“… Vor allem muss man jederzeit als voller Mensch leben” – Rosa Luxemburg (5. März 1870 – 15. Januar 1919)
“… Vor allem muss man jederzeit als voller Mensch leben”
(aus einem Brief an Mathilde Wurm, Februar 1917)
Rosa Luxemburg (5. März 1870 – 15. Januar 1919)
Vieles erscheint in Rosa Luxemburgs unruhigem Leben verworren, selbst das Geburtsdatum steht nicht mit Sicherheit fest. Nach den meisten Biographinnen und Biographen (etwa Luise Kautsky, Paul Fröhlich oder Elzbieta Ettinger) ist es der 5. März 1870, gemäss dem Oxforder Politologen Peter Nettl ist es der 5. März 1871, nach Rosa Luxemburg Basler Eheschein der 25. Dezember 1870.
Geboren wurde sie in Zamost, dem galizischen “Klein-Paris”, wie Isaac Leib Peretz das Städtchen südöstlich von Lublin nannte. Seit dem 16. Jahrhundert war der Ort einerseits als Markt- und Handelsplatz bekannt, der Menschen aus allen Kulturen – armenische, griechische, türkische, vor allem aber jüdische Händler und Handwerker anzog. 1588 wurde der Sephardischen Gemeinde, die sich in Zamost gebildet hatte, durch den damaligen Grosskanzler der polnischen Krone, Jan Zamoyski, Niederlassungs- und Aufenthaltsprivilegien eingeräumt, die ihr eine starke, eigenständige Entwicklung erlaubten. Doch im Lauf der blutigen Invasion Polens durch Schweden im 17. Jahrhundert floh fast die gesamte sephardische Gemeinde. Die Ashkenasim, die später wieder eine Gemeinde aufbauten, erreichten nie mehr den Wohlstand der sephardischen Gemeinde, zumal im 18. Jahrhundert mal Österreich, mal Preussen, dann von 1815 an Russland die Oberhoheit über Polen hatten und die jüdischen Gemeinden, auch jene in Zamost, einschränkenden Berufs-, Wohn-, Eigentums- und Kleidergesetzen unterwarfen. Trotzdem machte noch Mitte des 18. Jahrhunderts die Zamoster Judenheit ein Drittel der Bevölkerung aus.
Rosa Luxemburgs väterliche Vorfahren sollen im 18. Jahrhundert von Bruxelles durch den Grafen Andrzej Zamoyski, einen Nachfahren des Jan Zamoyski, nach Zamost geholt worden sein, als Landschaftsgärtner des Grafen. Diese Familiengeschichte wurde erzählt, findet sich jedoch nirgends dokumentiert. Rosas Grossvater jedoch, das steht fest, war ein bedeutender Holzhändler, dessen Geschäfte ihn in den Osten wie in den Westen führten. Schon der Grossvater wandte sich von der Orthodoxie ab. Rosas Vater, Eliasch Luksenburg, führte nicht nur das Holzgeschäft weiter, sondern auch die Assimilation.
Rosas Mutter, Lina Löwenstein, entstammte einer Familie, die siebzehn Generationen zurück lauter Rabbiner und Gelehrte zählte, deren Urahne der berühmte spanische Talmudweise Rabbi Zerachya Halevi war. Mit ihrem Bruder, Rabbi Bernard Löwenstein, war sie während der Kindheit sehr verbunden gewesen, doch hatten sie als Erwachsene keinen Kontakt mehr. Vermutlich war die Heirat Linas mit Eliasch Luksenburg der frommen und gelehrten Familie ein Dorn im Auge. Der Sabbat und die Feste wurden bei Luksenburgs wohl gefeiert, doch die Umgangssprache war Polnisch (Jiddisch sprach der Vater nur bei seinen Geschäften), und Lina Luxemburg-Löwenstein, eine Kennerin der deutschen und polnischen Literatur, erzog ihre Kinder in einem weltoffenen Sinn.
Doch gerade in Zamost hatte die Bewegung der Haskalim, der jüdischen Aufklärer, unter dem Druck der Orthodoxen und der Chassidim keine Chance. Dazu setzte nach dem polnischen Aufstand gegen die russische Herrschaft im Jahre 1863 eine Welle von Pogromen und gesetzlichen Unterdrückungsmassnahmen gegen die jüdischen Gemeinden ein. Eliasch Luksenburgs Geschäfte gingen immer mehr zurück, sodass er sich 1873 entschloss, mit seiner Familie nach Warschau zu ziehen.
Rosa war damals drei Jahre alt wa, die jüngste von fünf Geschwistern. Die anderen hiessen Chana (Anna), Natan (Mikolaj), Maksymilian und Jozef. Das stattliche, zweistöckige Haus in Zamost musste gegen eine Wohnung in einem grossen Miethaus an der Zlota Strasse eingestauscht werden, das von polnischen wie von jüdischen Familien bewohnt war. Die Zlota Strasse war eine belebte, gepflästerte Strasse, eine “gute Adresse”. 1862 waren auf Befehl des russischen Zars die Niederlassungs- und Wohneinschränkungen für Juden aufgehoben worden, doch das jüdische Quartier, nicht weit von der Zlota Strasse entfernt, blieb geprägt durch Armut und Elend.
Doch auch das Miethaus an der Zlota Strasse 16 hatte eine Rückseite und dort einen schmutzigen und armseligen Innenhof. Der Gegensatz zwischen Vorderseite und Hinterseite war Rosa Luxemburgs erste Einführung in die Härte der Klassengegensätze. Fast dreissig Jahre später, 1904, als sie in Zwickau im Gefängnis war, erinnerte sie sich in einem Brief an Luise und Karl Kautsky an den Hinterhof in Warschau: “Das Leben spielt mit mir ewiges Haschen. Mit scheint es, dass es nicht in mir, nicht dort ist, wo ich bin, sondern irgendwo weit. Damals zu Hause schlich ich mich in der frühesten Morgenstunde ans Fenster – es war ja streng verboten, vor dem Vater aufzustehen -, öffnete es leise und spähte hinaus in den grossen Hof. Da war freilich nicht viel zu sehen. Alles schlief noch, eine Katze strich auf weichen Sohlen über den Hof, ein paar Spatzen balgten sich mit frechem Gezwitscher, und der lange Antoni in seinem kurzen Schafpelz, den er Winter und Sommer trug, stand an der Pumpe, beide Hände und Kinn auf den Stiel seines Besens gestützt, tiefes Nachdenken im verschlafenen ungewaschenen Gesicht. (…) Damals glaubte ich fest, dass das “Leben”, das “richtige” Leben, irgendwo weit ist, dort über die Dächer hinweg. Seitdem reise ich ihm nach. Aber es versteckt sich immer hinter irgendwelche Dächer. Am Ende war alles ein frevelhaftes Spiel mit mir, und das wirklich Leben ist gerade dort, im Hof, geblieben”…
Die Erfahrung der gesellschafltichen Gegensätze, die einherging mit dem ersten Gefühl der Nichtzugehörigkeit, der Entwurzelung, war nicht die einzige einschneidende Erfahrung jener Zeit.
Als sie vier Jahre alt war, musste sie wegen eines Hüftleidens ein Jahr lang das Bett hüten, bewegungslos eingzwängt in ein Korsett. Als sie mit fünf wieder zu gehen lernte, war das eine Bein beträchtllich kürzer, eine Missbildung, die sich nicht mehr auskurierte. Fortan war sie nicht mehr wie die anderen Kinder, wie die anderen Mädchen. Mit unermüdlicher Disziplin versuchte sie, den Mangel zu korrigieren, aufrecht zu gehen, möglichst nicht aufzufallen. Während des Jahres, als sie bettlägrig war, lernte sie in drei Sprachen – deutsch, polnisch und russisch – lesen und schreiben, korrespondierte von ihrem Bett aus mit ihren Eltern und Geschwistern, schrieb kleine Gedichte, die in Kinderzeitschriften veröffentlicht wurden – kurz, sie legte sich jene Fähigkeit zu, die sie später, während der Jahre, die sie in Gefängnissen zubrachte, auszeichnete: jede Art von Einschränkung als Chance zu nutzen.
Die dritte tiefgreifende Erfahrung, die sie noch als Kind machte, hatte mit der “condition juive” zu tun: eine Erfahrung gesellschaftlicher Minderwertigkeit und Schutzlosigkeit. Dass sie, sobald sie erwachsen war, nichts mehr mit dem Judentum zu tun haben wollte, dass sie gleichzeitig gegen jede Art menschlicher Demütigung auf Grund schicht- und klassenspezifischer Diskriminierung ankämpfte, wurzelt in dieser Erfahrung. Das sogenannte “Erste Gymnasium” war jüdischen Kindern ganz verschlossen. Nur Söhne und Töchter russischer Offiziere, Beamter und russifizierter Polen durften es besuchen. Doch auch für den Besuch des sogenannten “Zweiten Gymnasiums” galt für die jüdischen Kinder ein strenges Quotensystem, das deren Anzahl auf einige wenige begrenzte, die zudem eine Eintrittsprüfung mit hohen Anforderungen zu bestehen hatten.
Als Zehnjährige bestand Rosa diese Prüfung zwar glänzend, doch die Diskriminierungen in der Schule hörten damit nicht auf. Sie hatten sowohl mit ihrer jüdischen Herkunft zu tun, mit der damit verbundenen Ausgrenzung in religiöser und gesellschaftlicher Hinsicht, mit der Nichtteilnahme an den im damaligen Polen mit grosser Festlichkeit gefeierten christlichen Feiertagen, mit ihrem Aussehen und ihrer Behinderung. Doch neben den antisemitischen Schikanen hatten sie zugleich mit der Tatsache der russischen Oberhoheit und mit antipolnischen Unterdrückungsmassnahmen zu tun, eine Diskriminierung, die sie mit den christlichen Polinnen teilte. So war es ihnen zum Beispiel bei strengster Strafe verboten, sich an der Schule ihrer Muttersprache zu bedienen. Doch die Polinnen, im Gegensatz zu Rosa, trösteten sich mit alter polnischer Königstradition und mit – wiederum ausgrenzendem – polnischen Nationalismus. Ihre spätere hellsichtige Warnung vor nationalistischen Entwicklungen – auch in der Arbeiterbewegung – geht auf auf Erfahrungen der Warschauer Gymnasialzeit zurück. Auf jeden Fall muss man sich nicht wundern, dass die Gymnasien und Universitäten in Polen zu Entstehungs- und Sammelherden der politischen Opposition wurden, bei deren illegaler Tätigkeit Rosa Luxemburg schon früh mit dabei war.
Die einschneidenste Erfahrung jüdischer Rechtlosigkeit erfolgte durch den Dezemberpogrom von 1881, als Rosa noch nicht zwölf Jahre alt war. Aus irgend einem Grund hatte an Weihnachten 1881 nach der Messe in der Heilig-Kreuz-Kirche in Warschau die Kirchenbesucher eine Panik ergriffen, die sich auf den Rest der Bevölkerung übertrug, die die Häuser und Geschäfte der Juden stürmten und mit grösster Brutalität sowohl gegen die Armen und Frommen wie gegen die besser gestellten Assimilierten vorgingen. Rosa musste während Tagen von ihren Eltern versteckt worden sein. Später versuchte sie, die damals ausgestandenen Ängste zu verdrängen. Als sie ein einziges Mal in einem nicht-signierten Artikel auf diese Pogromerfahrung zurückkam, unterlief ihr, die sonst in allem übergewissenhaft war, ein Datumfehler.
Was blieb, war die Angst vor der Unberechenbarkeit und nicht kontrollierbaren Brutalität aufgepeitschter Menschenmassen. Mehrmals hielt sie dies fest, zum Beispiel in einem Brief an Luise Kautsky von 1917, wo sie schrieb, dass sie angesichts von Massenversammlungen nur das eine Bedürfnis habe, wegzurennen, kurz, dass sie eine Abscheu vor Menschenmassen habe.
(Auch Simone Weil und Hannah Arendt werden, wie wir noch hören werden, dem gesichtslosen, manipuierbaren Mob ihre Aufmerksamkeit widmen).
Im Rückblick auf ihre Gymnasialzeit hielt Rosa Luxemburg später fest (in der Einleitung zu ihrer Korolenko-Übersetzung), dass die achtziger Jahre, die sie in Warschau verbrachte, “eine Übergangszeit, eine Periode der inneren Krise mit all ihren Qualen” waren, ja gar “eine Periode starrster Hoffnungslosigkeit”, in der “die liberalen Reformen der sechziger Jahre … allenthalben zurückrevidiert” worden waren. “Der russischen Gesellschaft” (zu der damals auch Polen gehörte), “die durch das Scheitern aller Hoffnungen auf friedliche Reformen wie durch die anscheinende Wirkungslosigkeit der revolutionären Bewegung gleichermassen entmutigt war, bemächtigte sich eine gedrückte, resignierte Stimmung”.
Dass die tatenhungrige Rosa Luksenburg, die mit grösster Intensität und Ungeduld l e b e n wollte, diese Stimmung der Resignation nicht ertragen konnte, liegt auf der Hand. Ihr geheimer “Lehrer” war in dieser Zeit der polnische Dichter Adam Mickiewcz, der, selbst ein politisch Verfolgter und Emigrant, fünfzehn Jahr vor ihrer Geburt, 1855, auf merkwürdige Weise in der Türkei starb und der in seinen Werken nicht nur zur sozialistischen Verbrüderung, sondern auch zum jüdischen u n d polnischen Freiheitskampf aufrief. Auf diese Stimme hörte sie.
Als Rosa am 14. Juni 1887 das Gymnasium abschloss, war sie Vollmitglied der “Revolutionär-Sozialistischen Partei Proletariat”. Dass sie diese Mitgliedschaft geheimhalten konnte, beweist die Tatsache, dass sie am 5. März 1888, an ihrem 18. Geburtstag, einen Pass erhielt – damals keine Selbstverständlichkeit, insbesondere wenn sie der Polizei als politische Verdächtige bekannt gewesen wäre. Interessant ist, dass sie von diesem Augenblick an ihren Familiennamen “Luksenburg” in “Luxemburg” modernisierte.
Ein Jahr später, im Februar 1889, kam sie in Zürich an. Die Schweiz, insbesondere die Zürcher Universität, damals noch im südlichen Flügel der ETH untergebracht, war ein Sammelpunkt der polnischen und russischen Opposition, zumal an den Schweizer Universitäten, im Gegensatz zu den polnischen, Frauen schon studieren durften. Rosa Luxemburgs Leitbilder waren die jungen polnischen und jüdischen Rebellinnen ihrer Zeit: etwa Sofia Perovskaja, die zusammen mit ihrem Geliebten Alexander Zheljabov nach dem Zarenattentat von 1881, als Rosa Luxemburg elf Jahre alt war, erhängt wurde. Oder Aleksandra Jentys, eine weitherum bekannte Lehrerin am exklusiven Institut für “Töchter höherer Abkunft”, die ein Doppelleben führte, tagssüber die Rolle der verehrten Lehrerin spielte, nachts aber als Verschwörerin und als heimliche Geliebte eines verheirateten Mannes agierte, und die, als Rosa Luxemburg dreizehn Jahre alt war, gemeinsam mit ihrem Geliebten Ludwik Warynski, dem Gründer der Arbeiterpartei “Proletariat”, in der Warschauer Zitadelle eingekerkert wurde, bevor sie, wiederum zwei Jahre später, nach Russland deportiert wurde. Oder zwei weitere Frauen, die, als Rosa fünfzehn Jahre alt wurde, in der Warschauer Zitadelle eingekerkert wurden: die polnische Adlige Maria Bohuszewicz, die mit 19 Jahren Leiterin des Zentralkommitees der Arbeiterpartei “Proletariat” wurde, und deren Freundin Rosalia Felsenhard, Tochter eines jüdischen Arztes, die als Lehrerin während des Dezemberpogroms das Leben von dreissig ihr anvertrauten Kindern rettete. Als Rosa Luxemburg das Gymnasium abschloss, wurden die beiden Frauen nach Sibirien deportiert und erlitten auf dem Weg dorthin den Tod.
Dies waren die prägenden Erfahrungen und Vorbilder, die Rosa Luxemburg, als sie sich an der Zürcher Universität einschrieb, in sich und mit sich trug: einerseits Erfahrungen, die aus ihrer gering geachteten jüdischen Herkunft und aus ihrer körperlichen Behinderung stammten und die vor allem Ausgrenzung bedeuteten, die aber auch den Willen wachsen liessen, dagegen aufzustehen; andererseits Erfahrungen, die aus ihrer politischen Untergrundtätigkeit ein theoretisches und praktisches Fundament der Arbeitersolidarität sowie der beispielhaften Unerschrockenheit einzelner Frauen entstehen liessen.
Auf diesen Voraussetzungen baute sie ihr Erwachsenenleben auf. Im Februar 1889 meldete sie sich in der – damals noch selbständigen – Zürcher Gemeinde Oberstrass an, wo sie bei der Familie Lübeck, emigirierten deutschen Sozialdemokraten, an der Nelkenstrasse ein Zimmer bezog. Später wohnte sie an der Universitätsstrasse 79, dann an der heutigen Culmannstrasse, später in der Gemeinde Hottingen an der Hofstrasse, an der Freien Strasse und an der Plattenstrasse, dann wieder in Oberstrass an der Universitätsstrasse 77.
Zuerst immatrikulierte sich Rosa Luxemburg an der Philosophischen Fakultät und begann, Zoologie, Botanik und Mathematik zu studieren. 1892 wechselte sie zum Studium der Nationalökonomie an der Juristischen Fakultät über. 1897 promovierte sie mit einer Doktorarbeit über die industrielle Entwicklung Polens. Ihr Doktorvater war der aus Österreich emigirierte Julius Wolf, der sie als “den begabtesten Schüler” (sic) seiner Zürcher Jahre bezeichnete.
Die akademische Arbeit war jedoch nur ein Teil – ein beinah handwerklicher Teil – ihres Studiums, das in erster Linie politische Weiterentwicklung bedeutete. Rosa trat in einen engen Gedankenaustausch mit den führenden russischen und polnischen sozialistischen Emigranten und Emingrantinnen, die sich in der Schweiz aufhielten, aber auch mit schweizerischen Sozialisten: etwa mit Paul Axelrod, einem bedeutenden Vertreter der russischen Arbeiterbewegung, der von einem Anhänger Bakunins zum Marxisten wurde, der aber die Lenin’sche bolschewistische Parteiorganisation zutiefst kritisierte und für die Schaffung einer demokratischen sozialistischen Massenpartei eintrat, der noch während des 1.Weltkriegs an den sozialistischen Friedenskonferenzen in Zimmerwald und Kiental teilnahm; oder mit Zofia Daszynska, die, einige Jahre älter wie Rosa Luxemburg, ebenfalls aus Warschau stammte und nach ihrem Doktorat in Zürich nach Berlin zog, wo sie die “Sozialistischen Monatshefte” herausgab; oder mit Julian Balthasar Marchlewski (der sich während des Kriegs Karski nannte) und der es bis zum Rektor einer sowjetrussischen Universität brachte; oder mit Mathilde und Robert Seidel, einem ehemaligen Weber, der Zürcher Stadtrat wurde und Herausgeber der damals bedeutenden sozialistischen “Arbeiterstimme” war; sodann mit Georg Plechanow, dem von Petersburg nach Genf emigrierten Theorektiker der bevorstehenden Revolution in Russland, der sich 1889 am Gründungskongress der II. Internationale in Paris beteiligte und später aktiv an deren Leitung teilnahm, in schweren Widerspruch zu Lenin geriet und eine wichtige Rolle in der Leitung der menschewistischen Sozialdemokratie spielte.
Am bedeutungsvollsten aber war für Rosa Luxemburg die Begegnung mit Leo Jogiches. Bis zu ihrem Lebensende blieben die beiden miteinander verstrickt, zuerst in Liebe, in gegenseitiger Bewunderung, dann in zunehmender Abgrenzung und zugleich gegenseitiger Abhängigkeit. Leo Jogiches, drei jahre älter als Rosa, stammte aus einer grossbürgerlichen jüdischen Kaufmannsfamilie aus Wilna. (Der Grossvater hatte die damals berühmte “Jogiches schul” gegründet). Frühzeitig hatte er das Gymnasium aufgegeben, um sich ganz der konspirativen, revolutionären Tätigkeit zu widmen, stand auch in Kontakt mit den Bundisten, wurde erstmals als Jugendlicher gefangengenommen und entzog sich dem Militärdienst durch die Flucht nach Zürich. Er wurde zu einem der bedeutenden Theoretiker der revolutionär-marxistischen Bewegung.
Zusammen mit Rosa Luxemburg gründete Jogiches 1893, während ihrer gemeinsamen Zürcher Zeit, die “Sozialdemokratie Polens und Litauens”, die sich gegen einen polnischen Nationalstaat stark machte und deren Organ, “Sprawa Rabotniza” (“Arbeitersache”), das in Paris herauskam, während Jahren von Rosa Luxemburg betreut wurde und später zum Führungsorgan der russischen Revolution in Polen wurde. Jogiches wird daran aktiv teilnehmen. Nach Ausbruch des 1.Weltkriegs stellte er sich in den Dienst des Spartakusbundes, bekämpfte die Gründung der KPD, fiel 1919, nach dem Januarputsch, in die Hände der Ordnungskräfte. Nachdem er alles darangesetzt hatte, damit der Mord an Rosa Luxemburg aufgedeckt und die Mörder zur Verantwortung gezogen wurden, wurde er selbst wenig später in seiner Zelle meuchlings erschlagen.
Doch damit haben wir vorgegriffen.
Rosa Luxemburg und Leo Jogiches waren von 1891 an ein Paar, nach Jogiches Wunsch und zu Rosa Luxemburgs Leiden in aller Heimlichkeit. Die beiden hätten nicht unterschiedlicher sein können: Jogiches war ein kühler, systematischer Denker, ein überaus disziplinierter, beinah asketischer Kämpfer, für den es nichts ausser der politischen Arbeit gab. Rosa Luxemburg dagegen war ebenso scharfsinnig wie überschwenglich, sie war Idealistin und zugleich, nach ihren eigenen Worten, ins “ganze Leben” verliebt. Ihre Briefe, die in grosser Zahl erhalten sind, sind eine ständige Klage über vermisste Wärme und Zärtlichkeit von Seiten Jogiches, zugleich aber auch Beweis des nie abbrechenden Austausch über ihre politische Arbeit.
Rosa Luxemburgs Kontakte gingen schon während des Studiums über Zürich hinaus. Einerseits über die Arbeit an der “Sprawa Rabotniza”, bei der sie die französischen Sozialisten kennenlernte, zum Beispiel Eduard Vaillant, den Kämpfer für eine Einigung der zersplitterten französischen sozialistischen Parteien, mit dem sie bis zum Tod eine tiefe Freundschaft verband; andererseits trat sie in Kontakt mit Karl Kautsky, den sie erstmals am III.Sozialistenkongress in Zürich im August 1893 kennengelernt hatte (an dem, unter anderen, auch Bebel, Liebknecht, Engels und Clara Zetkin teilnahmen). 1896 schickte sie Kautsky einen Artikel über die “Neuen Strömungen in der polnischen sozialistischen Bewegung” zur Publikation in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift “Neue Zeit” . Damit fing eine Freundschaft an, in die die ganze Familie Kautsky einbezogen war, insbesondere auch Luise Kautsky. Der Briefwechsel zwischen den beiden Frauen, der zum grossen Teil erhalten ist, ist ein grosses Dokument der Menschlichkeit und Kultur der zwei so verschiedenen Frauen.
Für Rosa Luxemburg war es eine ausgemachte Sache, dass sie nach Beendigung des Studiums in Deutschland wirken wollte, von wo aus sie sich den stärksten Einfluss auf die politische Entwicklung in Polen versprach. Damit sie sich jedoch frei in Deutschland bewegen konnte, bedurfte sie der deutschen Staatsbürgerschaft. Zu diesem Zweck ging sie eine Scheinehe mit Gustav Lübeck ein, dem Sohn ihrer Freundin Olympia Lübeck, bei der sie zuallererst in Zürich in Untermiete gewesen war. Am 19. April 1898 fand die Trauung in Basel statt. Unmittelbar danach trennten sich Rosa Luxemburg und Gustav Lübeck. Die Ehe, die nie vollzogen wurde, wurde allerdings erst fünf Jahre später von der preussischen Regierung als rechtsgültig anerkannt und wieder geschieden.
Interessant ist, dass sie sich auf dem Trauschein noch als “israelitisch” eintragen liess, sich jedoch später immer als “konfessionslos” bezeichnete. Vom Judentum löste sie sich zunehmend. Eine Erklärung hierfür gibt sie selbst in einem Brief, den sie am 16. Februar 1918 an Mathilde Wurm aus dem Gefängnis Wronke schrieb: “Vor allem muss man jederzeit als voller Mensch leben”. Und sie fuhr fort: “Was willst du mit den speziellen Judenschmerzen? Mir sind die armen Opfer der Gummiplantagen in Putumayo, die Neger in Afrika, mit deren Körper die Europäer Fangball spielen, ebenso nahe. Weisst du noch die Worte aus dem Werk des Grossen Generalstabs über den Trotha’schen Feldzug in der Kalahari:’…Und das Röcheln der Sterbenden, der Wahnsinnschrei der Verdurstenden verhallten in der erhabenen Stille der Unendlichkeit’. O diese erhabene Stille der Unendlicheit, in der so viele Schreie ungehört verhallen, sie klingt in mir so stark, dass ich keinen Sonderwinkel im Herzen für das Getto habe: ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken und Vögel und Menschentränen gibt.” Bezeichnend erscheint es mir, dass Rosa Luxemburg wegen ihrer Distanzierung vom Judentum nicht von Schuldgefühlen gequält war. Diese hätten sie am aktiven Leben gehindert, vor allem an ihrer Orientierung auf etwas Besseres hin.
Doch folgen wir zuerst wieder ihrem Weg. Als Rosa Luxemburg 1898 nach Berlin zog, lebten dort schon an die zweieinhalb Millionen Menschen – ein grosser Wechsel nach dem beschaulichen Zürich. Sie liess ich in Friedenau nieder, im Südwesten der Stadt, in der Nähe der Kautskys. An Robert und Mathilde Seidel schrieb sie 1899, dass sie “so viel neuen Stoff zu verarbeiten habe, dass sie jede Stunde mehr wuchs als in Zürich in den alten, ruhigen Verhältnissen in einem Jahr”.
Einerseits war sie menschenscheu und suchte die Zurückgezogenheit, andererseits drängte es sie, unter Menschen zu sein und diese für ihre Ideen mitzureissen. In ihren Erinnerungen hielt Luise Kautsky fest: “Das war’s, was sie vor allem auszeichnete, was ihrem Dasein solchen Schwung verlieh, bei der Arbeit wie beim Geniessen, im Lieben wie im Hassen war sie stets von der gleichen Glut beseelt, lautete doch einer ihrer Lieblingssprüche: Man soll sein wie eine Kerze, die an beiden Enden brennt’.” Und Luise Kautsky schloss: “Sie war eine Zauberin in der Kunst, Menschen zu gewinnen, natürlich nur dort, wo sie es darauf anlegte.”
Diese Kunst, Menschen zu gewinnen, war ihr von grossem Nutzen während der langen Gefängnisjahre. Sowohl in Wronke wie in Breslaus wird es ihr gelingen, Gefängniswärterinnen und Aufsichtsbeamte für sich einzunehmen, die ihr zum Beispiel Korrespondenz oder Besuche in einem grosszügigeren Rahmen zugestanden, als es üblich und gestattet war.
Nur den einen Menschen, um den es ihr vor allem ging, Leo Jogiches, meinte sie nicht in dem Mass für sich einnehmen zu können, wie sie es sich erträumte. Er blieb in Zürich, als sie im Mai 1898 nach Berlin zog, und ihre überschwenglichen Briefe beantwortete er mit trockenen politischen Überlegungen. Im Juni, nachdem sie gerade einen Monat in Deutschland war, wurde sie in die oberschlesischen Industriebezirke geschickt, “an der Grenze zwischen der Zivilisation und der Barbarei”, wie sie den Kautskys schrieb, und wo sie vor polnischen Arbeitern über Ausbeutung und über sozialdemokratische Parteiprogramme sprach. Ihren Erfolg schilderte sie Jogiches in begeisterten Tönen.
Überhaupt erlebte Rosa Luxemburg damals Erfolg über Erfolg. Im Juli publizierte sie ihre Dissertation und wurde Mitarbeiterin an der “Sächsischen Arbeiterzeitung”. Im September des gleichen Jahres veröffentlichte sie eine Reihe von Artikeln gegen Bernsteins Revisionismus in Kautskys “Neue Zeit”, das heisst gegen Bernsteins Behauptung, die kommunistische Bewegung sei als Bewegung schon das Ziel des Marxismus. Mit einem Schlag wurde die gesamte SPD-Parteispitze auf Rosa Luxemburg aufmerksam. Fortan galt sie als bedeutende und beschlagene Marxistin. Noch im September wurde sie zur Chefredaktorin der “Sächsischen Arbeiterzeitung” ernannt, im Oktober nahm sie als Delegierte für zwei Oberschlesische Bezirke am SPD-Parteitag in Stuttgart teil – als eine der sechs Frauen unter 252 männlichen Delegierten, zugleich als eine der sechs Delegierten mit akademischem Titel und als polnische Jüdin, damit als Teil einer verschwindenden jüdischen Minderheit inmitten nicht-jüdischer, häufig anti-jüdisch gestimmter Kongressteilnehmer.
Der Antisemitismus schuf sich in Deutschland seit 1880 immer mehr Boden. 1893 sassen im Reichstag schon 16 Abgeordnete aus antisemitischen Parteien. Doch Rosa Luxemburg liess darüber in ihren Briefen nichts verlauten, als hätte sie sich gescheut, Zeichen besonderer Empfindlichkeit zu geben. Allerdings hielt sie Jogiches gegenüber immer wieder fest, dass sie sich “allem und allen gegenüber fremd fühle”. Ihre Herkunft konnte sie zwar nicht verleugnen, doch ihrem deutschen Freundeskreis gegenüber verschönerte sie sie, wie Luise Kautsky in ihren Erinnerungen festhält. Von ihrem Vater Eliasch, zum Beispiel, der als kleiner Händler seine Familie recht und schlecht durchbringen konnte, der bei seinen Geschäften Jiddisch sprach, erzählte sie, er habe Eduard geheissen und sei ein aufgeklärter, für fortschrittliche Bildung interessierte Vorkämpfer sozialer Reformen gewesen.
Die tatsächlichen Beziehungen zu ihrer Familie reduzierte sie auf das schmerzlichste Minimum. Als ihre Mutter im April 1897 an Magenkrebs erkrankte und Rosa über die ältere Schwester Anna wissen liess, wie sehr sie sich danach sehnte, ihr jüngstes Kind zu sehen, antwortete Rosa mit Ausreden, versprach immer wieder zu kommen und fuhr doch nicht. Als Lina Luksenburg am 30.September 1897 starb, befand sich Rosa für eine Ferienwoche in Weggis am Vierwaldstättersee. Auf den Tag genau zwei Jahre später, am 30. September 1900, starb auch ihr Vater. Rosa Luxemburg hielt sich damals am Kongress der Internationale in Paris auf und “kümmerte sich”, wie sie in einem Brief festhielt, “um die dringenden Sorgen der ganzen Menschheit”. Ein Jahr zuvor hatte sie im Spätsommer mit Eliasch Luksenburg zwei Wochen in einer Badekur zugebracht, wobei sie sich ihrer ganzen Ablehnung und Fremdheit bewusst wurde. An Jogiches schrieb sie, wie unangenehm es ihr war, mit dem gebeugten, schlurfenden alten Mann, den die Leute anstarrten, einen Spaziergang zu machen. Trotzdem, als sie nach dem Tod des Vaters die – zum Teil unbeantworteten – Briefe ihrer Eltern vor sich hatte, wurde sie – diesmal – von Schuldgefühlen und Schmerz überwältigt, wie sie in einem Brief an Jogiches festhielt. Vermutlich spürte sie, dass das, was ihre Eltern als Lieblosigkeit empfunden haben mussten, zugleich ihr eigenes, innerstes Leiden war.
Rosa Luxemburg dehnte ihre politische Aktivität immer mehr aus. Ihr Leben war überaus hektisch. Sie hielt Vorträge und Reden in den grenznahen polnischen Industriebezirken, reiste von Ort zu Ort, diskutierte bis in die Morgenstunden mit Arbeitern, schrieb Beiträge in die verschiedenen Parteizeitungen, nahm an parteiinternen Debatten teil, dazwischen richtete sie an der Cranachstrasse 58 in Berlin eine Zwei-Zimmer -(oder besser: Zwei-Studio-)Wohnung mit Küche und Dienstmädchen für sich und Jogiches ein. Was sie sich während Jahren erträumt hatte, ein bürgerliches Glück, versuchte sie nun zu verwirklichen. Nur, für Leo Jogiches, der zwar Rosa Luxemburg finanziell seit Jahren aus seinem väterlichen Vermögen unterstützte, war dieses “bürgerliche Glück” nur beengend. Er engagierte sich ganz für die polnische Sache, legte sich das Pseudonym Jan Tyszka zu und organisierte in der Illegalität ein ganzes Parteinetz. Während er im Verborgenen arbeitete, stand Rosa Luxemburg im Rampenlicht. 1904 nahm sie als Abgeordnete der Deutschen u n d der Polnischen Sozialdemokratischen Partei am Kongress der II.Internationale in Amsterdam teil. An diesem Kongress wurde ihr seit sechs Jahren währender Kampf gegen den Bernstein’schen Revisionismus zu ihren Gunsten entschieden – ein grosser Erfolg.
Kaum war sie vom Amsterdamer Kongress zurück, musste sie eine dreimonatige Gefängnisstrafe in Berlin-Zwickau antreten. Zugezogen hatte sie sich diese erste Einkerkerung wegen “Majestätsbeleidigung”, das heisst, weil sie von Kaiser Wilhelm II gesagt hatte, “dieser Mann, der von der guten und gesicherten Existenz der deutschen Arbeiter spreche, hat keine Ahnung von den Tatsachen” . Trotz ihres Protests wurde sie nach zwei Monaten amnestiert, zur Erinnerung an die Krönung Alberts von Sachsen. Die Zeit in der Zwickauer Zelle benutzte sie zum Lesen (zum Beispiel die “Divina Commedia”) und zum Nachdenken und Briefeschreiben. In einem Brief an Leo Jogiches hielt sie fest: “…sobald der Mensch sich im Leben einmal recht arm vorkommt, soll er sich hinsetzen und ein ‘Inventar’ seiner irdischen Güter aufnehmen, alsdann wird er erst entdecken, wie reich er ist.” (am 23. Septemebr 1904).
Unklar ist, warum Rosa Luxemburg nicht sofort nach Ausbruch des Massenstreiks in Baku im Dezember 1904 und den im Januar 1905 folgenden Ereignissen in St.Petersburg nach Russland eilte. Vielleicht weil schon wenig später, ebenfalls im Januar 1905, auch 200’000 Ruhrarbeiter die Arbeit niederlegten, und weil sie hoffte, der Funke der Arbeiterbefreiung würde auf ganz Europa übergreifen. Dazu kam es nicht. Die Demonstration in Petersburg, eine von einem Priester namens Gapon angeführte friedliche Demonstration von Frauen, Kindern und hungernden Arbeitern, die den Zaren um Hilfe gegen Arbeitslosigkeit und Ausbeutung bitten wollten, endete in einem furchtbaren Blutbad. Für Jogiches gab es kein weiteres Verweilen in Berlin mehr. Anfang Februar 1905 zog er nach Krakau (im österreichisch-besetzten Polen), wo er für das russisch besetzte Polen eine neue Zeitung herausgeben wollte. Rosa Luxmburg schrieb in diesem Jahr etwa 90 Artikel, nahm am Jahreskongress der SPD in Jena teil und wurde Redaktionsmitglied im “Vorwärts”, dem damals wichtigsten Organ der SPD. Für den “Vorwärts” übernahm sie von November 1905 an die Berichterstattung über die russischen Ereignisse, musste aber nach knapp einem Monat diese Zeitungsarbeit niederlegen. Zunehmend erfuhr sie nicht nur Anerkennung, sondern auch Anfeindungen. Sie äusserste sich aufs entschiedenste gegen Lenin und dessen Organisationsprinzipien, die letztlich den Kern seiner Politik betrafen, einen antifreiheitlichen Kern. Für sie galt, wie sie an Otto Hue schrieb, dass “die freie und offene Kritik, der lebhafte Meinungsaustausch, das rege geistige Leben geradezu die Existenzbedingungen, die Lebensluft für die moderne Arbeiterbewegung sind, sowohl für ihren ökonomischen wie für ihren politischen Teil.”
Dies war Rosa Luxemburgs Linie, die sie, eigentlich nur von Leo Jogiches unterstützt, gegen alle anderen Bestrebungen und Entwicklungen verteidigte. Noch 1918 wird sie in einem der sogenannten “Spartakusbriefe” aus dem Breslauer Gefängnis schreiben: Es ist “eine offenkundige, unbestreitbare Tatsache, dass ohne freie ungehemmte Presse, ohne ungehindertes Vereins- und Versammlungsleben gerade die Herrschaft breiter Volksmassen undenkbar ist… Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des Andersdenkenden… Das öffentliche Leben der Staaten mit beschränkter Freiheit ist eben deshalb so dürftig, so armselig, so schematisch, so unfruchtbar, weil es sich durch Ausschliessung der Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts absperrt…Der einzige Weg zur Wiedergeburt ist die Schule des öffentlichen Lebens selbst, uneingeschränkteste, breiteste Demokratie, öffentliche Meinung.” Der Marxismus, für den Rosa Luxemburg kämpfte, war nicht der Bolschewismus, den Lenin und Stalin verwirklichten. Ihr ging es um die Schulung der Arbeitermassen zur Freiheit. Dem Missbrauch der Arbeitermassen zu Machtzwecken suchte sie mit allen Mitteln entgegenzuwirken.
Gegen Ende November 1905 zog Leo Jogiches als Otto Engelmann nach Warschau, wo ihn seine engsten Parteifreunde – einige von ihnen mit ihm verbunden seit der Zürcher Zeit – (Dzierzynski, Warszawski und Marchlewski) schon erwarteten, bespitzelt von der russischen Polizei, die den Auftrag hatte, jede Aufwiegelung der polnischen Arbeiter zum Aufstand, zur Revolution zu verhindern. Ende Dezember 1905 folgte Rosa Luxemburg unter dem Namen Anna Matschke nach Warschau nach.
Es folgten zwei Monate unermüdlicher illegaler Arbeit, ständig unter dem Druck der Angst, verhaftet zu werden. An die Kautskys schrieb sie (am 5. Februar 1906) von “ungeheuren Schwierigkeiten mit den Druckereien, von täglichen Verhaftungen, von der Bedrohung der Festgenommen mit Deportation nach Sibirien oder mit Erschiessen”. So wurde der alte Kampfgefährte Kasprzak auf dem Schaffott hingerichtet. Rosa schrieb aber auch voll Bewunderung vom “Klasengefühl der Massen, das ich den Deutschen gern zeigen möchte: Die Arbeiter treffen allenthalben von selbst solche Arrangements, dass zum Beispiel die Beschäftigten ständig einen Taglohn pro Woche für die Arbeitslosen abgeben.”
Am 4. März 1906, ein Tag nach Rosas 36. Geburtstag, brach die zaristische Polizei in Rosas Luxemburg alias Anna Matschkes Hotelzimmer ein, beschlagnahmte eine Menge illegaler Schriften und verhaftete sie. Wenig später wurde auch Leo Jogiches alias Otto Engelmann verhaftet. Nach langen Polizeiverhören wurden sie schliesslich in die völlig überfüllte Warschauer Zitadelle gebracht, wo Rosa Luxemburg mit 15 weiteren Häftlingen in eine Einzelzelle gepfercht wurde. Dank der Bemühungen ihrer Parteifreunde und ihrer Geschwister und dank eines Arztzeugnis, das ihr schwere gesundheitliche Schäden attestierte, kam sie schliesslich im Juni frei und verliess Warschau Ende Juli.
Nach einem kurzen Aufenthalt in St. Petersburg begab sich Rosa Luxemburg für den Rest des Sommers und Frühherbstes nach Kuokkala in Finnland, führte dort lange Gespräche mit Lenin, verfasst ihre Streitschrift “Massenstreik, Partei und Gewerkschaften” und bereitete sie sich darauf vor, nach Deutschland zurückzukehren, wo sie Anfang September eintraf.
Leo Jogiches wurde im Januar 1907 durch ein Militärgericht zu acht Jahren Straflager verurteilt. Mitte März gelang ihm die Flucht aus dem Gefängnis, einen Monat später traf auch er in Berlin ein.
Rosa hatte sich in der Zwischenzeit in den 22jährigen Costia Zetkin, den Sohn Clara Zetkins, verliebt. Im Verhältnis mit Jogiches folgten schwierige Monate und Jahre, da sie einerseits getrennte private Leben führten, zugleich aber aus langer Geschichte und Zusammengehörigkeit verbunden blieben und sich in Hinsicht auf die gemeinsame politische Linie gegenseitig auch stützten.
Kurz nach Jogiches Rückkehr nach Berlin besuchten sie gemeinsam den 5. Kongress der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in London. An diesem Kongress äusserte Rosa Luxemburg umissverständlich ihre Auffassung von Marxismus, die sich von derjenigen von Lenin oder von Kautsky deutlich abgrenzte. Während für Kautsky die Hebung des materiellen Wohlergehens der Arbeiterschaft im Vordergrund stand, und während Lenin die Diktatur des Proletariats anstrebte, verstand Rosa Luxemburg unter Marxismus nicht ein Dogma, sondern einerseits eine wissenschaftliche Methode, um eine sich ständig verändernde Realität zu untersuchen, andererseits ein moralisches System, das, gestützt auf den Willen der Arbeiterklasse, das Verhältnis der Gesellschaftsklassen untereinander im Sinn eines zunehmenden Humanismus und im Sinn aktiver Freiheit für alle verändern sollte. Was mittels einer Revolution erreicht werden sollte, das heisst mittels einer spontanen Willensäusserung der Arbeiterschaft – die ungarische Revolution von 1956 oder die tschechische Revolution von 1968 hätte Rosa Luxemburg in diesem Sinn gewertet -, sollte nicht einer Nation zugute kommen, sondern der Menschheit überhaupt. Allen nationalistischen Zielsetzungen gegenüber setzte Rosa Luxemburg ein grosses Warnzeichen. Gegen alle ausgrenzenden Aussliesslichkeitsansprüch bestimmter – eben zum Beispiel nationaler Gruppierungen – , gegen Terror und gegen Machtkompromisse setzte sie die Vision einer friedlich zu verwirklichenden Gemeinsamkeit der Lebensinteressen.
Knappe zwei Wochen nach ihrer Rückehr nach Berlin musste sie erneut eine zweimonatige Gefängnisstrafe absitzen, die sie sich, wie es in der Anklage hiess, 1905 am SPD-Kongress in Jena wegen “Anstiftung zur Gewalt” verdient hatte.
Auf Empfehlung Karl Kautskys konnte sie im Winter 1907 eine Lehrstelle an der kürzlich zuvor gegründeten Parteischule übernehmen, als einzige Frau. Zum erstenmal hatte sie ein regelmässiges eigenes Einkommen. Sie unterrichtete Nationalökonomie, 250 Jahresstunden auf ein Jahresprogramm von 777 Stunden. Rosa Luxemburg begeisterte ihre Schülerinnen und Schüler. Eine von ihnen, Rosie Wolfstein, hielt in ihren Erinnerungen 1920 fest: “Wie sie uns zur Auseinandersetzung, zur Selbstverständigung mit den nationalökonomischen Fragen zwang? Durch Fragen! Durch Fragen und immer erneutes Fragen und Forschen holte sie aus der Klasse heraus, was nur an Erkenntnis über das, was es festzustellen gab, in ihr steckte.” Rosa selbst lernte unaufhörlich weiter, stiess 1911 bei ihrem Selbststudium auf eine Lücke in der Marx’schen Theorie und schrieb darauf ihr theoretisches Hauptwerk “Die Akkumulation des Kapitals”, ein 450 Seiten starkes Buch, das zu einem Klassiker werden sollte.
Aber grössere Sorgen als theoretische nahmen sie gefangen. Ihr ganzes Bemühen galt der Verhinderung des Weltkriegs, der eigentlich nicht mehr zu verhindern war. Sie nahm an internationalen pazifistischen Meetings teil, organisierte in Berlin eine Friedenskundgebung, an der 1000’000 Menschen teilnahmen. An der letzten sozialistischen Friedenstagung vor dem Krieg, in Brüssel, verneigte sich Jean Jaurès vor ihr. “Vous me permettez”, wandte er sich an die Teilnehmer und Teilnehmerinnen, “de saluer la femme vaillante Rosa Luxembour, qui fait passer dans le coeur du prolétariat allemand la flamme de sa pensée”.
Aber alles Bemühen war vergeblich. Die deutschen Sozialdemokraten waren zutiefst zerstritten, Rosa selbst hatte sich mit Karl Kautsky überworfen, schon 1910, wegen einer Meinungsverschiedenheit. Rosa war der Meinung, dass ein Kriegsausbruch vom Proletariat mit einer Revolution beantwortet würde, Kautsky aber, realistischer, sah voraus, dass ein Proletariat, das zu schwach war, einen Krieg zu verhindern, auch nicht mit einem Umsturz der Regierung auf einen Kriegsausbruh reagieren konnte. Und so war es. Bebel war schon ein Jahr zuvor gestorben. Für Rosa Luxemburg begingen die Sozialdemokraten den grossen Verrat: Philipp Scheidemann stimmte für die Bewilligung der Kriegskredite.
Im Februar 1914, bei Ausbruch des Kriegs, wurde Rosa wieder zu einem Jahr Gefägnis verurteilt, der Strafantritt jedoch verschoben, da sie sich ins Krankenhaus begeben musste. Doch am 18. Februar 1915 schlossen sich hinter ihr die Tore des Frauengefängnisses an der Barnimstrasse 10 in Berlin. Genau ein Jahr später wurde sie wieder entlassen; Ende Februar – Anfang März 1916 entstand ihre Junius-Broschüre, und am 10. Juli des gleichen Jahres wurde sie erneut verhaftet und in “Sicherheitshaft” gesteckt, nachdem Karl Liebknecht gleich nach den Maidemonstrationen gefasst und Clara Zetkin in ein Irrenhaus gesteckt worden war.
All diese Massnahmen kündeten schon überdeutlich die nationalsozialistischen Praktiken an. Rosa Luxemburgs schwarzes Haar wurde in der Zeit der “Sicherheitshaft” im Gefängnis an der Barnimstrasse 10, in der Festung Wronke und in Breslau weiss. Erschütternde Briefe an ihre Bekannte, an Freundinnen und Freunde geben Kunde von Ihrem Bemühen, zugleich menschlich offen, politisch aktiv und wissenschaftlich tätig zu sein. Nach langen Bemühungen ihrer Rechtsanwälte, denen Rosa aus dem Gefängnis alle Weisungen selbst erteilte, wurde die Magenkranke schliesslich am 9. November 1918 aus der Haft entlassen. Noch auf dem Breslauer Domplatz hielt sie ihre erste Rede, reiste dann weiter nach Berlin, wo am 14. Dezember das Programm des “Spartakus-Bundes” (nach dem Anführer des Sklavenaufstands gegen die Römer so genannt) beschlossen und am 8. Januar 1919 in der “Roten Fahne”veröffentlicht wurde. Die “Rote Fahne” bezeichnete Rosa Luxemburg als die einezige “wirkliche sozialistische Zeitung” in Berlin. Jede freie Minute verwendete sie auf deren Herausgabe. Trotz Papiermangels wollte sie eine Sonderbeilage für Soldaten und eine für Frauen einfügen, für die sie Clara Zetkin um Beiträge bat.
Der “Spartakus-Bund”, dessen Führung aus Rosa Luxemburg, Leo Jogiches und Karl Liebknecht bestand und dessen Mitglieder zumeist junge, idealistische Männer und Frauen waren, da die alten Sozaildemokraten weiterhin der SPD anhingen, war, wie sie selbst schrieb, “keine Partei, die über die Arbeitermassen oder durch die Arbeitermassen zur Herrschaft gelangen will”. Für Rosa Luxemburg ging es um die Verwirklichung des humanistisch geprägten sozialistischen Programms, das sie immer vertreten hatte, gegen Kompromisse (à la Kriegskredit-Zustimmung) und gegen Terror. Das hiess deutlich und unmissverständlich: gegen den anpasserischen Kurs der SPD und gegen den bolschewistischen Terror.
Für Leo Jogiches und sie waren diese Monate der politischen Reaktivierung, vor allem der gemeinsamen politischen Arbeit der eigentlliche Höhepunkt ihres Lebens. Alle Ängste und Animositäten, die sie voneinander getrennt hatten, waren vorüber. Was blieb, war die gegenseitige Sorge für einander und für das gemeinsame Projekt.
Die Arbeit daran war allerdings unvorstellbar schwierig. Antisemitische Hetze, Angriffe und Verleumdungen, Terror und persönliche Bedrohung gehörten zum Alltag. An Clara Zetkin schrieb sie vom täglichen Wohnugswechsel, von der stündlichen Gefahr, von Gehetztheit und Gejagtheit. Sie riet ihr, unter diesen Umständen nicht sofort nach Berlin zu kommen, sondern zu warten, bis sich – vielleicht in einer Woche – die Situation etwas beruhigt hätte.
Aber die Situation beruhigte sich nicht. In Berlin herrschte eine aufgehetzte Pogromstimmung. Am 15. Januar wurden Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Pieck, der politische Leiter der KPD von einem Rollkommando der Garde-Kavallerie verhaftet. Sie wurden ins Eden-Hotel gebracht, das voll rach-und mordsüchtiger Soldaten und Offiziere war. Pieck kam wieder frei, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden voneinander getrennt. Pieck berichtete in der Folge, wie ein Hauptmann den Soldaten Zigaretten verteilt und ihnen gesagt habe, die Bande dürfe das Hotel nicht lebend verlassen. Er bemerkte auch, wie ein Dienstmädchen sich einer Kollegin in die Arme warf und schluchzte, sie könne das nicht vergessen, wie die Frau niedergeschlagen und herumgeschleift worden sei.
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht müssen kurz hintereinander erschossen worden sein. Rosas Körper wurde auf bestialische Weise in den Landwehrkanal geworfen, aus dem er erst vier Monate später, am 31. Mai 1919, geborgen wurde.
Als Rosa Luxemburg am 13. Juni 1919 auf dem Friedhof Friedrichsfeld beigesetzt wurde, folgte dem Sarg eine unabsehbare Menschenmenge, Arbeiter, Matrosen, uniformtragende Soldaten, eine schweigende Demonstration der Trauer um diese ungewöhnliche, grosse Frau.
Leo Jogiches, der in zwei Artikeln in der “Roten Fahne” am 12. und 15. Februar für das Verbrechen an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht Sühne forderte, wurde ebenfalls verhaftet und in seiner Zelle am 10. März des gleichen Jahres meuchlings ermordet. Sein Mörder, ein Soldat namens Tamschick, wurde später in Anerkennung seines Verdienst zum Offizier befördert.
Die Mörder Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts wurden entweder nach kurzer Zeit amnestiert oder kamen etwas später, im Dritten Reich mit seiner Systematisierung von Gemeinheit und Menschenmord, zu Lohn und Ehren. Allein die unterste Charge, der Soldat Runge, sass zwei Jahre Gefängnis ab. 1933 ber wurde ihm auf Hitlers Geheiss eine Wiedergutmachung von 6000 Reichsmark entrichtet. Der Leutnant Liepmann, der zu sechs Wochen verschärften Stubenarrests, und der Oberleutnant Vogel, der zu zwei Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt worden waren, konnten mit falschen Pässen ins Ausland entkommen. Hauptmann Pabst wurde zum Major befördert und verzehrte seine Pension in der Schweiz.
Doch Paul Levi, ein Anwalt und Freund Rosa Luxemburgs, der sie schon in ihren früheren Prozessen verteidigt hatte und der nach der Ermordung von Rosa, Karl Liebknecht und Leo Jogiches die Leitung des Spartakusbundes übernahm, rollte 1928, vor Ablauf der Verjährungsfrist, den Prozess gegen die Mörder nochmals auf, mit einer erschütternden Anklage, die Carl von Ossietzki als die “gewaltigste Rede in einem deutschen Gericht seit Ferdinand von Lassalle” bezeichnete. Der Richter des Kriegsgerichts, Paul Jorns, der in der Zwischenzeit zum Generalstaatsanwalt am Höchsten Gericht der Weimarer Republik avanciert war, wurde als schuldig der Beweisunterdrückung und Begünstigung befunden. Albert Einstein schrieb an Paul Levi voll Anerkennung, dass dieser, allein und ohne weitere Unterstützung ausser seines Scharfsinnes und seiner Liebe zur Gerechtigkeit, als “einer der besten unter uns Juden”, den Schmutz weggeräumt und etwas von der biblischen Gerechtigkeit wiederhergestellt habe. Paul Levi allerdings wurde von den nationalistischen und antisemitischen Kräften aufs heftigste angegriffen. Er erkrankte an einem heimtückischen Fieber und nahm sich 1930 das Leben. In den Schlagzeilen der Sensationsblätter wurde der “Selbstmord eines Landesverräters” grell bekanntgemacht.
Unter Hitler wurde auch die “Schmach” an Paul Jorns, “wiedergutgemacht”, indem dieser zum Reichgerichtsrat ernannt wurde.
Die Ereignisse um Rosa Luxemburgs Ermordung wurden immer wieder übertüncht. Noch 1958, im Zusammenhang mit einer Neuausgabe ihrer Briefe, hiess es im beigefügten Lebenslauf, sie sei “standrechtlich” erschossen worden. Diese Verfälschung der Tatsachen ist ein Beispiel für den Hohn, mit dem die Wahrheit – der zynische, brutale Mord – verharmlost wurde. Ein Zeichen auch für die verhängnisvolle Leichtgläubigkeit, mit der jedes noch so verwerfliche Handeln in Uniform mit einem Schein der Rechtmässigkeit umgeben wird.
Worin besteht das – einzigartige – Verdienst Rosa Luxemburgs? Im kompromisslosen Bestreben, den humanistischen Kern von Marx’s Lehre mit dem mosaischen Gebot der Gerechtigkeit zu verbinden, unermüdlich, ohne Schonung ihrer Kräfte, im Glauben an das unteilbare Anrecht aller Menschen auf “das ganze Leben”, auf Freiheit und auf Glück.