“Der Widerspruch ist unser Elend, und das Gefühl unseres Elends ist das Gefühl der Realität” – Simone Weil (3. Februar 1909 – 22.August 1943)

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“Der Widerspruch ist unser Elend, und das Gefühl unseres Elends ist das Gefühl der Realität”

(Aus Bd.III der “Cahiers”)

 

Simone Weil  (3. Februar 1909 – 22.August 1943)

 

Meine Auseinandersetzung mit Simone Weil begann, als ich gerade die Mittelschule beendigt hatte. Bis heute ist sie nicht abgeschlossen. Meine Schwester hatte mir damals für die Rückfahrt von Paris in die Schweiz ein kleines Buch mit aphorismenartigen Texten in die Hand gedrückt, das unter dem Titel “La pesanteur et la grâce” (Schwerkraft und Gnade) kurz nach dem Krieg durch den katholischen Laientheologen Gustave Thibon herausgegeben worden war. Was ich las, wühlte mich auf – die kanpp formulierten Gedanken über das Unglück, über die Leere, über Notwendigkeit, Entwurzelung und Einwurzelung, über Entschöpfung, über die Gottesliebe – nichts aber so sehr wie die Ausführungen über das jüdische Volk und über das Judentum. Das war hasserfüllt, das war blasphemisch. Ich war entsetzt. Zugleich liess mir das Geheimnis dieser Frau und Denkerin keine Ruhe mehr.

Ich las alles, was von Simone Weil überhaupt erschienen war. Mit der Zeit merkte ich, mit welch tendenziöser Willkür Gustave Thibon Auszüge aus den Arbeitsheften, die sie ihm vor ihrer Emigration in die USA anvertraut hatte, thematisch “geordnet” hatte. Eine der Folgen dieser – zumindest merkwürdigen – Veröffentlichung war, dass Simone Weil während langer Zeit beinah ausschliesslich von mehr oder weniger schwärmerischen christlichen Kreisen vereinnahmt wurde. Es verwundert nicht, dass Denker wie Martin Buber oder Emmanuel Lévinas sie befremdet – oder verletzt -,  auf jeden Fall verständnislos ablehnten.

Andere jüdische Interpreten dagegen, etwa Wladimir Rabi, sind sich jedoch einig, dass Simone Weils Werk nur verstehen kann, wer sich ihrer familiären, offenkundigen und zugleich so schmerzlich geleugneten Prägung bewusst ist. Ich bin überzeugt, dass dieser Widerspruch zum grossen Teil alles Selbstverletzende von Simone Weils Leben erklärt – ihr Unglück, ihre Einsamkeit, ihr Scheitern und ihren Tod -, dass er aber ebenso die Quelle ihres mystischen, ihres philosophischen und ihres revolutionären Werks ist.

Diesem zugleich kreativen und nagenden, letztlich verhängnisvollen Widerspruch gilt es nachzugehen.

 

Ein Leben zwischen Assimilation

Simone Weil kam am 3. Februar 1909 in Paris zur Welt. Ihre Eltern wohnten damals am Boulevard de Strasbourg, Nummer 19, später, bis zum Jahr 1929, am Boulevard Saint Michel, Nummer 37. Ihr Vater, Bernard Weil, war Arzt, zur Zeit vom Simone Geburt 37 Jahre alt, aus Strasbourg gebürtig und aus einer Familie, die seit langer Zeit im Elsass ansässig war. Bernard Weils Vater, Abraham Weil, hatte nach dem Tod seiner ersten Frau ein zweites Mal geheiratet – die Schwester der ersten Frau – und hatte aus den zwei Ehen eine ganze Schar Kinder. Seine Mutter, also Simone Weils Grossmutter väterlicherseits, Eugénie Weil, wurde 93 Jahre alt, eine das ganze Leben lang sehr gläubige und sehr gesunde Frau, die auch noch im hohen Alter ihren Haushalt selbständig führte und jedes Jahr nach Montmorency in die Sommerfrische fuhr. Anlässlich ihrer wöchentlichen Besuche im Hause ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter inspizierte sie regelmässig die Küche, um sicher zu sein, dass genau regelkonform gekocht wurde.  Auch soll sie gesagt haben, sie würde ihre Enkelin lieber tot sehen als mit einem Goj – einem Nichtjuden – verheiratet.

Bernard Weil, im Gegensatz zu seinen Eltern, war überzeugter Atheist und Anarchist, dies letzteres wenigsten in jungen Jahren, gleichzeitig war er, allen Zeugnissen zufolge, ein überaus freundlicher, stiller, hilfsbereiter und sanfter Mann.

Simone Weils Mutter, Selma (oder Salomea) – beide Namen hasste sie – war 1879 in Rostov am Don zur Welt gekommen. Ihr Vater, Adolphe Reinherz, stammte aus Galizien, die Mutter, Hermine Sternberg, aus Wien. Zwölf Jahre lang, bis 1882, hatten Simone Weils Grosseltern in Russland gelebt, mit dreizehn Dienstboten und fast täglich grossen Einladungen und Festen. Doch auch nachdem sie sich in Antwerpen niedergelassen hatten, erwarb sich Adolphe Reinherz schnell Reichtum und grosses Ansehen, sodass er samt seiner Familie  mit der belgischen Staatsbürgerschaft geehrt wurde (il fut honoré de la “grande naturalisation belge”). Das Ansehen, das die Familie genoss, hatte nicht nur mit dem Reichtum zu tun, sondern vor allem mit der Kultiviertheit all ihrer Mitglieder. Adolphe Reinherz war ein grosser Sammler hebräischer Bücher und verfasste – scheinbar sehr eindrückliche – hebräische Gedichte. Hermine Reinherz, also Simone Weils Grossmutter mütterlicherseits, kam aus einer Musiker- und Musikerinnenfamilie und spielte selbst hervorragend Klavier. (Die damals berühmte Pianistin Denise Sternberg war ihre Nichte). Selma Weil, also Simones Mutter, hatte eine Gesangsausbildung gemacht und wäre gerne Ärztin geworden, was in ihrer Generation jedoch noch als unschicklich galt; sie konnte weder das Gymnasium besuchen noch studieren. Auch alle ihre Geschwister, die zum Teil in Frankreich lebten, zum Teil jung starben, waren sehr begabt, in musikalischen wie in anderen Belangen. Die Familie Reinherz fühlte sich wohl jüdisch, jedoch in sehr weltoffener und liberaler Weise, befolgte die Gesetze nicht und feierte auch kaum die Feste. Die Grossmutter lebte nach dem Tod ihres Mannes bei den Weils.

Simone Weils familiärer Hintergrund war eindeutig das grossbürgerliche, gebildete, emanzipierte Milieu, in dem eine weltoffene, tolerante, humanistische Haltung, aber auch Privilegien wie Ferienaufenthalte am Meer und in den Bergen, selbstverständlich waren und wie es vor dem Ersten Weltkrieg und noch in der Zwischenkriegszeit überall in Europa anzutreffen war.

Der stärkste Einfluss aber, der sich auf Simone auswirkte, war ihr zweieinhalb Jahre älterer Bruder André. Er war der enge Spielgefährte ihrer Kindheit, ihr Ansporn, ihr Vorbild, ihr Masstab in intellektueller Hinsicht noch während ihrer ganzen Jugendzeit. Er war, nach übereinstimmender Meinung aller, die ihn kannten, genial begabt. Noch nicht acht Jahre alt, entdeckte er anlässlich eines Besuchs bei Verwandten ein Geometrielehrbuch. Da ihn Besuche und alle gesellschaftlichen Anlässe langweilten, zog er sich damit zurück, vertiefte sich darin und in kürzester Zeit war er fähig, die schwierigsten Aufgaben zu lösen. Mit vierzehn Jahren machte er das Baccalauréat, studierte an der wissenschaftlichen Abteilung der Ecole Normale supérieure in Paris, einer der berühmten Hautes Ecoles, Mathematik und wurde in der Tat ein berühmter Mathematiker. In den fünfziger Jahren lehrte er einige Zeit auch an der ETH in Zürich.

Als Simone vier Jahre alt war, lehrte André sie in aller Heimlichkeit lesen. Es sollte eine Überraschung für die Eltern sein. Der grosse europäische Krieg, den man später den Ersten Weltkrieg nannte, war in seinem ersten Jahr. Bernard Weil war als Truppenarzt eingezogen, und Selma Weil und die Kinder folgeten ihm quer durch Frankreich, wo immer er stationiert war. Zu Neujahr, als er Urlaub hatte, las ihm Simone die Zeitung vor, zu aller Staunen und Vergnügen. Doch André lehrte sie nicht nur lesen, führte sie nicht nur in die griechischen Götterhierarchien und in die römische Geschichte ein, er lehrte sie nicht nur die Dialoge ganzer Passagen aus französischen Dramen mit ihm auswenig rezitieren, sondern er machte mit ihr auch – von den Eltern verbotene – Streifzüge durchs Land und durch die Berge, wenn sie ferienhalber dort weilten, oder sie erlaubten sich zusammen alle möglichen Streiche. Im Sommer 1914, zum Beispiel, als die Familie in Carolles Ferien machte, spielten die beiden Kinder Bettlerkinder. Sie gingen von Haus zu Haus, läuteten an der Türe, streckten die Hand aus und baten um eine Gabe, da sie Hunger hätten und die Eltern ihnen nichts zu essen gäben. Begreiflich, dass sich die Eltern Weil über diesen Streich furchtbar ärgerten.

Während ihrer frühen Jahre war Simone Weil häufig krank, ein überempfindliches, hochbegabtes Kind (ausser in allen manuellen Bereichen, wo sie überaus linkisch war). Im Vergleich mit ihrem Bruder und mit dessen brillanter Intelligenz und Entwicklung kam sie sich jedoch immer ungenügend vor. Später hielt sie von sich fest, mit vierzehn Jahren sei sie “wegen der Mittelmässigkeit ihrer natürlichen Fähigkeiten in eine jener bodenlosen Verzweiflungen gefallen”. Sie habe nicht die äusseren Erfolge ihres Burders beneidet, aber sie habe bedauert, “keine Hoffnung zu haben, in jenes transzendente Reich vorzudringen, wo nur wirklich grosse Männer Zugang haben und wo die Wahrheit ihren Sitz hat. Ich wollte lieber sterben, als ohne Wahrheit leben.”

Ich denke, dass drei hauptsächliche Kindheitsprägungen hervorzuheben sind, die Simone Weils spätere Entwicklung sowohl in philosophischer und religiöser, in existentieller wie in sozialreformerischer Hinsicht beienflussen werde. Erstens:  Die starke Identifikation mit dem bewunderten Bruder schürte in ihr schon früh das Bedürfnis, wenn auch nicht mit der gleichen Leichtigkeit, so doch mit dem gleichen Ernst alle wichtigen Fragen ins Zentrum der Aufmerksamkeit  zu rücken und somit nicht ein “weibliches” Leben, nach damaligen Kriterien, sondern ein “männliches” Leben anzustreben. Dass ihr das  “Reich der Transzendenz” allein “grossen Männern” vorbehalten erschien, mag die Negation ihrer eigenen Weiblichkeit mitverursacht haben. Allein dadurch aber lässt sich ihre zunehmende Askese und Ablehnung aller körperlichen Bedürfnisse, die während des Londoner Exils schliesslich in die tödliche Anorexie – diese mit ärztlicher Kunst nicht mehr heilbare Hungerkrankheit  – mündete, nicht erklären.

Zweitens hat, scheint mir, der  zu jener Zeit gerade im gehobenen Bürgertum – auch in der Familie Weil – übliche Reinlichkeitswahn Simones Entwicklung stark beeinflusst. Es war die Zeit der Bakterienphobie. Die Kinder Weil wurden angehalten, sich ständig zu waschen, vor allem wenn sie fremden Menschen die Hand gegeben oder öffentlich benutzte Türklinken oder andere “schmutzige” Gegenstände benutzt hatten. Das führte dazu, dass Simone Weil einen “dégout” (als Kind sagte sie “dégoutation”) vor jeder Berührung entwickelte, ja sich nicht einmal mehr von ihrer Mutter umarmen lassen wollte. Gewiss trug auch diese Entwicklung  zur zunehmenden Selbstkontrolle und Selbstdisziplin bei, die äusserlich den Eindruck einer gewissen Härte schufen, die in keiner Weise mit ihrer warmen, mitempfindenden, freundschaftsfähigen inneren Natur übereinstimmte.

Drittens führten die Ereignisse des Ersten Weltkriegs – Simone Weil war fünf Jahre alt, als er begann – dazu bei, dass sie sehr früh ein soziales Gewissen entwickelte, das immer stärker und bestimmender wurde. Sie erkannte sehr früh, dass es Menschen gibt, die zu Opfern gemacht werden, und dass sie sich mit diesen Menschen und nicht mit jenen, die Macht ausübten  –  solidarisieren wollte. Später erkannte sie, dass Opfer nicht kontrollierbarer Gewalt und unzulässigen Machtmissbrauchs ein Mass an Demütigung erleiden, das ihnen die Kraft raubt, gegen den Missbrauch ihrer selbst aufzustehen, ob dies Soldaten seien, die als Kanonenfutter missbraucht werden, oder Arbeiter und Arbeiterinnen, die als Produktionsmittel, wie Maschinen, ausgebeutet werden, dass diese Menschen in erster Linie befähigt werden müssen, sich selbst als vollwertige, handlungsfähige Individuen zu erkennen. Später wird Simone Weil – auf Grund dieser schon in der Kindheit wahrgenommenen Tatsachen – erkennen, dass eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ein Erziehungs- und Bildungsproblem der Arbeiterschaft ist, dass eine Arbeiterkultur entstehen muss, die die Grundlage für ein veränderungsfähiges Selbstwertgefühl schafft, das über die individuellen Bedürfnisse hinaus zur Solidarisierung aller Unterdrückten führt. Doch damit haben wir vorgegriffen.

Auf jeden Fall wird deutlich, dass das Judentum Simone Weil nicht auf ersichtliche Weise prägte. Sie erlebte es als Teil familiärer Selbstverständlichkeit, die sie – quasi – unberührt liess. Mit der Zeit wurde sie jedoch zunehmend empfindlich und geriet, wie es mir vorkommt, in eine Art jüdische Defensive. Während ihrer Gymnasial- udn Studienzeit traten viele jüdische Intellektuelle, darunter einige ihrer Lehrerinnen, zum Katholizismus über. Zum Teil versuchten diese auch, die wenigen jüdischen Schülerinnen in dieser Hinsicht zu beeinflussen. Simone Weil, deren intensives Erkenntnisbedürfnis auch die Gottesfrage und mithin die Frage religiösen Lebens immer stärker einschloss, nahm schon während ihrer Schulzeit an Betrachtungs- und Dikussionszirkeln teil, die teilweise einen eigentlichen missionarischen Charakter hatten, doch sie beabsichtigte schon  damals in keiner Weise, die Religion zu wechseln, wie sie eines auf eine diesbezügliche Frage ihrer Eltern klar antwortete. Ich denke, dass die Gottesfrage für sie viel wichtiger war als die Religionsfrage. Allerdings zeigte sie während des Studiums eine Art Befangenheit, wenn die Rede zufällig auf ihre jüdische Herkunft kam. Simone Pétrement, ihre Freundin, Sudienkollegin und Biographin, von der die meisten, auch scheinbar unwichtigen Details von Simone Weils Entwicklung festgehalten wurden, erzählt, dass  eines Tages, als sie zusammen im Quartier Latin spazierten, eine Gruppe von Studenten eine Zeitung verkauften, die sie laut als “anti-métèque et anti-youpin” anpriesen. Simone Pétrement habe die Freundin gefragt, was das heisse, und Simone Weil soll rot geworden sein und ihr geantwortet haben, das sei ein Schimpfwort für die Juden. Auch in Frankreich nahm der immer schon latente und – wie allein die sogenannte “Dreyfus-Afffaire” beweist – schnell aktivierbare Antisemitismus und Rassismus (die Zeitung der Studenten war ja typischerweise zugleich antijüdisch und anti-mestizisch, das heisst gegen alle “Mischlinge”)  in den Zwanzigerjahren immer offenere und unverschämtere Formen an, bis er dann nach 1933, im Zug der Entwicklung im benachbarten Deutschland, in offene Hetze ausartete. Doch nicht dies, scheint mir, hat Simone Weils innere Haltung dem Judentum gegenüber beinflusst; ihrem Charakter entsprechend hätte genau diese Entwicklung der Diskriminierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe ihre aktive Solidarität wecken müssen. Es war eine viel geheimere und kompliziertere Leugnung, die parallel zur Leugnung ihrer Weiblichkeit ging: die Leugnung der jüdischen Tradition ihrer eigenen Spiritualität.

Beide – völlig verinnerlichten – Negationen müssen einen erschöpfungen Leidensdruck bewirkt haben. Sie setze diesem die Unerbittlichkeit ihrer Wahrheitssuche entgegen, die ihr Studium und ihr verzehrendes politisches und soziales Engagement prägte, auch ihren Weg mystischer Erfhrung. Gerade angesichts dieser Wahrheitssuche aber erscheint die Zurückweisung ihrer Geschlechtlichkeit und ihrer Jüdischkeit  als doppelt schwer  verständlich. Die Psychoanalyse lehnte sie als trügerischen Erkenntnisweg ab.

Doch verfolgen wir ihren Werdegang weiter:

Im Schuljahr 1923/24 – Simone Weil war fünfzehn Jahre alt und war im fünften Gymnasialjahr –  wechselte sie vom Lycée Fénelon ins Lycée Victor-Duruy, weil im ersteren der Philosophieunterricht sie nicht befriedigte und im zweiten Le Senne unterrichtete, ein berühmter Philosophieprofessor in der Linie Henri Bergsons. Eine Mitschülerin jener Zeit, Jacqueline Cazamiane, hielt in ihren Erinnerungen fest, dass der Philosophieunterricht über weite Strecken ein Dialog zwischen Le Senne und Simone Weil war, wobei Simone Weil dem berühmten Professor Paroli bot. Während dessen Hauptinteresse der Vermittlung eines breiten philosophischen Idealismus und der Psychologie galt, stand für Simone Weil die Soziologie, das heisst die Analyse der gesellschaftlichen Gegebenheiten, im Mittelpunkt. Schon während des Gymnasiums als sie täglich die “Humanité”, um sich über die Hintergründe der politischen Ereignisse auf dem Laufenden zu halten.

Aber nicht allein die Politik interessierte sie.

Gleichzeitig, wie sie in ihren Arbeitsheften festhielt, erwachte in dieser Zeit in ihr ein tiefes Bedürfnis nach Freundschaft. Sie schuf sich das Idealbild des “unbekannten Freundes” – “l’ami inconnu” -, dem sie irgendwann zu begegnen hoffte und dem sie vermutlich ihr ganzes kurzes Leben lang nie begegnete. Unter den Mitschülerinnen schuf sie sich allerdings einige wenige Freundinnen, etwa Suzanne Gauchon, die spätere Frau Raymond Arons, des bekannten politischen Denkers und Schriftstellers, die während Jahren, sicher bis 1934 – abgesehen von ihrem Bruder – ihre nächste Vertraute sein wird. Ebenso trat sie durch Suzannes Vermittlung in einen engen, über viele Jahre  fortgesetzten Gedankenaustausch mit Edwige Copeau, einer etwa älteren jüdischen Mitschülerin, die zum Katholizismus übertrat, dann 1930, mit einundzwanzig Jahren, in den Benediktinerinnenorden eintrat und 1934 nach Madagascar geschickt wurde. Simone Weil bewunderte ihren Mut, ihre menschliche Wärme und Gradheit zutiefst. Suzanne Aron hält in ihren Erinnerungen fest, dass Simone Weil damals ein überwältigendes Bedürfnis nach Freundschaft und Austausch hatte, dass ihr aber das Geheimnis zumeist verschlossen blieb, wie sie das, was sie brauchte, erhalten konnte. Zumeist sei sie einsam gewesen und ihre Einsamkeit habe sich zunehmend vertieft.

Simone Weil war sechzehn Jahre alt, als sie ihr Baccalauréat machte und beschloss, wie ihr Buder André an der Ecole normale supérieure zu studieren, jedoch nicht, wie er, sich auf Mathematik zu spezialisieren, sondern auf Philosophie.

Der berühmteste philosophische Lehrer jener Zeit  war Alain (mit bürgerlichem Namen Emile Chartier). Er übte auf seine Studenten und Studentinnen einen starken Einfluss aus, nicht als ein gewöhnlicher akademischer Lehrer, sondern als ein Denker, der immer von neuem von der umgebenden Realität aus ging, jedoch nie ohne genaue Prüfung all dessen, was an der Realität das Urteil trüben oder täuschen konnte. Den Zweifel betrachtete er als Ausdruck der Freiheit, als unumgängliches Element selbst derjenigen Weise des Erkennens, nämlich der Aufmerksamkeit, die als Weise der Wesensbetrachtung sich am ehesten der Wahrheit nähern konnte. Alain hatte kaum zusammenhängende Buchtexte veröffentlicht, sondern ungezählte Gedankensplitter und kurze Betrachtungen und Essays, die er “Propos” nannte. Er hielt auch seine Studentinnen und Studenten an, solche zu schreiben. Dank der Initiative zweier Ehemaliger seiner Studiengänge – Jeanne und Michel Alexandre – erschienen von 1927 an die sogenantnen “Libres Propos”, eine Art philosophischer und pazifistischer Zeitschrift, in der sowohl Alain selbst wie seine Studenten und Studentinnen ihre  Betrachtungen frei veröffentlichen konnten. Auch Simone Weil trug zu diesen Veröffentlichungen bei.

Die Studienzeit bei Alain war für sie eine überaus aktive und sogar glückliche Zeit. Sie war in eine kleine Freundesgruppe integriert, zu der auch Pierre Letellier gehörte, der Sohn Léon Letelliers, eines ungewöhnlichen Denkers und vorbildlichen Menschen. In Pierre Letellier war Simone Weil vermutlich auf scheue Art verliebt gewesen, ohne dass dieser selbst oder irgendwer es geahnt hätte. Allein Simone Pétrement gegenüber machte sie später einmal eine Andeutung. Für Simone Weil war entscheidend, dass in der Freundesgruppe die Forderung nach konsequenter Übereinstimmung von Denken und Lebenspraxis geteilt wurde, es wurde nächtelang diskutiert und niemanden störte ihr eigenwilliges Aussehen. Ständig trug sie in eine Art männliches Kostüm, einen weiten Rock und eine strenge, lange Jacke, immer im gleichen Schnitt, mit grossen Taschen, in denen sie die “Humanité”, die “Libres Propos” , weitere Zeitungen der Linken und Tabak mit sich trug, dazu war sie klein, linkisch und mager, sie hatte auffallende aufmerksame Augen, sprach mit lebhaften Gesten, aber mit  einschläfernd eintöniger Stimme und hatte ständig eine Zigarette im Mund, die sie sich selbst drehte. Simone de Beauvoir, die gleichzeitig an der Sorbonne studierte und Simone Weil kannte, hält in ihre “Mémoiren einer Tochter aus gutem Haus” fest: “Sie interessierte mich wegen des grossen Rufs der Gescheitheit, den sie genoss, und wegen ihrer bizarren Aufmachung.”  Scheinbar haben sie ein einzigesmal zusammen gesprochen, und Simone Weil muss Simone de Beauvoir als verwöhnte “Tochter aus gutem Haus” abgekanzelt haben. Simone de Beauvoir hält in den “Mémoiren” fest: “Eine grosse Hungersnot hatte China heimgesucht und man hatte mir erzählt, dass Simone Weil bei der Bekanntgabe dieser Nachricht in Schluchzen ausgebrochen sei. Diese Tränen zwangen mir mehr Achtung ab als ihre Begabung für Philosophie. Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen.” Simone Weil habe ihr erklärt, das einzige, was auf Erden zähle, sei eine Revolution, die allen Menschen zu essen geben würde. Simone de Beauvoir habe darauf eingewendet, dass es damit nicht getan sei, die Menschen müssten einen Sinn für ihre Existenz finden. Darauf habe Simone Weil sie angeschaut und lakonisch geantwortet: “Man sieht, dass Sie noch niemals Hunger gelitten haben.”

Die beiden berühmten Simone hatte grundlegend verschiedene Interessen. Die Geschlechterfrage, die Simone de Beauvoir zum Beispiel schon früh beschäftigte, war für Simone Weil ohne Bedeutung. Als die Gruppe um “Libres Propos”, zu der sie gehörte, sich zu einer “Groupe d’éducation sociale” zusammenschloss – einer Art Arbeiterbildungsorganisation – und sich verpflichtete, regelmässig Eisenbahnarbeitern in allen möglichen Fächern Abendunterricht zu  erteilen (André Weil, zum Beispiel, lehrte im Rahmen dieser Gruppe auch Mathematik), hätte Simone Weil auch über die Frauenfrage sprechen sollen, nachdem sie Gesellschaftskunde, Philosophie, griechische Poesie und anderes mit Begeisterung unterrichtet hatte. Über Frauenfragen zu sprechen, weigerte sie sich. Sie sei keine Feministin, erklärte sie kurz und bat Jeanne Alexandre, sie zu vertreten. Ähnlich wie Rosa Luxemburg erkannt sie nicht die doppelte Ausbeutung und Rechtlosigkeit der Frauen.

Nach dem Studium wurde sie in Le Puy, nicht weit des grossen Industriezentrums von St. Etienne, als Philosophielehrerin in einem Mädchengymnasium angestellt. Nach dem Vorbild Alains arbeitete sie ohne Lehrbücher. Sie las mit ihren Schülerinnen die Texte der grossen Philosophen und diskutierte ausführlich die Fragen, die sich dabei stellten. Im Mittelpunkt stand unter anderem die Frage der Wahrnehmung der Realität. Für Simone Weil war die Arbeit eine der untrüglichsten Vermittlungen der Realität, da alle Sinne, Verstand und Urteilskraft dabei gefordert sind. Für sie war die Frage der Würde der Arbeit – der manuellen Arbeit, der Landarbeit – zentral. Denn die Arbeit als Werk der Hände und des Geistes ist nicht allein Schlüssel zur Erkenntnis der Realität, sie ist auch Schlüssel zur Veränderung der Gesellschaft. Über die Arbeit entwickelte Simone Weil eine Theorie der Befreiung, die jedoch den marxistischen Ansatz in vielem korrigierte. Befreiung “geschieht” nicht mit historischer Notwendigkeit, sondern ist Resultat einer Umkehr, durch welche Arbeit wieder zum überschaubaren und verantwortlichen Mitschöpfertum wird und eine Redimensionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse erfolgt, dank der die Anonymität in der Vermassung aufgehoben wird und jedem Individuum, jedem Arbeiterund jeder Arbeiterin, wieder Würde und Verantwortung in der Gesellschaft zukommt.

Simone Weils Kritik setzt somit nicht an den Eigentumsverhältnissen bezüglich der Produktionsmittel an, sondern an den Produktionsverhältnissen, an der Struktur der Fabriken, die von den Arbeitern die totale Unter- und Einordnung verlangen, die völlige Entpersönlichung.

Diese Struktur zu verändern, war ein Bildungsproblem, das sah sie während ihrer Arbeit in Le Puy deutlich ein. “Die einzige subversive Kraft ist das Denken”, hielt sie fest. Sie gab sich nicht damit zufrieden, den Schülerinnen revolutionäre Ideen zu vermitteln, sondern sie nahm an Demonstrationen von Arbeitslosen ein, schrieb Petitionen für sie und hielt ihnen Lesungen in politischer Theorie und in griechischer Philosophie. Es kam zu einem öffentlichen Skandal. Sie wurde durch die lokale Presse der kommunistischen Aufwiegelung bezichtigt, musste Polizeiverhöre und peinliche Einvernahmen beim Rektor des Gymnasiums über sich ergehen lassen, erhielt eine Menge anonymer Drohbriefe, in denen sie, wie auch in einzelnen Zeitungn, als “die Jüdin Weill” (sic) angegriffen wurde, die mit ihrem schönen Lohn sich am Gymansium stillverhalten solle, statt Hass zu säen, der zu Blutvergiessen führen würde. Obwohl ihre Schülerinnen und ihre Kolleginnen und Kollegen am Gymnasium sich für sie einsetzten, wurde sie gefeuert. Ihre Kündigung empfand sie wie eine Auszeichnung. Sie plante ohnehin, die Stelle zu wechseln, vorher aber einige Zeit in Deutschland zu verbringen.

Die Sommer- und Herbstmonate 1932 verbrachte sie in Berlin. Sie logierte bei einer Arbeiterfamilie und befasste sich aus der Nähe mit dem Kräfteverhältnis der Parteien, mit den sozialen Bedingungen der Arbeiterschaft, die einen grossen Teil der acht Millionen zumeist hungernder Eerwerbslosen in Deutschland ausmachten, mit den Chancen und Schwächen einer Organisation der Arbeiter in den Gewerkschaften, in der KPD oder in der SPD, sodann mit dem zunehmenden Bedrohungspotential des Nationalsozialismus und den Gründen seines Erfolgs – kurz mit der wachsenden Lähmung der demokratischen Strukturen und dem fortschreitenden Elend der Bevölkerung. Die Lage war revolutionär, und trotzdem brach keine Revolution aus. Simone Weil fragte sich, warum dies so war.

Ihre Analysen, die sie noch im gleichen und im nächstfolgenden Jahr in zehn Beiträgen in “Ecole émancipée”, dem Organ der französischen Lehrergewerkschaft veröffentlichte, gehören zum Scharfsinnigsten, was kurz vor Hitlers Machtübernahme über die heillose Handlungsunfähigkeit der deutschen Sozialdemokratie und der deutschen Kommunisten, aber auch über das verhängnisvolle Verführungspotential des Nationalsozialismus geschrieben wurde. Ihre Analyse schloss auch den zur terroristischen Staatsbürokratie verkommenen Marxismus in der damaligen UdSSR ein. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, zu denen etwa Rosa Luxemburg gehörte, die eindringlich davor gewarnt hatte, war Simone Weil damit ihrer Zeit weit voraus.

Warum aber brach, Simone Weil zufolge, 1932/33 keine Revolution in Deutschland aus? Sie kam zum Schluss, dass von einem bestimmten Grad der Entwürdigung und abhängigkeit der Arbeiter an eine Revolution nicht mehr möglich ist, sondern nur noch die vollständige Unterwerfung der Menschen unter die entwürdigenden Bedingungen. Diese bestanden in erster Linie in der Instrumentalisierung der Arbeiter. Sie sah jedoch ein, dass die Vertauschung von Mitteln und Zwecken, bei der Menschen zu Mitteln zur Erreichung des einzigen Zwecks, der Steigerung der Produktivität, macht wurden, Teil und Ausdruck einer ganzen Herrschaftsstrategie war, die nichts mit den Eigentumsverhältnissen an den Produktionsmitteln zu tun hatte. Was sie schon in Le Puy angenommen hatte, bestätigte sich in Deutschland. “Alles reduziert sich auf die Frage der Macht”, fasste sie zusammen. Ob die wenigen Mächtigen, die die vielen Abhängigen unterwerfen, sich mit privatem Kapitalismus oder mit Staatskapitalismus Macht verschaffen, schien ihr keinen Unterschied auszumachen. So oder so besteht deren Interesse, neben der Gewinn- und Machtsteigerung, in der Verhinderung einer Kristallisation der unterworfenen Abhängigen. “Das Ohnmachtsgefühl aufrechtzuerhalten, ist der erste Paragraph einer geschickten Politik der Herren”, schrieb sie. Das Ohnmachtsgefühl aber wurde geschaffen aus der menschenverachtenden systematischen Umkehrung von Mitteln und Zwecken, durch die die Arbeit völlig entfremdet und der Mensch zum manipulierbaren Sklaven wurde. Allein in der unentfremdeten Arbeit aber kann der Mensch seine Existenz realisieren, einr Art “Urvertrag”  (le pacte origienl) zwischen Mensch und Natur, zwischen Seele und Körper, wie sie in ihren Arbeitsheften an mehreren Orten festhält.

Die Wiederherstellung dieses “Urvertrags” könnte die Grundlage einer “culture ouvrière” schaffen, die die Befreiung aus der versklavten Arbeiterexistenz, die Befreiung aus dem “Unglück” bedeuten würde. “La grandeut de l’homme”, schreibt sie im ersten Band der Arbeitshefte, “est de recréer sa vie. Recréer ce qui lui a été donné. Par le travail, il produit sa propre  existence naturelle. Par la science, il recrée l’univers au moyen de symboles. Par l’art, il recrée l’alliance entre son corps et l’âme”. So verstande Tätigkeit, die die notwendige Lebenserhaltung verbindet mit der Symbolhaftigkeit der Wissenschaft und mit dem Geistigen der Kunst ist für alle Menschen anzustreben, insbesondere für die Arbeiterinnen und Arbeiter, deren  menschliche Entwertung,  Demütigung, physische Erschöpfung und materielle Not nicht durch partielle Verbesserungen, sondern allein durch  ein neues Konzept der Arbeit und der Existenz aufzuheben war.

Nachdem Simone Weil aus Deutschland zurückgekehrt war und für kurze Zeit wieder ein Lehrstelle in Auxerre, dann in Roanne innegehabt hatte, immer unterbrochen von peinigenden Kopfschmerzen, nachdem sich auch ihre politische Tätigkeit immer stärker von den offiziellen Parteilinien, denen sie ja nie angehört hatte, entfernte und sich in einem stärkeren Engagement den anarchistischen und gewerkschaftlichen Bewegungen näherte, nachdem sie, wie schon in Le Puy, sich an die Spitze von Demonstrationen benachteiligter Landarbeiter und Arbeitsloser gestellt hatte, gab sie im Dezember 1934 ihr Lehrtätigkeit auf und nahm selbst als ungelernte Arbeiterin Fabrikarbeit an, bei Alsthom und bei Renault, sei es an grossen Werkzeugmaschinen, sei es am Fliessband.  Auf Grund einer genauen Kenntnis der Arbeitsbedinungen kam sie zum Schluss, dass die schon von Marx postulierte Verkürzung der Arbeitszeit und Verlängerung der Freizeit die Existenzbedinungen der Arbeiter und Arbeiterinnen nicht grundsätzlich ändern können, solange sich die Produktionsbedinungen, das heisst das System des Taylorismus, der aus Gründen der Produktionssteigerung fragmentierten, sinnlosen Arbeit, nicht ändern.  Sie fand auch die Befürchtungen bestätigt, die sie schon während ihres Deutschlandaufenthalts hatte, dass die Arbeiterschaft, sobald es ihr materiell ein wenig besser geht, sich entweder in die Machtspirale einschaltet oder den Hunger nach “Dingen” stillt, kurz, dass sie ihre Ketten nicht abzuwerfen sucht, sondern sie vergoldet. Andererseits liessen sie die Erfahrungen während der Fabrikarbeit auch zur Erkenntnis kommen, dass von einem bestimmten Grad der Erniedrigung und des Unglücks an die Menschen sich in einen inneren Rückzug retten und nicht mehr denken. Durch diesen Verzicht zu denken erklärte sie sich, zum Beispiel, die Tatsache, dass ein Grossteil der deutschen Arbeiterschaft sich durch die nationalsozialistische Verknüpfung von nationaler Frage und Arbeiterfrage täuschen liess, obwohl es ja klar war, dass durch Hitlers Allianz mit der Grossbourgeosie, durch die er das Dritte Reich erst zementieren konnte, die “Aufhebung der Arbeiterverbände und organisierte Blutbad” zu erwarten waren.

Während ihrer Fabrikarbeit jedoch erkannte Simoen Weil, wie schwer es war, in einem oppressiven System ein Bewusstsein der Freiheit und der Würde zu erhalten. Gedanken, die sie in ihrem “Fabriktagebuch” festhielt, wird sie ganz am Ende ihres Lebens in einem Buch ausführlich entwickeln, das sie im Auftrag der französischen Exilregierung in London schrieb und das als ihr geistiges Testament zu betrachten ist, in “L’Enracinement” (“Einwurzelung”). Hier wird sie die These entwickeln, dass die gleiche Bedürftigkeit aller Menschen die Grundlage ist für die gleiche gegenseitige Verbindlichkeit, diese Bedürfnisse zu erfüllen. Von gleichen Rechten zu sprechen ist erst möglich, wenn die gleiche Verpflichtung anerkannt ist, und diese Anerkennung wiederum folgt aus der gleichen Bedürftigkeit.

Zentral ist hier der Begriff der “obligation”, der Verpflichtung. “Obligation” bedeutet im Verhältnis von Mensch zu Mensch nicht anderes als Religion im Verhältnis des Menschen zur Transzendenz, zu Gott. Doch während Religion sich allein durch die Kraft der Aufmerksamkeit erfüllt, bedarf die “obligation” des denkenden  u n d  handelnden Menschen. Sie vollzieht sich allein in der Existenzweise der Verantwortlichkeit, auf identische Weise jedem Menschen gegenüber, im Respekt vor dem gleichen Verhältnis eines jeden Menschen zur Transzendenz  – der “destinée éternelle de chacun”, wie sie dieses Verhältnis bezeichnete, w i e  im Respekt vor den je gleichen existenzbedingten Grundbedürfnissen. Dieser Respekt macht die Herstellung gerechter Lebens- und Arbeitsverhältnisse notwendig: Wohnverhältnisse in überschaubaren Gemeinschaften, Arbeitsverhältnisse, in denen alle Arbeitsprozesse, von der Bearbeitung des Rohmaterials bis zur Fertigstellung des Produkts, in der Verantwortung der gleichen Arbeiter und Arbeiterinnen liegen, Aufwertung der Facharbeit und Handarbeit, Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten für alle, Arbeiteruniversitäten und andere grundsätzliche qualitative, geistige Aufwertungen der “condition ouvrière”, überhaupt der “condition humaine”.

Den zweck der kleineren und grösseren Gemeinschaften aber, selbst den Zweck des Staates, sah Simone Weil in der Verhinderung der Unterdrückung des einzelnen menschen. Daher war für dsie die ideale Staatsform eine Arbeiterdemokratie. Der Hauptauftrag an den Staat schloss insbesondere die Verhinderung von Kriegen ein. Denn Kriege, stellte sie fest, sind die gewalttätigste Ausübung von Macht, die gewalttätigste Zustpitzung eines Systems der Unterdrückung, der Menschenverachtung und Willkür. Es gibt keine Krieg, sagte Simone Weil, der nicht ein Krieg der Màchtigen gegen diejenigen Menschen ist, die ihn führen müssen und die in ihm getötet werden. Jeder Krieg ist weniger ein Ereignis zwischen Staaten als ein Ereignis im Inneren der menschlichen Gesellschaft. “Quand il y a oppression, ce n’est pas la nation qui est opprimée, c’est un homme, et un homme, et un homme”…  schreibt sie.

Simone Weils grösste Nähre zum Judentum zeigt sich, scheint mir, in dieser Ethik, in diesem Entwurf einer gerechten, unterdrückungsfreien Gesellschaft. Hier ist ihr Platz in einer langen Tradition, ob sie selbst dies anerkennt oder nicht, so wie auch Rosa Luxemburg ihren Platz in dieser Tradition nciht anerkannte. Über die andere Nähe, die mit ihrem unablässigen Erkenntnisbedürfnis in der Gottesfrage sowie im gott-menschlichen Verhäktnis zu tun hat, werde ich noch sprechen.

Was der Krieg bedeutet, wieviel unkontrollierbare Gewalt durch ihn freigesetzt und quasi-legitimiert wird, wurde ihr deutlich, als sie sich 1936 entschloss, sich einer internationalen Anarchistengruppe in Spanien anzuschliessen, der Kolonne Durruti, um auf Seiten der Republiker am Bürgerkrieg teilzunehmen. Ein Unfall beendete ihren Spanienaufenthalt zwar nach wenigen Wochen, doch sie hatte an der aragonesischen Front genug gesehen, um den Trug und die Lüge jedes sogenannt “gerechten” Kriegs zu durchschauen. Nach der Rückkehr nach Frankreich resite sie zu einem kurzen Erholungsaufenthalt nach Montana, wobei sie auf der Durvchreise auch Zürich und Einsiedeln besuchte. Dann machte sie eine längere Italienreise, unterrichtete in Saint-Quentin Philosophie und Griechisch, musste jedoch immer wieder krankheitshalber mit der Arbeit aussetzen, arbeitete auf andere Weise unablässig weiter, schrieb Auseiandersetzungen über den Marxismus und den Nationalsozialismus, über die Geschichte Rome, nahm aktiv an der Planung von Erziehungs- und Schulreformen teil, befasste sich immer wieder mit dem drohenden Krieg in Europa.

Kaum aushaltbare Kopfschmerzen quälten Simone Weil in all diesen Jahren. Während der Osterwoche 1938 verbrachte sie trotz dieser Kopfschmerzen eine Woche tiefster religiöser Erfahrung in der Benediktinerabtei von Solesmes, eine Erfahrung, die sich während einer weiteren Italienreise nach Padua und Venedig und später während einer Versenkung in das Pater noster-Gebet wiederholte.

Als der Krieg ausbrach, befand sie sich mit ihren Eltern in Paris. Auf Grund der rassistischen Gesetze wurde sie von jeder Lehrtätigkeit suspendiert. Dass Simone Weil damals dem zuständigen Unterrichtsminister schrieb, das Verbot könne sie nicht treffen, da sie Französin und nicht Jüdin sei, hat in der Folge viele erschüttert. Doch ist ihre Reaktion, scheint mir, weniger eine Absage an ihr Volk, als die Betonung ihres Anspruchs auf gleiche Rechte, wie alle Franzosen und Französinnen. Ihr Brief veränderte ohnehin nichts. Im Juni 1940 musste sie mit ihren Eltern Paris verlassen und ins unbesetzte Südfrankreich emigireren.

Die Zeit zwischen dem Exodus 1940 und ihrem Tod in London am 24. August 1943 ist ausgefüllt durch ruhelose Arbeit: praktiosche Hilfe für Mitflüchtlinge, Studium der indischen und chinesischen Philosophie, Lektüre von San Juan de la Cruz, einem spanischen Mystiker, der sie in ihren eigenen mystischen Erfahrungen, die mit Leiden und Ungglück verbunden waren, bestätigte, lange Auseinandersetzungen mit einem Dominikanermönch, Père Jean-Marie Perrin, der sie zum Übertritt in die katholische Kirche bewegen wollte, dem sie jedoch nach langem Zögern antwortete, dass sie ihre Zugehörigkeit zu Israel nich aufgeben wolle, dass sie einer Kirche nicht beitreten könne, die das “Anathema sit”, den Ausschluss ihr nicht genehmer Menschen praktiziere. Sie schrieb eine Fülle von Texten, die in den späteren Arbeitsheften und in vielen weiteren Bänden gesammelt sind. Während ihrer ganzen Auseinandersetzung mit der Frage nach der Erkenntis Gottes war sie einerseits ergriffen von der Jesusgestalt, zu der sie sich überaus hingezogen fühlte, andererseits entwicklete sie sie ein Gottesbild, das viel mit der kabbalistischen Lehre, wie sie bei Cordovero, bei Isaac Luria und bei Haim Vital zu finden ist. Es ist die Theorie vom Selbstrückzug und Selbstverzicht Gottes, dem Tsimtsum, durch den die Schöpfung zu erklären ist. Simone Weil entwickelte aus dieser Theorie die Folgerung, dass es dem Menschen auferlegt sei, durch Entwerden, “par la décréation” , das heisst durch Absage an äusserliches Glück, an Macht, durch Absage an die Sünde die Schöpfung zu vollenden. Auch hier findet sich bei den Kabbalisten eine Ensprechung, den “Tikun”, der das Mit-schöpfertum des Menschen bedeutet. Wladimit Rabi war einer der wenigen, der nach Erscheinen ihrer Arbeitshefte diese Verbindung herstellen konnt. Aller unverständlichen Äusserungen zum Trotz sei Simone Weil in einer “relation précise avec son peuple d’origine, une relation conflicuelle, qui a déterminé à la fois sa démarche singulière à l’égard de son peuple d’origine, et ses grandes thèses”. “Sie gehört zu uns” fügte er bei, zu uns im Schmerz und in der Qual, als ein letzter und genialer Ausdruck französischen Judentums”.

Im Juni setzte sie über Marokko nach New York über, zusammen mit ihren Eltern, die dort blieben. Ihr Bruder mit dessen Frau befand sich schon in den USA. Simone Weil aber drängte es, sich der französischen Exilregierung anzuschliessen. Im November 1942 gelang es ih, nach London weiterzureisen. Sie hoffte, mit einer schwierigen und gefährlichen Mission in der Heimat betraut zu werden, doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Es wurden ihr Schreibtischarbeiten zugewiesen. In dieser Zeit entstand “Einwurzelung”, das Buch, über das ich schon sprach, das sie selbst als “Prélude d’une déclaration des devoirs envers l’être humain” bezeichnete und von demAlbert Camus, der es 1948 herausgab, schrieb, “Europa könne nur wiedererstarken, wenn die von Simone Weil aufgestellten Forderungen ernstgenommen würden.”

Entbehrungen und Enttäuschungen schwächten ihren Lebenswillen dermassen, dass sie sich im April 1943 in Spitalpflege begeben musste. Während Wochen ass sie kaum mehr, als eine KZ-Portion war. Sie hungerte sich buchstäblich zu Tode. Wegen einer Lungentuberkulose wurde sie ins Sanatorium von Ashford in Kent gebracht, wo sie am 24. August 1943 starb.

Für mich ist Franz Kafkas Parabel “Der Hungerkünstler” eine gültige Parabel auch für Simone Weil. “Warum kannst du denn nicht anders” fragt der Aufseher den sterbenden Hungerkünstler, und dieser flüstert “gerade ins Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verlorenginge, “weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.”

Dieser Text in seiner Verschlüsselung scheint mir Schlüssel zur aufwühlenden Ungereimtheit dieses Lebens zu sein, welches in unersättlichem Wahrheitshunger alle Speisen kostete und als ungenügend verwarf. Es gab wohl eiune Speise, die Simone Weils Hunger nach “Einwurzelung”, wie sie letztes Buch nannte, hätte stillen können. Diese Speise, von der sie zu wenig und in falscher Dosierung und Auswahl gekostet hatte, vielleicht auch zur falschen Zeit und in Unkenntnis ihres Gehalts und die sie somit auch verworfen hatte, war ihr eigenes Judentum.

 

und das Manuskriebt der Ausstrahlung des Deutschlandfunks für  ‘Hintergrund Kultur – Existieren bedeutet handeln – Zum 50. Todestag von Simone Weil, Sendung von Ingeborg Breuer am 18. August 1993 21.35 – 22.00 Uhr:

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