Ist Gewalt als ultima ratio in religiöser Hinsicht zulässig? – Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010

Ist Gewalt als ultima ratio in religiöser Hinsicht zulässig?

Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010

Auftakt am 26. April 2001

 

Begrüssung

Das Zusammenleben der Menschen in der gemeinsamen Welt ist seit Jahrtausenden geprägt durch „Dunkelheit, Verwirrung und Täuschung“[1], wie Hannah Arendt in einem aufsatz festellt, all diese katastrophal sich immer wieder zuspitzende, destruktive Entwicklung des zeitlich gemeinsamen Menschseins, immer wieder veranlasst und geprägt durch Werte, die im Namen von Religionen als erstrebenswert oder als verteidigenswert und richtig gehalten wurden. Zwar wird behauptet, in der Religion gehe es um Liebe und um Befreiung von Gewalt, es gehe in der Hauptsache um Mitgefühl und um Gerechtigkeit für die Armen. Aber immer wieder wurde Gewalt angewendet, um Ziele und Zwecke kollektiver religiöser Identität zu schaffen, „göttlich legitimierte Gewalt“, wie es immer wieder hiess, deren Folgen verhängnisvoll waren und sich zumeist als neue Gewalt – als Rache, als Wiedergutmachungsforderung, als Gegenzug etc. – fortsetzte. Gewalt diente der Einschüchterung und Unterwerfung, der Bestrafung, Ausgrenzung oder gar Tötung von Menschen, die sich den Religionsbestimmungen nicht unterwarfen oder die einer anderen Religionsgemeinschaft angehörten resp.angehören, diente auch der Machtrealisierung von Religionen – wie auf erschütternde Weise die beiden Referate dargelegt haben.

  • Genügt dies, Frau Carmen Jud, um zu erklären, was Gewalt überhaupt bedeutet? Darf ich Sie bitten, uns Ihre Auffassung über Ursachen, Zweck und Folgen von Gewalt zu erläutern?

Mit dem Beginn einer zehnjährigen Frist, einer Dekade, die der Überwindung von Gewalt gewidmet ist, mag tatsächlich eine Veränderung des Bewusstseins über die Ursachen und Folgen von Gewalt einsetzen, insbesondere über die Mitverantwortung der christlichen Religionen – resp. der kirchlichen Institutionen -, besonders auch der von den Kirchen beeinflussten Medien, der einzelnen Repräsentanen kirchlicher und politischer Macht etc. – kurz, all derjenigen Kräfte, die in theoretischer oder in praktischer Weise Macht ausüben über ein grosses Kollektiv von Menschen. Macht, die sich immer wieder als Zustimmung zu Gewalt oder als Ausübung von Gewalt kundtut.

 

2) Ist dies ein realistisches Konzept, Herr Jehle? Ist es vorstellbar, dass die Kirchen, die es bis heute nicht unterlassen haben, Gewalt zu rechtfertigen, um ihre Werttheorien umzusetzen, sich tatsächlich auf die Überwindung von Gewalt entschliessen?

 

Festzustellen ist eine sich verschärfende Gewalt im Zusammenhang der anwachsenden fundamentalistischen Entwicklung in den Religionen – auch in den christlichen.Es ist daher von grosser Dringlichkeit, das Bewusstsein der Mitverantwortung für die menschliche Destruktivität zu klären. Der jüngste, sich während 10 Jahren fortsetzende grauenvolle Krieg im ehemaligen Jugoslawien – von serbisch-orthodoxer Seite aus gegen die Menschen in Slowenien und gegen diejenigen in Kroatien, von kroatisch-katholischer Seite und serbisch-orthodoxer Seite gegen die muslimische Bevölkerung in allen Teilen des ggrossen, gemischten Landes, in jüngster Zeit gegen die abanisch-musimische Bevölkerung in Kosovo, mit vorauseilender Bedrohung auch der montenegrienischen und mazedonischen Bevölkerung, ist eine erschütternde Bestätigung.

3) Hätte dieser Krieg mit all seiner Grausamkeit auf Grund christlicher Einwirkung tatsächlich verhindert werden können, Her Sisson? Was braucht es, damit kein Krieg mehr stattfindet?

Die Frage ist, ob es tatächlich eine „ultima ratio“ gibt, welche Gewalt rechtfertigt. Oder ist dies eine Fehltinterpretation, eine Täuschung?

4) Was denken Sie dazu, Herr Jehle? Kann die 1948 zustandegekommene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, welche die wichtigen ethischen Grundsätze aller Weltreligionen irgendwie einschliesst und zugleich nicht auf eine bestimmte Gott-Definition oder auf eine besimmte religiöse Gruppenidentität hin begrenzt ist, sondern den gleichen Wert jedes menschlichen Lebens als Begründung erklärt, kann die Menschenrechtserklärung zum Massstab, resp. zur ultima ratio der Überwindung von Gewalt oder des Gewaltverzichts werden?

Trotz der Menschenrechtserklärung als Massstab des richtigen Handelns hat sich die Gewalt weder im privaten noch im öffentlichen Bereich vermindert. Im Gegenteil. Nun ist es so, dass das Gesetz der Gewalt darin besteht, eine Kettenreaktion von Leiden zu bewirken, selbst in Gesellschaften, denen Krieg und Verfolgung in jüngster Zeit erspart blieben, wo trotzdem Kinder Opfer von – gesellschafts- und familienbedingter – Gewalt werden, sodass ihre Seele durch die Erfahrung gröbster Missachtung ihres Liebes- und Sicherheitsbedürfnisses versehrt bleibt. Besteht hierin aber eine tatsächliche Lernmöglichkeit?

5) Ist es vorstellbar, dass nur Menschen, die unter Gewalt haben leiden müssen, in der Lage sind, nicht wieder Gewalt auszuüben, Frau Carmen Jud? Hat sich daraus auf feministischer Seite eine besondere Weisheit entwickelt?

„Das Leben ist die einzige Zuflucht“, hielt Paul Cela in einem Gedicht fest; er ertrug jedoch das Leben nicht mehr und floh aus dem Leben weg. Wenn Gewaltausübung im Bereich des kollektiven Handelns mit institutionellen Mitteln, mit Vermittlung und Einfluss eventuell veränderbar ist, besteht sie im privaten Bereich weiter – wiederum mit Auswirkung in einem weiteren Bereich.

6) Wie kann ein – die internationalen Verhältnisse eventuell tatsächlich beeinflussendes – Programm der Verminderung öffentlicher Gewalt sich auf das private Leben der Menschen untereinander auswirken, auf die persönliche Verantwortung in Beziehungszusammenhängen wie im sozialen, im asylrechtlichen und wirtschaftlichen Bereich, Herr Sisson? Liegt bei den christlichen Religionen diesbezüglich ein Widerspruch vor, der gerade zum Thema dieser Dekade werden müsste?

Jede Gesellschaft wird letztlich daran gemessen, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Die schwächsten Mitglieder sind überall die Kinder. Gerade den Kindern aber wird auf unsägliche Weise Grausamkeit und Gewalt zugemutet, deren seelische Folgen häufig ein ganzes Leben lang verstörend weiterwirken. Nach UNICEF-Informationen wurden im Lauf der letzten zehn Jahre mehr als 1,5 Millionen Kinder in Kriegen getötet, ca. 2 Millionen Kinder haben ihr Zuhause verloren, an die 5 Millionen Kinder leben in Flüchtlingslagern, etwa 200’000 Kinder wurden als Soldaten missbraucht, weit über 10’000 Millionen Kinder leiden unter traumatisierenden Kriegsfolgen. Dazu kommen weitere Millionen von Kindern, die unter furchtbaren Gewalt- und Verwahrlosungsbedingungen auf der Strasse leben, die jeder Art von Ausbeutung und Gewalt ausgesetzt sind, in den Slums der grossen Städte Lateinamerikas und Nordamerikas, in Afrika und Asien, teilweise selbst in Europa.

7) Was denken Sie, Herr Jehle, zu dieser Tatsache? Ist es nicht so, dass aufs dringlichste die Aufgabe der V e r m i n d e r u n g von Gewalt gegen Kinder einer ultima ratio bedarf? Wie lautet diese?

Gewalt und Gewalttätigkeit können nicht ein Ende nehmen, indem sie geleugnet werden. Es gilt, in den Familien wie in den Schulen die Fähigkeit zu entwickeln, mit Konflikten leben zu lernen, ohne dass sie gewalttätig ausgetragen werden müssen. Anstelle der Schwarz-Weiss-Alternative von Gewinnen und Verlieren müssen soziale und emotionale Kräfte gestärkt werden, die ein vielfältiges und und widerspruchsvolles Zusammenleben erlauben.

8) Wie kann Ihrer Auffassung nach, Frau Carmen Jud, das Christentum endlich einen Einfluss auf die Komplexität der Geschichtsverarbeitung und der besseren Gestaltung kollektiver und persönlicher Verantwortung im guten Ertragen von Differenz ausüben? Gibt es eine tatsächliche Chance der privaten wie der öffentlichen Gewaltverminderung dank des Christentums?

 

Abschluss:

Die Gewaltbereitschaft in den meisten Weltteilen, auch in der Schweiz, hat heute unter anderem mit der massiven Desorientierung im Zusammenhang der Globalisierungsbewegung in der Wirtschaft, zum Teil auch in der Politik zu tun, damit in allen Belangen von Recht und Unrecht. Daraus folgt ein Verlust an gegenseitigem Respekt, der durch die Respektlosigkeit der “offiziellen Stellen” – Polizei, Richter, Vollzugsbehörden – noch verstärkt wird. Die Menschen in der heutigen Zeit, insbesondere die Kinder und Jugendlichen, brauchen eine starke Lobby, der die Sorge um das Leben das zentrale Anliegen ist, damit nicht Gewalt und Unterdrückung, sondern das Leben, das zukunftsfähige Leben die “einzige Zuflucht” ist. Vor allem aber bedarf es eines Verständnisses von Religion, gemäss dessen der Zwangscharakter der engen religiösen Befolgung von Identitätsregeln überflüssig wird, worin die menschliche Freiheit (im Sinn Hannah Arendts) und die Akzeptanz von religiöser Differenz einen massgeblichen Wert bedeuten.

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[1] Tradition und Neuzeit, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Verlag Piper 1994. S. 23. (Between past and future 1968)

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