung“ der Erde, die sie bewohnen, gemeinsam abhängen. Mit „cultor“ wurde ja nicht nur der Landmann und Bauer bezeichnet, sondern auch ein Freund und Verehrer. Jede Art von Sprache diente im Wortsinn von „cultura“ und „cultus“ dem Zweck der Verständigung, war somit ein Mittel, die gegenseitige Abhängigkeit von der Erde, aber auch voneinander auf verständliche Weise zu lösen und auf gute Weise tragbar zu machen, trotz der gegenseitigen Fremdheit. Daher ist „die Sprache eine Sammlung sehr unterschiedlicher Werkzeuge“, hält Ludwig Wittgenstein fest[11]. In diesem werkezugkasten ist ein Hammer, eine Säge, ein Massstab, ein Los, ein Leimtopf und der Leim. Viele der Werkzuge sind miteinander durch Form und Gebrauch verwandt, man kann die Werkzeuge auch beiläufig in Gruppen nach ihrer verwandtschaft einteilen, aber die Grenzen dieser Gruppen werden oft, mehr oder weniger, willkürlich sein; und es gibt verschiedene Verwandtschaften, die sich durchkreuzen“. Wie soll aber diese Grundbedeutung von „Kultur“ gelten, wenn die Erde nicht mit gegenseitig sich ergänzenden Werkzeugen und nicht in der gemeinsamen Abhängigkeit von ihr gepflegt wird, sondern im gegen-seitigen Wettbewerb weniger, in der Gegenhaltung, welche mit der Umsetzung der Macht ihrer Sprache gegen die sprachlos gewordene Ohnmacht der Vielen die Erde misshandeln und zerstören? – wenn Sprache vor allem zu Zwecken gelehrt, eingetrichtert und benutzt wird, die der Bedeutung von „cultura“ und „cultus“ widersprechen?

Spürbar sind in der heutigen Zeit Misstrauen und Trauer –so wie der Ausdruck des Angelus Novus von Walter Benjamin gedeutet wurde[12], eines Bildes von Paul Klee. Mit aufgerissenen Augen und ausgespannten Flügeln sei sein Antlitz der Vergangenheit zugewendet, schrieb Walter Benjamin, wo die Trümmerhaufen zum Himmel anwachsen, während der Sturm, der vom Paradies her wehe, ihn unaufhaltsam in die Zukunft treibe, welcher er den Rücken zukehre. “Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm“[13], schloss Walter Benjamin seine Überlegung ab. So werden wir, die wir nach den in Europa offiziell geltenden Zeitrechnungen in den Anfängen eines neuen Jahrhunderts stehen, gejagt vom Sturm, der auch heute „Fortschritt“ heisst, nach einem Jahrhundert, dessen Geschichte übervoll von Blutspuren des Verrats an der ursprünglichen Bedeutung von Kultur und übervoll von Kulturtrümmern- ist.

Ist es überhaupt noch möglich, über Kulturen der Kommunikation zu sprechen, ohne in einen träumerischen „u-topos“ – in den „Nicht-Ort“ der Irrealität – wegzugleiten? Oder ist es gerade besonders dringlich, als Ausdruck des Bedürfnisses und des Versuchs, dem gerecht zu werden, was eine Korrektur der „Verwirrung“ ermögliche liesse, die, gemäss der im ersten Buch – im Buch des „Anfangs“, in Genesis 11-1 bis 11-9 – des aus fünf Büchern bestehen „Buches“ (he pentateuchos biblos) erzählten und über mehr als zwei Jahrtausende in immer wieder neuen Übersetzungen überlieferten Geschichte mit dem Zusammenhang von „Babel“ verknüpft ist? In der Jerusalemer Bibel, die in der Komplexität der Übersetzungen in deutscher Sprache am 19. September 1968 erstmals erschien[14], wird „Babel“ mit dem „Verwirren der Sprache der Erde“ durch „Jahwe“ übersetzt; in Martin Bubers und Franz Rosenzweigs „Verdeutschung“ der „Fünf Bücher der Weisung“, deren 1954 erschienene Neubearbeitung mir vorliegt[15], als „Gemenge“, als ein „Vermengen der Mundart aller Erde“ durch „Ihn“, der nicht mit einem Namen bezeichnet werden kann. Interessanterweise wurde gemäss dem „Ethymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache“[16] das Wort „Mundart“ im 17. Jahrhundert als „Ersatz“ für das lateinische „dialectus“ zuerst im Sinn von „Sprachkunst“, dann von „Hauptsprache“ verwendet. Im Griechischen aber, welches dem lateinischen Wort zugrundeliegt, wurde „dialextos“ gebraucht, um „Unterredung“ auszudrücken, wobei das Wort auch für die „Redeweise“ eines einzelnen Menschen verwendet wurde sowie für die „Sprechweise einer Landschaft“ (was heute unter „Dialekt“ verstanden wird) und, letztlich, für die Bezeichnung eines Wortes als „Fremdwort“.

Etwas weiteres fiel mir beim vergleichenden Lesen der zwei Übersetzungen der Mythologie über die Zusammenhänge von „Babel“ auf: In der Buber’schen Übersetzung beginnt die Geschichte mit der Schilderung, dass „Über die Erde allhin eine Mundart war und einerlei Rede. Da wars wie sie  n a c h  Osten wanderten“… In der Jerusalemer Bibel heisst es dagegen, dass „Es hatte die ganze Erde die gleiche Sprache und die gleichen Worte. Als sie

v o n  Osten aufbrachen“…

Deutlich wird damit vermittelt, dass der „Osten“ – Symbol für jenen Teil der Erde, aus welchem das Licht der Sonne nach jeder Nacht zu erscheinen beginnt – einerseits als Ziel der menschlichen Wanderung, andererseits als Erklärung für die Herkunft der Menschen verstanden wurde – in der bildhaften Schilderung der Folgen des Exodus aus Ägypten. Ob es auf dem Weg „nach Osten“ oder „von Osten“ zur „Bebauung“ des „Landes Schinar“ kam, es kam so oder so zur zerstörerischen Bebauung, indem, wie es bei Buber heisst, „ein Mann zum Genossen sprachen[17]:: „Heran! Backen wir Backsteine und brennen wir sie zu Brande!“. In der Jerusalemer Bibel steht, dass „sie zueinander sprachen: Wohlan! Wir wollen Ziegel formen und sie brennen“. Ob die vermutlich im 9. Jahrhundert vor unserer Zeit aufgezeichneten Erzählungen so oder so übersetzt wurden/werden, es wird in beiden geschildert, dass „Backsteine statt Bausteine“ verwendet wurden, dass nicht die aufbauenden Teile der Erde – im Sinn von „cultura“ – als Massstab für den Bau der grossen Stadt galten, sondern dass das Feuer benutzt wurde, um auf masslose Weise in der Über-Bauung von „Schinar“ die Beherrschung der Erde zu realisieren.

„Babel“ – in der Bedeutung der Verwirrung der  e i n e n  Sprache, damit der Auflösung des grundlegenden menschlichen Bedürfnisses nach Kommunikation durch die Tatsache, dass keine Mundart und keine Sprache mit der anderen mehr übereinstimmt – war eine Folge der menschlichen Masslosigkeit, in der doppelten Deutung / Bedeutung dessen, was als Beherrschungssucht von Zeit und Raum umgesetzt wurde, in beiden Weisen des Zeitblicks: in der Reziprozität des doppelten Verständnisses von „Osten“: im Sinn von „Rückwärts“ (recus) wie von „Vorwärts“ (procus), d.h. von Ausrichtung auf Vergangenheit und Herkunft im Sinn des Verstehens dessen, was nicht wählbar war, sondern gegeben wurde, wie auf die Zukunft im Sinn des Auftrags zu gestalten, was noch nicht ist: Masslosigkeit zugleich in der Beherrschung der Weite der Erde – des Raums von Schinar – und zugleich der Höhe, des grenzenlosen Raums „bis zum Himmel“, letztlich des Eindringens in die Zeitlosigkeit.

Ist es Ausdruck einer Sehnsucht, Wege zu finden, welche der Destruktivität entgegenwirken, dass Roger Blum mich einlud, über Kulturen der Kommunikation nachzudenken? Ist es die Ohnmacht gegenüber der Masslosigkeit der technologischen Entwicklung in der heute entgrenzten Beherrschung von Zeit und Raum? Nach meiner Deutung ist auf unterschiedlichste Weise auch jede Religion Ausdruck dieser Sehnsucht, entsprechend der Bedeutung von „re-ligare“ – „umbinden“, auch „vereinigen“, wie der Bedeutung von

„re-legere“, was „wieder durchwandern“ heisst, aber auch „überdenken“ und „wieder lesen“. Könnte das tatsächliche „Wiederlesen“ des Mythos von „Babel“ ermöglichen, dass auch die Sprachen der Religionen sich wieder näher kämen?

„Man hüte sich

aus den Schranken

und Unzulänglichkeiten

des eigenen Denkens

Massstäbe zu schneiden

für die Welt;

 

aus den Massstäben

und Unzulänglichkeiten

der Welt

Schranken zu zimmern

fürs eigene Denken.“[18]

Dieser – scheinbar so einleuchtende – Rat zur Vorsicht vor pessimistischer Überheblichkeit und vor fataler Unterwerfungshaltung angesichts der „Schranken“ und „Unzulänglichkeiten“, welche die Komplexität der Kulturen dieser Welt kennzeichnen, ist nicht eine Regelgebung von mir, sondern ist ein Zitat aus der Gedichtsammlung von Hans Günther Hirschberg. Ich möchte damit zum Abschluss meiner Überlegungen über die Komplexität dessen überleiten, was die Frage nach den „Kulturen der Kommunikation“ beinhaltet, über diesen tatsächlichen Plural an Bedürfnissen und Aufgaben, an Einsamkeit und Fremdheit des eigenen Menschseins in der Reziprozität von Abhängigkeit, ungleich stark oder kraftlos, wenn nicht gar ohnmächtig unter den Farben und Formen, Klängen und Grammatiken, die von den unzählbaren Mundarten und Sprachen ausgehen, alle auch heute noch geprägt durch Babel, voll dunkler und heller Tonleitern, auch voll schwarzer Punkte von Familiengeschichten wie von politischen und gesellschaftlichen Zeitgeschehnissen, zum Teil von Löchern, welche in den Abgrund reissen können, zum Teil mit Möglichkeiten des Halts und der Neuorientierung durch Begegnungen, durch Reisen und durch Erfahrungen der Klärung, eventuell gar der Korrektur des eigenen Fremdseins durch Wahlkulturen, deren „Sprache“ und deren Werte mit den Gefühlen der Identität übereinstimmen.

 

China

Da ich im Entwurf meines Referats auf Ludwig Wittgenstein[19] hingewiesen hatte, will ich auch mit ihm abschliessem. Die „Philosophischen Untersuchungen“, die er 1945, wie er selber festhielt, nach 16 Jahren ständiger Arbeit mit grossem Widerstreben abschloss und die er als eine „Menge von Landschaftsskizzen“ bezeichnete, „die auf diesen langen und verwickelten Fahrten entstanden sind“, „Landschaftsskizzen“ seiner Seele und seines Denkens, die er mit der kreativen Skepsis, die das Zusammenwirken der menschlichen Kräfte des Erkennens und Wissens kennzeichnen, als nicht abschliessbar betrachtete und die erst 1953 erschienen, zwei Jahre nach Wittgensteins Tod. Das Zitat aus Augustinus‘ „Confessiones“[20] über das Wörterlernen, bedeutete für Wittgenstein, wie er schrieb, „die Wurzel“ resp. den Ursprung wie die tragende Begründung seiner nicht abschliessbaren, aber durch seine Studenten und seine Umwelt immer wieder missverstandene Suche nach den Zusammenhängen der Sprache, die ermöglichen könnte, durch die Worte, die ein Mensch wählt, von anderen Menschen richtig verstanden zu werden. „Das vertraute Gesicht eines Wortes, die Empfindung, es habe seine Bedeutung in sich aufgenommen, sei ein Ebenbild seiner Bedeutung – es könnte Menschen geben, denen das alles fremd ist. (Es würde ihnen die Anhänglichkeit an die Worte fehlen). – Und wie äussern sich diese Gefühle bei uns? – Darin, wie wir die Worte wählen und schätzen“[21].

Wittgenstein bedurfte, nach meiner Deutung, Augustinus‘ Aufzeichnung über das Wörterlernen als eine Art väterlicher Rechtfertigung seiner eigenen leidenschaftlichen Suche nach Möglichkeiten der Verständigung zwischen den Menschen, die alle eine andere Sprache sprechen und sich daher nicht oder falsch verstehen, zumeist, weil sie, wie Wittgenstein immer wieder festhielt, in Bezug auf die Bedeutung dessen, was sie sagen, „Befehlen“ gehorchen, ohne dass sie ergründen, was der Befehl beinhaltet, weil sie eine – resp. ihre – Sprache benutzen, die wie „aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht, oder die nur aus Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung oder Verneinung“. Und er fügt bei: „Eine Sprache vorstellen heisst, sich eine Lebensform vorstellen“.

Darum geht es in unserer Frage nach den Kulturen der Kommunikation, es geht, wie ich versucht habe darzustellen, um die Hintergründe der Lebensformen, für deren Widergabe die Sprache als Instrument benutzt wird, die in ihren Zusammenhängen aber von verborgener Komplexität sind, so dass ein ständiges Fragen nach dem Sinn der „Benennung“ erfordert ist. Aber „nach der Benennung fragt nur der sinnvoll, der schon etwas mit ihr anzufangen weiss“, stellt Wittgenstein fest. Immer wieder greift er bei diesem Prozess der Suche nach dem richtigen Sprechen und nach dem richtigen Verstehen auf das erste sprachliche Lernen in den frühesten Kommunikationserfahrungen der Kindheit zurück. „…wir können, glaube ich, sagen: Augustinus beschreibe das Lernen der menschlichen Sprache so, als käme das Kind in ein fremdes Land und verstehe die Sprache des Landes nicht. Das heisst: so als habe es bereits eine Sprache, nur nicht diese. Oder auch: als könne das Kind schon denken, nur nicht sprechen. Und ‚denken‘ hiesse hier etwas, wie: zu sich selber reden“.

Wittgensteins Erkenntnis der unterschiedlichen Bedeutung von je subjektivem Wissen um das, was gesagt wird, und von gesellschaftlich auferlegtem, regelbesetztem Gebrauch der Sprache hat sich in mir durch die Erfahrung mit Kindern wie durch jene von Gesprächen mit Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen immer wieder bestätigt. „Regeln stehen da, wie Wegweiser“, hielt Wittgenstein in einer Bemerkung fest. Wenn die Anwendung von Worten aber überall von Regeln besetzt ist, gleicht der Weg „einer gschlossenen Kette von Wegweisern“. Damit ein Gespräch richtig übermittelt und richtig verstanden werden kann, bedarf es der Möglichkeit, ständig nach der Bedeutung des Gesagten zu fragen. Voraussetzung hierfür ist – gemäss Wittgenstein – die Aufmerksamkeit.

Die erstaunliche Analogie Wittgensteins mit Simone Weil[22] – zum Abschluss komme ich doch noch auf eine meiner „Schwestern“ -, welche die Aufmerksamkeit – „l’attention“ – in ihrer ganzen philosophischen Arbeit als wesentliche Bedingung für das Erkennen erachtete, auch für das Verstehen dessen, was über die Sprache vermittelt wird, letztlich für das, was Kommunikation bewirkt – bezüglich der Wortbedeutung bei ihr jedoch eher im Sinn des Wartenkönnens, bei Wittgenstein eher im Sinn des Einspannens der Sinneswahrnehmungen verstanden, des Geruchs, der Farbe, des Tons –, diese Analogie bietet eine Antwort an auf die Frage, was Kulturen bewirken können, auch jene der unterschiedlichen Geschlechtlichkeit, wenn Kommunikation nicht nur Bedürfnis ist, sondern zustande kommt. In analytischer Hinsicht, bezogen auf die je subjektive Entwicklung, waren Ludwig Wittgenstein und Simone Weil beide auf persönliche Weise auf der Suche nach dem Verstehen des eigenes Ich, letztlich nach einer Übereinstimmung der äusseren Form resp. der anatomisch geregelten Gestalt – Wittgenstein in seiner Männlichkeit, Simone Weil in ihrer Weiblichkeit – und den Empfindungen der Selbstwahrnehmung, welche von der Psyche diktiert werden und die bei Simone Weil wie bei Ludwig Wittgenstein im Widerspruch zur äusseren Form waren.

Bei Ludwig Wittgenstein hatte der durch seine Machtdominanz jeder Kommunikation (im Sinn der Übersetzung) unzugängliche und unerreichbare Vater (der Geschichte von Franz Kafka vergleichbar) und die Tatsache des Suizids seiner drei ältesten Brüder einen Bruch in der Übereinstimmung mit sich selbst bewirkt, wie auch allem gegenüber, was im kollektiven Zusammenhang als „richtig“ erklärt wurde, damit im Verstehen seiner eigenen Identität. Nächste Vertraute wurde eine der Schwestern. Schliesslich vermochte die Akzeptanz der Homosexualität, ihm ein Wegstück teilweise leichter zu machen. Nicht aufhebbar war für Wittgenstein das Streben nach Gewissheit[23], nicht in materieller Hinsicht, nicht über äussere Werte wie öffentliche Anerkennung, Ruhm oder Erfolg, sondern über das Erreichen einer Klarheit und einer Übereinstimnung in allem, was „Sprache“ und über die Sprache „Kommunikation“ bedeutet. „Die Sprache greift auch in mein Leben ein“, hielt Wittgenstein in einer Aufzeichnung fest, die sich in der „Philosophischen Grammatik“[24] findet. Und er fährt fort: „Was ‚Sprache‘ heisst, ist ein Wesen bestehend aus heterogenen Teilen, und die Art und Weise, wie sie eingreift, ist unendlich mannigfach“. Wird die Erinnerung an „Babel“ wach?

Bei Simone Weil war die Nicht-Akzeptanz ihrer Weiblichkeit weniger eine Folge mangelhafter Kommunikation mit ihrer Mutter oder herabsetzender Erfahrungen durch den Vater, im Gegenteil, beide Elternteile bestrebt, ihre Besonderheit als Tochter zu stützen und zu fördern; Ursache der inneren Diskrepanz schon in der Kindheit war ihr starker, nicht erfüllbare Wunsch, wie der ältere Bruder zu sein, der sie durch seine Intelligenz beeindruckte – er wurde zu einem bedeutenden Mathematiker, konnte den Krieg in den USA überleben und war in den Sechzigerjahren auch an der ETH in Zürich tätig – und der durch die innere Sicherheit, die er ausstrahlte, zum Vorbild dessen wurde, was sie über ihre revolutionäre philosophische Arbeit zu vermitteln versuchte, unter anderem mit dem Einstieg in die Arbeiterschaft und mit der damit verbundenen Kommunikation in den Kreisen der Arbeiterschaft, sowohl was die Arbeit in den Fabriken, u.a. an den Fliessbändern, betraf wie den Kampf um bessere Rechte.

„Kulturen“ der Kommunikation? Was unter „Kultur“ zu verstehen ist, hat immer mit dem stärkenden, aufbauenden Einsatz für Werte zu tun, die für mehr als für einen Menschen gut sind, die aber in der Pflege und im Austausch um deren Entfaltung – analog zu dem, was die Bebauung des Bodens zu einem kostbaren Garten werden lässt – der Reziprozität bedürfen. Kommunikation hat in jeder Kultur die Bedeutung der Gartenpflege oder der orchestrierenden Suche nach gutem Zusammenspiel und Klang der vielen sich ergänzenden Instrumente. Was „Sprache“ bedeutet ist mit den Bildern des „guten“ Gartens und wie mit jenen des Orchesterwerks verbunden. Die Art und Weise des Sprechens – der Ton und die Lautstärke, die Wahlmöglichkeit der Worte, der Rhythmus des Sprechens und das Tempo, der Wert des Schweigens und Zuhörens, die Genauigkeit und Korrigierbarkeit des Gesagten, die Bilder und Pausen, immer wieder der Ton, das Staccato oder das Summen, klagend, beruhigend oder erstickend.

Ludwig Wittgenstein und Simone Weil waren von ihrer Herkunft und von ihrer Zeitgeschichte her gleichzeitig mit mehreren Kulturen vernetzt, deren Grammatik nicht übereinstimmte. Beide aus assimilierten jüdischen Familien, für welche vor allem die nationale Zugehörigkeit zählte – die österreichische für Wittgenstein, der als Soldat in den Ersten Weltkrieg eingezogen wurde und bald nach Kriegsende nach England zog, eine Emigration, die zu seiner sprachspezifischen Immigration wurde, im ständigen Streben nach einer unmissverständlichen Kommunikation der Kulturen in ihm und um ihn herum. Die französische Nationalität für Simone Weil, deren Sprache für sie Heimat bedeutete, in welche sie Texte aus der vorsokratischen Philosophie übersetzte, deren Herkunftsspuren sie über das Studium des Sanskrit zu vermitteln versuchte, immer die vielfältig komplexe Befragung dessen, was als „wahr“ erklärt wurde, über ihre Sprache, die sie als innere Ich-Identifikation in die Emigration in die USA und wenig später nach England mit sich trug, in welcher sie nicht nur ihre philosophischen Fragen und Erkenntnisse festhielt, sondern auch über Briefe und Gedichte zu übersetzen versuchte, was ihr in ihrer Sehnsucht aussprechbar war, auch was in ihrem Bestreben, über den inneren und den äusseren Austausch auch einen Weg zum Göttlichen zu finden, wo immer sie war, immer im Bestreben, die einander fernen Kulturen der Kommunikation zusammenzubringen. Für simone Weil wie für Ludwig Wittgenstein war die Aufmerksamkeit der Massstab für die innere Grammatik der Kommunikation, für das möglichst unmissverständliche Umsetzen dessen, was über die Sprache – mit Hilfe der zahlreichen Instrumente der Sprache – möglich ist

 

[2] Hans Günther Hirschfeld (1929-2002). Der Rhythmus des Regens. Pro Lyrica, Schaffhausen 1999. Gedicht von Sandro Penna, übersetzt von H. G. Hirschfeld

[3] Ludwig Wittgenstein. Philosophische Grammatik. Hrsg. Von Rush Rhees. Suhrkamp S. 66. Verlag, Frankfurt a.M. 1973

[4] ibid.

[5] ibdis. S. 5

[6] lat. munitio, -nis

[7] „l’attention / l’attente / attention etc“, in den vom Lateinischen geprägten Sprachen das, was zugleich „Spannung“ und „Aufmerksamkeit“ heisst, abgeleitet von „at-tendere“ – „an-spannen“.

[8] geb. 1849 in Horschitz (Böhmen), gest. 1923 in Meersburg am Bodensee

[9]  Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, S. XI. Erstausgabe 1910/11, Nachdruck Diogenes Verlag AG, Zürich 1980.

[10] a.a.O. S. 23

[11] Ludwig Wittgenstein. Philosophische Grammatik. S. 67. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1973.

[12] Walter Benjamin (geb. 15. Juli 1892 – gest. 27. 09. 1940 in Port Bou an der spanischen Grenze durch Suizid, auf der Flucht aus Frankreich vor den Nazi-Truppen). Über den Begriff der Geschichte. In: Illusionen, S. 255. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main 1977.

[13] ibid. a.a.O.

[14] Hrsg. von Diego Arenhoevel, Alfons Deissler und Anton Vögtle. Verlag Herder KG, Freiburg im Breisgau-Basel-Wien 1968. S. 24

[15] Verlag Lambert Schneider GmbH, Heidelberg 1954 / 1981. Das Buch ‚Im Anfang‘, S. 33-34

[16] Hrsg. Von Friedrich Kluge. Verlag Karl J. Trübner, Strassburg 1915 (Neubearbeitung der ersten und zweiten Auflage von 1881-1883).

[17] Subjekt im Singular, Verbform im Plural

[19] 1989 in Wien geboren, am 29. 04. 1951 in Cambridge (England) gestorben. Allein den „Tractatus logico-philosophicus“, den er während eines Gefechturlaubs des Ersten Weltkriegs in Tirol abgeschlossen und für deren Publikation er während des Lageraufenthaltes als Kriegsgefangener in Italien verzweifelt einen Verleger gesucht hatte, hatte er zu seiner Lebenszeit selber veröffentlicht. 1921 erschien er als Beitrag im letzten Band von Ostwalds „Annalen der Naturphilosophie“, dann 1922 bei Routledge –Kegan Paul Ltd. London in einer zweisprachigen Ausgabe, mit einer Einleitung von Betrand Russell.

[20] 13. 11. 354 in Tagaste (numidien) geboren, 28. 08. 430 in Hippo Regius (bei Karthago) gestorben; die „Confessiones wurden 397-398 geschrieben.

[21] Alle Zitate au dem Band Ludwig Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. Suhrkamp Verlag,, Frankfurt a. Main 1960

[22] geb. 03. 02. 1909 in Paris , gest. 24. 08. 1943 in Ashford (England); eingehendere Angaben und Untersuchungen in meinem Buch: M.W. Simone Weil – Eine Logik des Absurden. Paul Haupt Verlag Bern/Stuttgart 1983

[23] Ludwig Wittgenstein. Über Gewissheit. Hrsg. G.E.M. Anscombe und G.h. Wright. Suhrkamp Verlag 1997. Erstausgabe in England: Verlag Basil Blackwell, Oxford 1969.

[24] Ludwig Wittgenstein. Philosophische Grammatik. Hrsg. Rush Rhees. Suhrkamp Verlag 1973. Erstausgabe in England: Verlag Basil Blackwell, Oxford 1969.

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