Kindheitsbilder der Zeit – Wie wird in der Kindheit die Zeit wahrgenommen? Wie wird die Zeit erfahren? Wie können belastende Zeiterfahrungen verarbeitet werden?

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Kindheitsbilder der Zeit

Wie wird in der Kindheit die Zeit wahrgenommen? Wie wird die Zeit erfahren? Wie  können belastende Zeiterfahrungen verarbeitet werden?

Kolloquium in Stühlingen 11. Oktober 2008

 

 

(…) „Niemals eine Atempause wie in Ur

Da ein Kindervolk an den weissen Bändern zog

Mit dem Mond Schlafball zu spielen – (…)“[1]

 

Einen weiten Weg müssen wir bereit sein zu gehen, tastend zurück in die Vorzeit jeglicher Zeitempfindung, in die Vorzeit der Erinnerung und der Sprache, in die Vorzeit des Wissens. In welchem Urgefilde war die Kindheit? Was bedeutete die Zeit?

Die Zeit war ein transgenerationelles Zeitgeflecht, eine Gleichzeitigkeit der dem neuen Leben übertragenen Ahnengeschichte und dessen Entwicklung innerhalb weniger Monate im verschlossenen Raum des Mutterbauchs, in deren Wärme, im Summen der warmen Blutkanäle, in deren pulsierendem Plätschern und Sausen, im Zeitrhythmus des pochenden Herzens der Mutter, pausenlos geschaukelt vom Atem der Mutter, genährt mit der Wärme der Liebe, angeheizt manchmal schier bis zum Verbrennen von glühender Lust am Rand des kleinen Innenraums, in anderen Fächern, vielleicht bei Vaters Intrusion, oder fast erstickend, fast verhungernd, wenn mit Unbeachten getragen, oder von atemerstickender Angst eingeengt und sich selber überlassen, im Dunkel gefangen unter der klemmenden Not der Mutter aus Erschöpfung oder aus Angst vor der nächsten und der bevorstehenden Zeit, so oder so im ständigen Wiegen der Mutter getragen, im  stärkenden oder beklemmenden Gespräch mit der Sprache ihrer Seele, dann, als zu klein der mütterliche Innenraum wurde, freigelassen, losgestossen aus Atem- und Blutsymbiose ins vielfach hilfebedürftige, geheimnisvoll unbekannte, nicht wählbar gestaltete, kostbar besondere, eigene Ichleben in der eigenen Haut, die nun verletzbarer Halt wurde, dieses feine eigene Hauthaus, aus der Genesis geschaffen (sowohl im Sinn von „gennan“ / erzeugen, hervorbringen und „gignesthai“ / entstehen, geboren werden), diese feine Umgrenzung des Ich nach Aussen, wie vor der Geburt das Dasein unter der Mutterhaut, unverwechselbar besonders, einzigartig, das feine Geflecht der sinnlichen Wahrnehmung über dem – nun – eigenen pulsierenden Herzen und dem Ateminstrument der Lungen, mit dem Zeichen des eigenen Geschlechts, das dem Ausstossen des Verdauten wie der sinnlichen Hungerstillung im Ablauf sich folgender Stunden dienen wird, mit den sich öffnenden Fenstern und Türen der Sinne – Augen, Nase, Mund und Ohren -, mit deren je eigenen, langsam erwachenden Fähigkeit der Vermittlung von  Helligkeit, Farben und Dunkelheit, von Gerüchen und Geschmack, von Klängen und Tönen, von Hunger, von Freude und von Angst, dieser präzisen Übersetzung der Empfindungen der Seele und der cerebralen Funktionen über den dialogischen Kontakt mit dem Blick, mit der Bewegung der Hände, dem Betasten und Fühlen und allmählich, zusätzlich zur spürbaren Sprache von Haut und Atem über die hörbare Sprache mit dem wunderbaren Tonregister, das über Bronchien und Mund den Dialog mit der Mutter fortsetzt, nicht mehr in ihrem Inneren, sondern nun aus dem von ihr getrennten, aber noch tief mit ihr verbundenen eigenen Körper, allmählich dann Austausch mit anderen Menschen auf unterschiedliche Weise, mit dem Vater, mit weiteren Gesichtern und Gestalten, die allmählich nebeneinander oder gegen einander das Kind umringen – all dies auf unverwechselbare, eigene, persönliche Weise, die das Kind als Individuum kennzeichnen („individuum“ / das Unteilbare, Ungeteilte, aus der Negativform von „dividere“ / teilen), jedoch auch in der sich fortsetzenden Entwicklung verwandt mit Völkern von Ahnen auf Mutter- und Vaterseite – vierhundertvierzigtausend – bis zurück zum Anfang des Menschseins zu Beginn der zählbaren Zeit, gleichzeitig in allem vernetzt und geleitet durch die eigene Zeit, Atemzeit, Tag- und Nachtzeit, Existenzzeit im Dasein und Hiersein, durch die persönlcihe Raumzeit.

So ist die erste Zeit des persönlichen Ich im geschenkten, nicht wählbaren, zwar genetisch und anthropologisch erklärbaren, zugleich aber geheimnisvollen innersten Teil des In-der-Welt-Seins zu finden, im Innenraum des Entstehens der Lebenszeit, im Mutterbauch. Hier ist der Beginn der seelischen und körperlichen Entwicklungsgeschichte, der  inneren Zeit des Ich, dann die sich fortsetzende Entwicklungsgeschichte, die beginnt, wenn die nach den äusseren Zeitmassstäben berechnete Zeit mit dem eigenen Atem eine Sekunde zählt, dann einen Tag, der einen Namen trägt – Geburtstag -, auf den die Kindheitsjahre folgen, Geburtstag Jahr für Jahr – die lange Geschichte im persönlichen Hauthaus, die zur Lern-, Beziehungs- und Handlungsaufgabe wird, als Teil der zuerst zählbaren und nah bekannten anderen Menschen, dann der unzählbar vielen, die je eine eigene Geschichte haben.

„Einmal verschlossen

in der Geburtenbüchse der Verheissungen

seit Adam

die Frage schläft zugedeckt

mit unserem Blut“[2].

 

Eine Kinderstimme am Telefon der Praxis, Knabenstimme: Meine Mutter ist krank. Sie ist gefallen vor Angst, heute im Park, mit dem kleinen Bruder an der Hand. Eine Frau gab mir im Park Ihre Nummer, ich weiss nicht wer Sie sind.  Wann kann die Mutter zu Ihnen kommen? Heute Abend? Nicht ich komme mit ihr, der grössere Bruder wird die Mutter begleiten. Wo können er und die Mutter Sie finden? Bitte sagen Sie mir, ich schreibe auf, langsam bitte, Buchstaben bitte.“  Der Knabe, der um Hilfe für seine Mutter angerufen hatte, war acht Jahre alt, der „grössere Bruder“ zählte zwölf Jahre, die Augen überweit geöffnet, kein Lächeln, nichts kindhaft Leichtes, die Stimme klar und trotzdem fast tonlos schwer. Die Mutter mit bitterem, dumpfen Gesicht, auch sie ohne Lächeln, kaum grösser, aber zehnmal schwerer und wie verloren neben dem Knaben, der ihre Seele zu tragen schien wie einen Berg. Er war Kind und gleichzeitig hatte er nie Kind sein dürfen.

Wie er im Sessel sass, getrennt von der Mutter, doch untrennbar von ihr als ihr Sohn, der ihr als Begleiter und Übersetzer diente, wurde langsam seine Stimmer vor Weinen erstickt. Er schluchzte und weinte wie ein Kind, weinte voller Erschrecken, das Weinen nicht anhalten zu können. Und die Mutter? Sie blickte ihn an, selber hilflos klein und herrscherisch alt, vielleicht zum ersten Mal bewusst der Grenze zwischen ihr und ihrem Kind. Er konnte nun weinen, was sie sich selber  – und ebenso wenig ihrem Kind – nie zugestanden hatte. Mehrmals während des Gesprächs betonte sie, dass das schwere Hautleiden, das sie plagte, unmittelbar nach der Geburt des ersten Sohnes begonnen hatte, dass damals die Armut noch schwerer zu lasten begann, nach dem ersten Knaben noch zwei weitere Kinder plus Ehemann und sie, zusammengepfercht in einem einzigen Zimmer im niedrigen Haus der Schwiegereltern, in welchem noch zwei Brüder ihres Mannes mit Frau und Kindern in je einem Zimmer lebten, ohne Einkommen, kaum zu essen, und gleichzeitig die stete Präsenz der Besatzungspolizei mit Schlagstöcken und Geldforderungen. In der Schweiz angelangt mit der Hoffnung, besser leben zu können, doch ohne Sicherheit, dann der Ausschaffungstermin und die von den Behörden geforderte Rückkehr in die Heimat, aus der sie geflohen war – all die Angst, die den Sohn und die Mutter besetzt hielten. Wie und wo leben, wenn die Angst den Atem erdrosselt und kein Leben möglich erschein

Auch damals stellte sich mir die Frage, die sich immer wieder stellt: Welche Art von Zeiterfahrung braucht ein Kind, damit der Lebensimpuls, der während der Monate im Innenraum der Mutter sich zum persönlichen Leben entwickeln konnte, unter den zahlreichen nicht wählbaren Lebensbedingungen lebbar wird und lebbar bleibt? Können vielfältige Angst und Noterfahrungen mit dem Zeitdruck, der damit einhergeht und der zusätzlich mit dem von Erwachsenen auf das Kind übertragenen einhergeht, das Kindsein so beeinflussen, dass Überleben und geistige Wachheit zur Notwendigkeit werden und dass ein allzu frühes Pflichtgefühl das langsam und spielerisch erkundende innere Wachstum überdeckt? Geht eine Infragestellung des Lebenswertes, damit des Ich-Wertes des Kindes mit diesem auferlegten, nicht wählbaren Mangel an angstfreier und pflichtenfreier Kindheitszeit einher? – oder eine Verstärkung? Was bewirken früheste Erfahrungen dessen, was „Beziehung“ heisst – mit der Mutter, dem Vater, mit Grossmutter, Ersatzmutter usw. – im Zeitempfinden des Kindes? Wie und was können spätere Erfahrungen – Veränderungen, Trennungen, Verlust, Ersatz u.a.m. – dazu beitragen? Was heisst Ersatz? Bleibt das Ich intakt, zu dessen Innenzeit und Seinswert es keinerlei Ersatz gibt? Oder sind Verlust- und Ersatzerfahrungen gar nicht heilbar, höchstens erkennbar und dann – eventuell – akzeptierbar als zeitgeprägte Geschehnisse? Können sie durch das Erkennen korrigierbar werden, da die innere Zeit im Moment des Erkennens das, was war, in ein neues Licht der Gegenwart versetzt und damit dessen, was ist und sein wird?

Hinter allen Fragen, die sich zu den Geschehnissen und Entwicklungen der Kindheit stellen, steht immer die Zeit und das Verhältnis zur Zeit, zur auferlegten und erlebten Zeit wie zur berechneten Zeit, das sich hinsichtlich der kommenden, unbekannten Zeit in Angst oder in Neugier und Gelassenheit verdichten kann.

Ich will auf Sarah Kofman[3] eingehen. Ihre autobiographischen Notizen[4]  mit den Fragen nach den überlebensbedingten Strapazen ihres Ich und den damit verknüpften Emotionen vermochte sie erst nach langen Jahren der intellektuellen Flucht in theoretisch-philosophische und zeitanalytische Denkübungen, dann in die mitfühlende Aufarbeitung des Berichts von Robert Antelme[5] über dessen Erfahrungen[6] sowie nach einer sich über zehn Jahre erstreckenden Psychoanalyse zu formulieren. Die Notizen sind knapp, präzise, aufwühlend, als habe sie bei deren Niederschrift unter Zeitdruck gestanden.

Sarah Kofman war acht Jahre alt gewesen – mit diesem Zeitpunkt, 1942, setzen ihre Erinnerungen ein -, als der Vater, Rabbiner Bereck Kofman, geb. in Sobin, Polen, in Paris von der französischen Polizei gefangengenommen, der Gestapo übergeben und über Drancy nach Auschwitz abtransportiert worden war, als ihre Mutter, sie und ihre fünf Geschwister auf kaum zählbaren Fluchtwegen in Frankreich hin- und hergeschoben, von einander getrennt, versteckt, mit anderen Namen versehen, knapp überleben konnten, sie mit der Mutter bei einer Art Ersatzmutter untergetaucht wurde, wodurch sich eine aufwühlende und verstörende Spaltung der Mutter-Beziehung wie der Ich-Beziehung ergab, die sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzte. Erinnerungen an den streng religiösen, aber emotional reichen und gesicherten Jahresablauf mit den Rollen von Vater und Mutter vor der nazideutschen Besetzung Frankreichs, dann an den traumatisierenden Abbruch der festen Zugehörigkeit zu einer sicheren Herkunft, an alles, was nur noch Verunsicherung, Fremdheit, Hunger nach Zugehörigkeit und Sicherheit bedeutete, jedoch keine Sicherheit zuliess, was die seelische Spaltung bewirkte. Mitten in der Kindheit war es zu einem Abbruch im inneren Zeitgefüge der Kindheit gekommen, ohne dass diese einen anderen Namen hatte, doch der Name und das, was der Name tatsächlich bedeutete, stimmten nicht überein.

Die beiden Bücher – „Paroles suffoquées“ und „Rue Ordener, Rue Labat“ – schrieb Sarah Kofman mit dem Bedürfnis, dem eigenen Wissen Ausdruck zu geben. Nachdem sie sich eingehend mit Freud und mit Nietzsche befasst hatte, mit der Aussagekraft der Bilder und der Bedeutung von Kunst, ging sie auf knappem Raum auf die Abfolge ihrer eigenen Erinnerungen ein, durch welche die gelebte Zeit für sie etwas Unauslöschbares und Andauerndes darzustellen begann, das durch die kleine Anzahl an Jahren umso bedeutender und gewichtiger wurde.

Rätselhaft war für mich und von grosser Belastung zu wissen, dass Sarah Kofman kurz nach Erscheinen von „Rue Ordener, rue Labat“ aus dem Leben schied. Warum war sie so gnadenlos gegenüber der eigenen Lebenszeit? Warum gestand sie sich keine mehr zu? – warum brach sie selber den Lebenslauf ab? Hatte sie sich zu sehr in die Theorie des Schreibens versetzt, die sie zehn Jahre vorher mit ihrer Arbeit über E.T.A. Hoffmanns Kater Murr[7] auf das Schreiben der Autobiographie konzentriert hatte, durch welche zwar ein Selbst konstruiert werde, wie sie festhielt, jedoch das eigene Ich verloren gehe? War bei Sarah Kofman mit dem definitiven, schriftlichen Festhalten der vergangenen, erlebten Zeit ein Abbruch und Abschluss der weiteren, noch möglichen eigenen Existenzzeit geschehen? Es ist beklemmend, ohne Antwort zu bleiben auf die Frage, warum in ihr die Kraft der kindlichen Neugier auf das Unbekannte der noch nicht gelebten Zeit nicht wieder geweckt werden konnte, warum sie sich selber diese nicht zugestand.

Kinder und junge Menschen, welche in jüngster Zeit auf irgend eine Weise die Kriege in Tschetschenien, im ehemaligen Jugoslawien und in Kosovo, die nationalistisch oder ethnisch und religiös begründete Gewalt, Vertreibung oder Verfolgung in Kurdistan, in afrikanischen Ländern, in den palästinensischen Gebieten, in Afghanistan und Irak, in so vielen Ländern der Erde überlebten und auf Fluchtwegen in andere Länder gelangten, auch hierher in die Schweiz, weisen individuelle psychische Verletzungen und Spaltungen auf, zum Teil Leiden wie Sarah Kofman sie in ihrer Kindheit erlebt hatte.

Ein anderes Beispiel mag dies zusätzlich veranschaulichen: A. war elf Jahre alt, als er durch eine Sozialarbeiterin an mich überwiesen wurde. Der Vater war von wohlhabender Herkunft gewesen, und die Ehe zwischen ihm und seiner Mutter, die aus einer armen Rroma-Familie stammte, war aus wirklicher Liebe entstanden, gegen den Widerstand der väterlichen Familie. Von 1992 bis Februar 1996, d.h. während des ganzen Bosnienkriegs und über diesen hinaus, hatte A’s Vater in serbischen Konzentrationslagern schwerste Folter erlebt. Die Mutter war vom zwölften Altersjahr an vaterlos gewesen, durch die gesellschaftlichen Bedingungen und die Armut oft erniedrigt und stets hungrig, ohne Schulbildung, aber von grosser Lebenskraft und Klarheit. Während des Kriegs war sie mit dem Kind durch Bosnien geirrt, schliesslich dank eines Hilfswerks nach Deutschland gelangt, ohne dass ihr dort Bleiberecht zugestanden worden wäre. Nach Kriegsende, als sich mit Hilfe des IKRK das Paar wieder fand, jedoch in Bosnien nicht leben konnte, gelangte es mit dem Kind in die Schweiz und bat um Asyl, doch vergeblich. Der Krieg sei längst zu Ende, war die Begründung. Schlaflos, unruhig und kraftlos vor Angst erlebten A’s Eltern die Nächte und Tage; der Negativentscheid des Bundesamtes war definitiv. Wie sich die Ungewissheit und Hilflosigkeit auf das Kind auswirkte, beschäftigte sie nicht.

  1. blickte mich durch seine Brille gross an. Er übergab mir eine Zeichnung, die er gemacht hatte: ein von Geschossen durchlöchertes Haus ohne Tür und Fenster, von dem aus ein Weg beginnt und abbricht, mit einem Soldaten an der Seite des Hauses, der ein Gewehr vor sich hält, irgendwo ein Apfelbaum mit breitem Stamm. Was für A. grossen Wert und Sicherheit bedeutete, hatte er nicht mit einem Bild festgehalten, sondern mit Zahlen in kleinen Vierecken. „Alles wurde getötet“, sagte er leise, Boby, mein Hund, 1; meine Hasen, 4; mein Sandkasten, Hühner und Kücken und Hahn, 120; Vögel 150, Tauben meine; meine Rinder, 250“ – eine ganze Welt, die getötet wurde, von welcher nur noch Zahlen und Worte übrig blieben, Bezeichnung und Anzahl. Senkrecht neben dem Apfelbaum und neben dem durchlöcherten Haus hatte A. einen Wunsch festgehalten, wie ein Ausrufezeichen. Neben dem Baum stand „ich habe mir einen Terrier gewünscht“, und neben dem Bild des Hauses „ich habe mir noch ein Land gewünscht“.

Mit dem Wunsch der Vergangenheit verwies der Knabe auf die Zukunft der Vergangenheit, die zerstört worden war, die er jedoch wach halten wollte. Er wirkte in seiner Ernsthaftigkeit älter als die elf Jahre, die er gelebt hatte, und zugleich kleinkindlich, voller Vertrauen hilfesuchend, geprägt durch eine verwirrende Gleichzeitigkeit von grosser Traurigkeit ob der Verluste und von der Sicherheit irgendwie möglicher Wunscherfüllung, von Tod und von Leben. „Alles wurde getötet“, sagte er, „mit Gewehren, mit Bomben. Mein kleiner Hund Boby, von Soldaten erschossen“. Doch seines Lebens war er sicher gewesen, die Mutter an seiner Seite hatte Sicherheit bedeutet, sie hatte ihn getragen und hatte ihn geschützt. Auch in der Schweiz bedurfte er ihrer Nähe, nicht tagsüber, aber in der Nacht, wenn Albträume ihn aufschreckten und er sich bei ihr einzunisten suchte wie ein Küken unter den warmen, mütterlichen Flügel.

Dass seine Mutter ihm keine Sicherheit mehr vermitteln konnte, dass sie nun selber angstbesetzt und schlaflos war, belastete ihn zutiefst. Noch mehr belastete ihn, dass sein Vater, den er während Jahren nicht gesehen hatte und den er sich vorgestellt hatte wie einen starken Fürsten, zu ihm und zu seiner Mutter als kranker Überlebender zurückgekehrt war, so krank, dass zwischen den nächtlichen Angstträumen und der täglichen Angst des Vaters nicht unterschieden werden konnte. Die Altersdifferenz zwischen Kind und Erwachsenen hob sich ob der sich überkreuzenden Tag- und Nachtangst auf, es gab keine Differenz mehr zwischen A’s Wunschtraum nach Sicherheit und der tatsächlich fehlenden Lebenssicherheit der Eltern. Durch den Entscheid der Behörden, dass sie die Schweiz verlassen mussten, waren sie in ihren Vorstellungs- und Entscheidungsmöglichkeiten wie gelähmt. In ihren inneren Bildern gab es kein Zurück und kein Voran, kein Bild einer möglichen Zukunft, nachdem ihnen diese in der Schweiz nicht zugestanden wurde. „Überall die Erde baut an ihren Heimwehkolonien“[8], hatte Nelly Sachs geschrieben.

In therapeutischer Hinsicht erschien es mir damals dringlich, das Zeitgefühl des Kindes wie jenes seiner Eltern aus der Angstblockierung zu lösen, die das aktuelle Zeitempfinden besetzt hielt und das auf die Zukunft ausgerichtete verdüsterte. Kind und Eltern bedurften in erster Linie der existentiellen Sicherheit. Ich versuchte zuerst auf der Menschenrechtsebene eine Korrektur des Entscheids der Asylbehörde zu erreichen. Als auch diese verwehrt wurde und die Zeit vor dem Ausschaffungstermin auf wenige Tage geschmolzen war, blieb nur noch die Möglichkeit, Geld zu beschaffen und eine neue Flucht zu organisieren. Damals erschien Dänemark noch aufnahmebereit zu sein. Eine Fahrt durch die Nacht, Telefongespräche mit der Menschenrechtskommission in Kopenhagen, dann noch während Jahren eine Fortsetzung des – wenigstens telefonischen – Kontakts. Der Familie wurde schliesslich der Flüchtlingsstatus gewährt. Die durchgestandene angstbesetzte Zeit konnte Vergangenheit werden, das Zeitempfinden liess den Augenblick zu, allmählich auch den Blick auf die Zukunft. A. ist inzwischen ein junger Mann und macht bald Abitur, er spricht Dänisch und Englisch, hat auch seine Deutschkenntnisse nicht verloren; wir hatten häufig einen Telefonaustausch, immer wenn er dessen bedurfte.

Vielleicht weiss A. inzwischen, dass, selbst wenn die Zeit kaum erfassbar ist, die Wahlmöglichkeiten, die uns zustehen, auf kreative Weise genutzt werden können, dass die geschehene, erlebte Zeit als vergangene Zeit zwar durch die Erinnerung zu Bildern wird, die Dauer bedeuten, dass jedoch das ausschliessliche Beherrschtwerden durch die dunkeln Bilder der erlebten Gewalt und der Verluste – der Traumata – eine Veränderung erfahren kann, einen heilenden Prozess durch deren allmähliche Einordnung in andere Zeiterlebnisse und Zeiterfahrungen, die während Jahren verdrängt worden waren, die jedoch die stärkende, helle Präsenz bewahrt hatten.

Für A. – viel stärker als für seine Eltern – wurde es im Lauf der Jahre spürbar, dass die aktuelle Zeit und die noch bevorstehende von den belastenden Erfahrungen der Kindheit nicht besetzt werden müssen, dass diesen ein Platz in der inneren Bibliothek der Erinnerungen zugeordnet werden darf, ohne dass deren Verdrängung nötig ist, dass dadurch die Möglichkeit neuer Existenzerfahrungen sich wieder öffnen kann. Die noch offene Zeit lässt sich erneut, wie es in der frühesten Kindheit möglich war, durch den Augenblick des Erkennens in ein Licht versetzen, das diesem Augenblick selber entspricht, und zugleich in einen Raum, der wieder weit und sicher erscheint: jenen der Zuversicht, dass das, was auf unbekannte Weise auf uns zukommt – Zukunft -, uns zusteht, solange wir selber zulassen, den eignen Rhythmus des Atems mit jenem der Zeit zu verbinden und diesen bewusst zum Übergang werden zu lassen zwischen dem, was war, und dem, was sein wird – unabhängig vom dem, was durch negative Prognosen der Weltentwicklung wie ein virtueller Taifun bedrohlich Ideologien, Medien und ganze Völker mit Ängsten zu unterwerfen versucht.

 

[1] Nelly Sachs. Späte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1981, S. 225

[2] cf. (1)

[3] geb. 14. 09. 1934, gest. 15. 10. 1994

[4] Sarah Kofman. Rue Ordener, Rue Labat. Editions Galilée, Paris 1994; deutsche Übersetzung: gleicher Titel, Passsagen Verlag, Wien 1995.

[5] L’espèce humaine. Gallimard, Paris 1957; deutsche Übersetzung: Das Menschengeschlecht, Carl Hanser Verlag, München 1987.

[6] Sarah Kofman. Paroles suffoqués. Edition Galilée, Paris 1987; deutsche Übersetzung: Erstickte Worte, Passagen Verlag, Wien 1988.

[7] Sarah Kofman. Schreiben wie eine Katze. Zu E.T.A.Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr. Passagen Verlag Graz-Wien 1985

[8] Nelly Sachs. aus: Fahrt ins Staublose, in: Späte Gedichte (cf. 1), S. 89

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