Frauen und ihre Erfahrung von Terror, Gewalt und Exil – Über psychische Traumatisierung, die post-traumatische Belastungsstörung und Möglichkeiten der Rehabilitation

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Frauen und ihre Erfahrung von Terror, Gewalt und Exil

Über psychische Traumatisierung, die post-traumatische Belastungsstörung und Möglichkeiten der Rehabilitation

Leyla Zana gewidmet 

 

„Eine Frau zu sein, ist in vielen Ländern nicht leicht, aber in einem Land wie der Türkei zugleich Frau, Kurdin und Muslimin zu sein, gestaltet sich zu einem wahren Leidensweg”.

Das Bekenntnis stammt aus der Botschaft, die Leyla Zana am 25. August 1995 im Zentralgefängnis von Ankara für die Weltfrauenkonferenz von Peking verfasste. Im gleichen Text hielt sie fest: „Ich weiss, dass es eine echte Gleichberechtigung der Frau noch nirgendwo auf der Welt gibt. Aber die Lage der Frau in der islamischen Welt ist besonders dramatisch. (…) In Ländern wie der Türkei, dem Iran, dem Irak oder Algerien, wo offene oder verdeckte Kriege wüten, mit Zerstörung, Vertreibung und Elend im Gefolge, liegt eine erdrückende Last und Verantwortung auf den Schultern der Frauen und Mütter. In meinem Land gibt es seit mehr als zehn Jahren einen unerklärten Krieg. Die Armee hat mehr als dreitausend kurdische Dörfer zerstört, unsere Berge und Wälder bombardiert und niedergebrannt und fast drei Millionen unschuldige kurdische Landbewohner gezwungen, ihre angestammten Ländereien zu verlassen und sie so ins Elend gestürzt. Die Toten, Verletzten, Verkrüppelten gehen in die Zehntausende. Frauen wie ich, die die Freiheit für sich beanspruchen, ihren Kindern die Muttersprache beizubringen, die die freie Artikulation der kurdischen Identität und Kultur unter demokratischen Bedingungen einfordern, werden als Terroristen bezeichnet und verfolgt. Eine Frau zu sein ist in vielen Ländern nicht leicht, aber in einem Land wie der Türkei zugleich Frau, Kurdin und Muslimin zu sein, das gestaltet sich zu einem wahren Leidensweg.”

Alle kurdischen Frauen und die meisten Frauen, die hier in der Schweiz als Asylsuchende oder als Flüchtlinge im Exil leben, kennen diesen Leidensweg, die einen aus eigenem Erleben, die anderen als Leidensweg ihrer Mütter. Leyla Zana kennt ihn seit langen Jahren. Sie hat, wie sie in einem – 1994 in der internationalen Presse – erschienen Artikel schreibt, “die grausame Erfahrung der Folter (1988, als sie während 59 Tagen in Polizeihaft war) und den unsäglichen Schmerz Ermordung einer Reihe naher Freunde am eigenen Leib erlebt”. 1993 entging sie knapp zwei Attentatsversuchen, nachdem sie 1991 als Vertreterin des Wahlkreises Diyarbakir auf der Liste der Sozialdemokratischen Volkspartei (SHP) ins türkische Parlament gewählt worden war, als einzige kurdische Frau unter 450 Abgeordneten, und als sie bei der Vereidigung auf Kurdisch und auf Türkisch zweimal den gleichen Satz aussprach: dass sie sich dafür einsetzen werde, dass Kurden und Türken als gleichberechtigte Brüder im gegenseitigen Respekt vor ihrer jeweiligen Kultur zusammenleben würden. Am 4. März 1994 wurde ihr die parlamentarische Immunität entzogen. Seither ist sie inhaftiert und soll es nach dem Urteilsspruch vom 8. Dezember 1994 noch fünfzehn Jahre bleiben. Unentwegt kämpft sie aus dem Gefängnis weiter, schreibt Briefe und Verteidigungsreden, die irgendwie aus der Zelle herausgeschmuggelt werden. Sie ist seit Jahren von ihren Kindern getrennt, dem 1975 geborenen Ronay und der 1981 geborenen Ruken, die im Ausland leben, sie ist von ihrem Mann getrennt, mit dem sie im Zentralgefängnis von Ankara noch kurze Zeit zusammen verbrachte, Mehdi Zana, den die 1961 in einem kleinen Dorf in der Nähe von Baxta geborene Leyla als Vierzehnjährige geheiratet hatte. (Mehdi Zana war 1977 zum Bürgermeister von Diyarbakir gewählt worden, er wurde nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 verhaftet, schwer gefoltert und zu sechsunddreissig Jahren Gefängnis verurteilt wurde, von denen er elf Jahre zumeist im berüchtigten Militärgefängnis Nr.5 abgesessen hatte, von wo aus er unentwegt den Kampf für die Freiheit Kurdistans weitergeführt hat. Er lebt seit kurzem als anerkannter Flüchtling in Schweden).

Ende der Siebziger-/Anfang der Achtzigerjahre begann Leyla Zana politisch zu arbeiten. Sie lernte Türkisch und holte autodidaktisch ihre Bildung nach. Sie war aktiv in der Bewegung gegen die unmenschlichen Bedingungen in den Gefängnissen, gegen Folter und Verschwindenlassen, auch im Rahmen der Sektion der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte in Diyarbakir; sie schrieb regelmässig für die kurdische Presse. Seit sie im Gefängnis ist, hat sie eine Reihe von internationalen Menschenrechtsauszeichnungen erhalten. Um ihre Gesundheit steht es schlecht. Am 22. Oktober 1994 schrieb sie an Kendal Nezan, einen langjährigen Freund, der schon 1972, nach dem ersten Militärputsch von 1971, nach Paris emigriert war und von dort aus als Vorsitzender des Kurdischen Instituts – einem Dorn in den Augen des türkische Staates – eine wichtige Rolle in der Koordination des kurdischen Widerstandes ausübt: „Ich habe dauernd Schmerzen in allen Knochen. Die untere Hälfte meines Körpers ist kalt, eiskalt, und doch habe ich oben herum oft mehr als 39 Grad Fieber”. Gleichzeitig hält sie im selben Brief, der im Ton an die Briefe Rosa Luxemburgs aus dem Gefängnis erinnert, fest, sie sei jedoch “weder traurig noch entmutigt noch viel weniger niedergeschlagen. (…) Ich ertappe mich in letzter Zeit immer häufiger, dass ich ins Träumen gerate. Manchmal bin ich dann frei wie ein Vogel in den Bergen Kurdistans, manchmal in der Menschenmenge in Diyarbakir, mitten zwischen meinen Leuten, umgeben von ihrer Zuneigung und Wärme, manchmal auch in den Strassen von Paris, der Stadt, die ich in Europa am schönsten finde und so liebe. Meine Kerkermeister können meinen Körper einsperren, aber meine Gedanken kennen keine Gitter, keine Verbote, keine Grenzen.”

Anfang Dezember 1997, als die EU-Verhandlungen mit der Türkei liefen, wurde in der türkischen Presse mitgeteilt, Leyla Zana werde unter dem Vorwand ihres Gesundheitszustandes im Rahmen einer persönlichen Amnestie freigelassen. In der gleichen Mitteilung hiess es, der amerikanische Präsident Bill Clinton habe von der türkischen Regierung ihre Freilassung verlangt, quasi als Gegenleistung der Türkei, damit diese das Entrée-Billet in die EU erlange. Leyla Zana lehnte eine persönliche Amnestie ab, mit der Begründung, sie lasse sich als Person nicht zu Gunsten der Türkei instrumentalisieren, es gäbe für sie “draussen” ohnehin keine Freiheit, solange ihr Land und ihre Landsleute nicht in Freiheit lebten.

 

Die aus dem politischen Widerstand wachsende Kraft

Seit Jahren beschäftigt mich, womit dieser hohe Begriff der Freiheit konnotiert ist: offensichtlich ist er in erster Linie und vordergründig mit der Ausübung der verwehrten und unterdrückten demokratischen Rechte – der politischen und der kulturellen – verknüpft und vereint dadurch auf sich, wie eine Chiffre, die Ziele und Bestrebungen der verschiedensten kurdischen Widerstandsgruppen. Andererseits aber ist damit viel mehr gemeint als das verallgemeinerungsfähige politische Ziel. Ich vermute, dass mit “Freiheit” zusätzliche eine spezifische psychische Kraft gemeint ist, die in hohem Mass als Abwehr der zerstörerischen innerpsychischen Wirkung der Gewalt wirkt, als Abwehr der Internalisierung der Gewalt, mithin als Abwehr von psychischer Zerstörung und Tod. Freiheit bedeutet in der psychischen Konnotation daher einen aktiven Aspekt von Ich-Stärke, der die Verteidigung der internalisierten Werte von Menschlichkeit, Menschenliebe und Lebenszustimmung obliegt, auch unter den widrigsten Umständen generalisierter Gewalt und Bosheit. Ich vermute, dass die innerpsychische Funktion von “Freiheit” im Augenblick der extremen Ich-Bedrohung und Ich-Zerstörungsgefahr durch die unerträglichen körperlichen und psychischen Demütigungen und Schmerzzufügungen durch die Folter dem Ich eine Möglichkeit der Abspaltung und damit des Schutzes gestattet, die dessen Integrität gewisermassen abkapselt und überleben lässt. Wiederum ist es eine Vermutung, wenn ich feststelle, dass die auffallende Verschiedenheit, mit der kurdische Folteropfer und Opfer des Bosnienkriegs oder des Kriegs in Sri Lanka die Traumatisierungen persönlich erlebt haben, eventuell mit den unterschiedlichen Möglichkeiten von Abwehmechanismen zusammenhängt, abgesehen von allen Unterschieden der vorbestehenden Persönlichkeit. Das heisst allerdings nicht, dass die post-traumatischen Belastungsstörungen nicht auch für die kurdischen Folteropfer sich auf vielfach quälende Weise zeigen. Ich komme nachher darauf zurück.

Als ich 1988, zur Zeit der Prozesse gegen die nach dem Militärputsch verhafteten “Dissidenten”, als politische Berichterstatterin in der Türkei weilte, lernte ich Menschen kennen, die diese doppelte Bedeutung von Freiheit auf erkennbare Weise vorlebten, Mütter, Frauen und Schwestern von politischen Gefangenen, auch Mitglieder des Menschenrechtsvereins, darunter den Verleger des kleinen Gedichtbandes “… tirnaklarimla yaziyorum” (“…ich schreibe mit den Fingernägeln”), worin sich auf Türkisch und auf Deutsch Gedichte von politischen Gefangenen aus den Jahren 1980-1985 finden, zum Beispiel jenes mit dem Titel “Merhaba”, geschrieben von Hülya Ayse Özzümrüt, einer jungen Frau, die 1980 verhaftet und 1984 in einem Prozess, der gleichzeitig gegen 100 Angeklagte geführt wurde, wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation zum Tod, später zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden war. Ob sie und, wenn ja, wo sie heute lebt, weiss ich nicht. Während der Gerichtsverhandlungen gab Hülya unmissverständlich zu verstehen, dass sie das Sondergericht nicht anerkenne und dass sie ihren Kampf im Gefängnis weiterführe. Zum Kampf gehörten vor allem ihre Gedichte, die aus dem Gefängnis geschmuggelt und veröffentlicht werden konnten. Auch in diesen Gedichten bezeichnet sie die Freiheit als die tragende Kraft:

„Ich, schon Jahre in Ketten, hinter verschlossenen Türen, dröhnenden Riegeln, vergitterten Augen, schon lange habe ich die Blumen der Berge nicht gesehen, bin immer nur der Dunkelheit der Nacht begegnet…

doch…

der Tag wird mitten in der Nacht geboren, die Freiheit mitten in uns. In unseren groben, rissigen Händen leuchtet das Leben, verlischt nie…”

Ihrer damals dreizehnjährigen Tochter Ruken, die im Ausland leben muss und im Herzen zwar das starke moralische Vorbild dieser Mutter besitzt, zugleich aber auch sich widersprechende Gefühle kennt, die einerseits vom starken internalisierten Druck herrühren, tapfer sein zu müssen und alle kindlichen Bedürfnisse hintan stellen zu müssen, die andererseits aus der Erfahrung der Bedrohung, schreibt Leyla Zana 1994, mit „Streben nach Wissen und nach Freiheit müsse sie (d.h. Leyla) viele Kränkungen, Beleidigungen, körperliche Angriffe und den Hunger überwinden”. Was bedeutetüberwinden”? Es geht hier um die Folgen von Verhaftung, von Folter und Freiheitsentzug, um das Weiterwirken dieser Erfahrungen im Körper und in der Seele. Leyla Zana weiss, was Folter, was Freiheitsentzug und was der Verlust all dessen, was sie liebt, und vieler jener, die sie liebt, auslösen. Im gleichen Brief vom 14. Mai 1994, kurz nach ihrer Inhaftierung, schreibt sie an Ruken weiter: „Du kannst die Probleme nur bewältigen, wenn Du mit jemandem darüber sprichst. Wenn Du nicht darüber redest, werden sie immer drückender, bist Du nicht mehr ein noch aus weisst.” Hier geht es zugleich um sie selber wie um ihre Tochter. Sie mag ahnen, welchen Problemen, Verunsicherungen und Verstörungen das Kind, das ohne seine Mutter im Ausland leben muss,  ausgesetzt ist, der Lebensbedrohung, dem Allein-Gelassensein, dem Verlusts von Sicherheit und von Geborgenheit. Diese Erfahrungen wirken auf nachhaltige Weise traumatisierend, und obwohl das Kind selber weder inhaftiert ist noch gefoltert wurde, leidet es unter unter Gefühlen der Angst und der Verlassenheit.

 

Die Stimme des Schmerzes

Wenn ich die innerpsychische Funktion von Freiheit als Abwehrfunktion des Ich im Augenblick der Extremtraumatisierung bezeichne, so sind davon die Abwehrfunktionen des Unbewussten (des Es) zu unterscheiden, wie sie sich in einer enormen quälenden Vielfalt als Folgen der Traumatisierung zeigen, in psychischen und körperlichen Symptomen, die gesamthaft als post-traumatische Belastungsstörung bezeichent werden.

Das post-traumatische Belastungssyndrom zeigt sich bei den Opfern selber wie bei deren Kindern. Seit der Beobachtung von Opfern aus dem Ersten Weltkrieg, vor allem aber seit der Behandlungen von Überlebenden des Nazi-Terrors, insbesondere der Vernichtungslager, ist bekannt, dass schwere Gewalterfahrungen, Erfahrungen massiver und fortgesetzter Lebensbedrohung, Erfahrungen der totalen personalen Entwertung (durch Deportation, durch willkürliche Inhaftierung, durch Quälerein und durch Folter, durch Vergewaltigung, durch das erzwungene Miterlebenmüssen der Quälerei, eventuell gar der Ermordung von Angehörigen, dann durch die Wiederholung von Erfahrungen völliger Ohnmacht, personaler Entwertung und Rechtlosigkeit im Exil u.a.m.) – dass diese Erfahrungen einer Zertrümmerung der Seele gleichkommen (so wie schwere körperliche Schläge, Stösse oder Hiebe eine Zertrümmerung von Organen, von Körperteilen verursachen können). Falls dies nicht zum Tod des Menschen führt, versucht sein Unbewusstes, ihn mit Hilfe von Abspaltungen, von Verdrängungen, von Somatisierungen (resp. der Platzierung des unerträglichen seelischen Leidens im Körper, was zu den bekannten Phänomenen der psycho-somatischen Leiden führt, etwa zu Magengeschwüren, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen, Schwindelgefühle und Schlaflosigkeit u.a.m.) zu schützen. Das Unbewusste reagiert als System der Abwehr des unerträglichen Leidens im Dienst des Überlebens.

Für die Zerstörungswirkung des Traumas, auf extreme Weise bei der Folter, gibt es beinah keine adaequate Sprache. Es bedeutet den völligen Bruch mit dem früheren Leben, den Abbruch all dessen, was Sicherheit, was selbstverständliche Kommunikation, Zugehörigkeit und Aufgehobenheit bedeutet hat. Ein seelisches Trauma bewirkt totale Isolation und totales Alleinseins, auch bei Menschen, die sich gesellig geben. Noch während Jahren können sich die Folgen als Gefühl des völligen Alleinseins und Unbeheimatetseins, des Abgetrenntseins vom Leben unverändert zeigen, als inneres Zittern, als ständig wiederkehrende nächtliche Alpträume oder als unüberwindbare Schlaflosigkeit, manchmal als völlige innere Kälte, Leere und Empfindungslosigkeit, oder als Mischung von nicht kontrollierbarer Wut und extremer, wahnhafter Angst u.a.m. Das zutiefst Verhängnisvolle ist, dass sich, wie ich schon erwähnte, Elemente dieses Syndroms durch die Wirkung der Übertragung und Gegenübertragung bei den Kindern, manchmal sogar bei den Kindeskindern der Opfer fortsetzen.

Seelische Traumen weisen mithin eine völlig andere Qualität des Leidens auf als alle anderen, auch schwerwiegenden Konflikte, die zumeist mit Hilfe gewisser Rationalisierungen, z.B. der Veränderung der Lebensumstände, gelöst werden können. Seelische Traumen bedeuten einen Bruch in der Kontinuität der existentiellen Zeit. Die Vergangenheit, respektive die Zeit vor dem Trauma, gibt es zwar noch, jedoch als abgetrenntes, fragmentiertes Element, das mit dem traumatisierten Ich nichts mehr zu tun hat; die Gegenwart kann nicht gelebt werden, da sie durch das Trauma wie aufgelöst wird, und jede Art der Zukunftsperspektive entzieht sich den existentiellen Möglichkeiten, die ganz mit der Organisation des prekären Überlebens befasst sind. Dazu kommt, dass seelisch traumatisierte Menschen häufig nicht nur einmal, sondern mehrmals (sequentiell) schwersten personalen Verunsicherungen, Demütigungen und Bedrohungen ausgesetzt sind, sowohl im Herkunftsland wie nachher durch die Situation von Flucht und Exil, wo erneut Gewalt, persönliche Bedrohung, häufig Erwerbslosigkeit oder Verhinderung einer – den Kompetenzen entsprechenden – Berufsausübung und andere prekäre, diskriminierende Lebensverhältnisse, sodann die Angst um Angehörige, um Kinder und Familienmitglieder Tag und Nacht beherrschen. Je öfter und beständiger diese Traumatisierungen erfolgen, je nachhaltiger und verhängnisvoller wirken sie, gerade wiederum bei Kindern.

Ich will dies mit der Geschichte eines Opfers sequentieller Traumatisierung illustrieren, einer heute dreiundsechzigjährigen Frau, die ihre Geschichte als Folge böser Absurdität erlebte, ohne die geringste Verarbeitungshilfe durch politische Erklärungen. Als siebenjähriges Kind wurden L. und ihre fünf Geschwister, die in den Dreissigerjahren in einem Nachbarland der Schweiz zur Welt kamen, von den Eltern getrennt, von denen L. nie mehr etwas erfuhr. Der Vater starb scheinbar wenig später, die Mutter wurde psychiatrisch verwahrt und starb einige Jahre danach. Auch die Geschwister wurden von einander getrennt: die zwei Mädchen kamen in einem Altersheim für Frauen unter, zusammen mit zum Teil schwer dementen, schwer kranken Greisinnen, die Knaben in einer solchen Institution für alte Männer. Was aus den Brüdern wurde, wusste L. nicht; allein mit der Schwester hielt sie bis zu deren Tod vor sechs Jahren einen gelegentlichen Kontakt aufrecht. Infolge der Mangelernährung hatte sie schon als junges Mädchen alle Zähne verloren und erhielt in der späten Adoleszenz künstliche Zähne. Sie blieb bis zum vierzehnten Altersjahr in jener Institution, wurde dann von einer Familie aufgenommen, konnte eine Ausbildung als Krankenschwester absolvieren, arbeitete in verschiedenen Spitälern, gewissenhaft und wortkarg, lernte mit achtundzwanzig Jahren durch Vermittlung einer Bekannten einen drei Jahre älteren Mann kennen, der als Sechzehnjähriger in der Endphase des Kriegs noch eingezogen worden und in Kriegsgefangenschaft gekommen war, heiratete ihn und gebar zwei Söhne und eine Tochter. Seit ihrer Jugend litt L. unter schweren Migränen, zudem unter zunehmenden Rückenschmerzen, die sich bis in die Beine fortsetzten, sodann unter Kältegefühlen in den Extremitäten. Sie stand ununterbrochen in ärztlicher Behandlung, ohne dass die geringste Linderung feststellbar war. (Gesicht, Hände und Unterarme waren von den Cortisonbehandlungen aufgedunsen, als sie vor einiger Zeit zu mir zur Konsultation kam). Während die beiden Söhne sich scheinbar unauffällig entwickelten und nach der Berufsausbildung in verschiedenen Ländern zu arbeiten begannen, blieb die heute achtundzwanzigjährige Tochter V., das jüngste Kind, der Mutter auf symbiotische Weise verbunden. Zwar schloss sie ein anspruchvolles Studium ab und befindet sich in einer vielversprechenden universitären Karriere, ist jedoch noch nie eine Liebesbeziehung eingegangen und klagt über ständige, störende Kältempfindungen in den Extremitäten, wie die Mutter, sowie über häufige Kopfschmerzen.

Es war die Sorge um die Tochter, welche L. bewog, mich vor einiger Zeit aufzusuchen. Die Tochter weist jede Psychotherapie von sich. Die Therapie von L. besteht im wesentlichen darin, L. einen Ort der völligen Geborgenheit und Sicherheit zu bieten, in welchem die Traumen der Kindheit erinnert und erzählt werden können, ohne Angst vor einem Rückfall in Situationen der extremen Verlorenheit, ohne eine erneut verletzende Wiederholung des durchgemachten Leidens, indem die schweren, als unerträglich abgewehrten Erfahrungen im therapeutischen Raum als Teil einer sich allmählich wieder integrierenden Existenz einen bestimmten, erkennbaren Ort und eine erklärbare Bedeutung finden und somit die zerstörende Besetzung der ganzen Existenz verlieren. Es ist denkbar, dass mit L’s. allmählicher seelischer Heilung die Tochter sich zunehmend entlastet fühlen wird und ihre Symptome auf beinah unmerkliche Weise verschwinden werden. Ob dies tatsächlich so sein wird, ob die Wirkung von Übertragung und Gegenübertragung auch im umgekehrten Sinn, im Sinn der Rückgewinnung von subjektiver Freiheit, von personaler Integrität und von erneuter Lebensfreude sich einstellen kann, wird sich erweisen.

 

„Wir weigern uns, zu schweigen”.

Zurück zu Leyla Zana. Sie beendet den Eingangstext zu ihrem Buch “Briefe und Schriften aus dem Gefängnis” (Montage Verlag, Dötlingen 1996) mit einem Aufruf an die kurdischen wie an alle anderen Frauen zu reden. „Redet! Ergreift das Wort! Drückt Euch aus, wie es Euch entspricht! Damit niemand mehr zu uns sagen kann: ‚Schweig Frau!‘ Wir weigern uns zu schweigen. Frei zu reden ist schon ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Freiheit.” Wenn viele Menschen der gleichen Herkunft Gewalt und Verachtung, die Zerstörung ihrer Beziehungen, Folter und Mord durchmachen müssen, ergibt sich aus der Summierung der unzähligen persönlichen Traumatisierung eine kollektive Geschichte des unerträglichen Leidens. Auch diese muss mitgeteilt werden, muss als Erfahrung des Leidens und des Unrechts zugleich die Gestalt der Anklage finden, damit das Leiden nicht in der Gestalt des Hasses und der erneuten Gewalt wiederkehre.

Dies meint Leyla Zana mit ihrem Aufruf. Es liesse sich sagen, dass die politische Aktion des Widerstandes gegen Unterdrückung und Menschenverachtung, dass die politische Aktion für Demokratie, für Freiheit und für Frieden eine Möglichkeit der kollektiven Therapie bedeutet, auch aus den Voraussetzungen und Handlungsmöglichkeiten heraus, die das Exil bieten kann: denn trotz aller Prekarietät der rechtlichen, existentiellen und organisatorischen Bedingungen bietet es einen genügenden personalen Schutz, dank dessen die Sprache öffentlich werden kann, sich verbinden kann mit anderen Stimmen und ein Echo, eine Resonanz bekommt, welche die lange erfahrene Ohnmacht überwindet. Ich vermute, dass dieses kollektive Handeln auch eine positive Unterstützung der individuellen Traumatherapie sein kann, eine Unterstützung, die jenen Opfern von Traumatisierungen fehlt, welche die aus dem politischen Widerstand wachsende Solidarität nicht kennen.

Zu einem tragfähigen Netz der Solidarität mit Frauen und Kindern (auch mit Männern, mit Flüchtlingen überhaupt) im Exil beizutragen, sowohl bei öffentlichen Demonstrationen, bei Petitionen u.a.m. wie bei der Bewältigung der alltäglichen Lebensanforderungen, ist eine politische Verpflichtung und eine existentielle Chance, eine Chance des Lernens und der Freundschaft für Menschen hier in der Schweiz, die über Rechte, über Freiheit und Sicherheit verfügen. Zu lernen ist, unter anderem, dass auch Rechte, Freiheit und Sicherheit teilbar sind, und dass sie dadurch, wie alles Immaterielle, nicht kleiner werden, sondern anwachsen.

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