Über die Freundschaft

Über die Freundschaft

 

Kindheit und Jugend finden mit dieser Feier scheinbar ein Ende, “maturae” und “maturi” sind Sie nun, “reif” fürs Erwachsenenleben, in welches Sie nach vielem Lernen und vielen Prüfungen entlassen werden, “reif” für manche Wahl, sei es diejenige der Berufsausbildung, sei es diejenige der Lebensweise, der politischen Ausrichtung oder der persönlichen Beziehungen. Ich freue mich mit Ihnen darüber.  Und ich wünsche Ihnen dazu Klugheit, Glück, Sorgfalt und, bei allem, Ihnen immer zur Seite, verlässliche Freundschaft.

Es mag Sie erstaunen, dass ich zu diesem festlichen Anlass über die Bedeutung der Freundschaft spreche. Eine Bekannte, die an einer Hochschule in einer deutschen Grossstadt lehrt, sagte mir neulich, der Begriff sei der heutigen Jugend nicht mehr geläufig, oder höchstens im Sinn einer intimen, nicht-ehelichen Beziehung, jedoch, wie sie sagte, nicht mehr in der ursprünglichen Bedeutung, die unserer Generation noch geläufig sei und die sich in zahlreichen Werken der Literatur seit der Antike festgehalten finde. Ob es so ist, weiss ich nicht mit Sicherheit, das werden Sie mir am Schluss der Feier oder vielleicht in einigen Jahren sagen können. Ich will gleich zu Beginn festhalten, dass ich von Freundschaft im Sinn der stärkenden, ermutigenden, immer wohlwollenden Begleitung sprechen werde, bei der weder das Begehren noch irgendeine Berechnung mitspielen, sondern allein die tiefe gegenseitige Verbundenheit. Mir scheint, dass es in diesem Augenblick des Übergangs zwischen Jugend und Erwachsenenalter überaus wichtig ist, auf den unaustauschbaren und unvergleichlichen Wert der Freundschaft einzugehen. Sie entgegnen mir vielleicht, ich sollte eher von der Liebe sprechen, das sei für Sie drängender und bedeutungsvoller. Ich meine aber, dass Sie die Liebe, den Glückstaumel und die Verzweiflung der Liebe, vielleicht schon kennen, sicher noch kennen werden, dass aber das Salz einer Beziehung, die dauert und sich entwickelt und den Veränderungen standhält, die Freundschaft ist. Ich habe dies selbst erlebt und erlebe es noch immer, weiss auch aus Erfahrung vom Schmerz, wenn ein Freund oder eine Freundin durch den Tod entrissen wird oder wenn eine Freundschaft sich auflöst,wenn Verrat, zunehmende Abwendung oder Indifferenz ihr ein Ende setzt. Da entsteht aus dem Verlust ein schwer zu ertragendes Vakuum, eine Traurigkeit, die viele Jahre lang nachwirkt, die manchmal gar nicht mehr heilbar ist.  Denn jede Freundschaft ist unersetzbar. Auch jede Liebe und jede Eltern-Kind-Beziehung misst sich nach dem Grad der Freundschaft, die ihr zugrundeliegt oder sich in ihr entwickelt.

Was zeichnet denn eine Freundschaft aus? Was kennzeichnet sie im Vergleich zu anderen Beziehungen? Und wie verhält es sich mit dem Verständnis von Freundschaft je nach den Zeiten und Kulturen, sowohl nach den eigenen Lebenszeiten wie nach den Menschheitsepochen, deren Spuren wir in der Literatur finden? Verstehen wir unter Freundschaft das selbe wie zum Beispiel Cicero, der vor rund 2000 Jahren, im Jahre 44 v. Chr., sein “Gespräch über die Freundschaft” schrieb? Ich weisss nicht, ob sie diesen Text, der häufig auch einfach als “Laelius” zitiert wird, in ihrer Gymnasialzeit kennen gelernt haben. Cicero lässt darin den Philosophen, Heerführer und Politiker Laelius, der lange vor seiner Zeit, im Jahre 188 v.Chr. zur Welt gekommen war, zu dessen zwei Schwiegersöhnen über die Freundschaft zum jüngeren Scipio Africanus und damit über die Freundschaft überhaupt sprechen. Als ich diesen Text im Lauf der Vorbereitung meiner heutigen Rede wieder las, stellte ich fest, dass er in keiner Weise veraltet und verstaubt ist.

Ich will auf ein paar Stellen in dieser so unmodernen und zugleich nach wie vor akuellen Schrift eingehen, um das Besondere und Unaustauschbare der Freundschaft verständlich zu machen. Freundschaft, sagt Laelius seinen zwei jungen Verwandten, sei ein hohes Gut. Ein anderes hohes Gut sei etwa die Weisheit, oder die Gerechtigkeit; auch Gesundheit und Reichtum seien erstrebenswerte Güter. Die Freundschaft zeichnet sich jedoch dadurch als ein  hohes Gut aus, dass der Mensch  es nicht  in seiner Vereinzelung, nicht allein für sich, nicht allein für seine eigene Vervollkommnung  anstrebt, sondern, wie Cicero schreibt, auf Grund seiner Geselligkeit, das heisst auf Grund der Tatsache, dass er mit anderen Menschen zusammenlebt. Daher ist Freundschaft das höchste aller Güter und allen anderen vorzuziehen. Cicero meint, dass die Freundschaft sogar der Verwandtschaft vorzuziehen sei, da diese letztere durch die Natur geschaffen sei und sehr wohl auch ohne gegenseitiges Wohlwollen bestehe. Freunschaft jedoch wird gewählt und ohne Wohlwollen löst sie sich auf. Sie bedeutet Übereinstimmung in allen geistigen und menschlichen Belangen (bei Cicero heisst es “in allen göttlichen und menschlichen Dingen”), und sie kann nicht anders, denn mit Wohlwollen und liebevoller Achtung verbunden sein, unabhängig von Lebenssituationen oder von guten und schlechten Tagen. “Dem Glück verleiht die Freundschaft grösseren Glanz; Widerwärtgkeiten erleichert sie durch Mitgefühl und Teilnahme”.

Cicero weiss, wie gefährdet und prekär die einzelne menschliche Existenz ist, wie flüchtig die Erfahrung der Gegenwart und damit der Lebenszeit ist. Die Freundschaft vermag, dieser Flüchtigkeit und Verunsicherung Halt zu geben, sie hebt die Mängel der eigenen “condition humaine” auf, sie weist in die Zukunft und erhält die Vergangenheit lebendig. Sie seht der Zeit entgegen, als könnte sie sie aufheben, indem sie das so schwache einzelne Ich verstärkt, ja  verdoppelt. “Abwesende sind anwesend, Dürftige reich, Schwache stark und, was noch auffälliger wirkt, Tote lebendig”, lässt Cicero Laelius sagen. Daher ist die Freundschaft die einzige Kraft, welche die Welt in ihrer Vergänglichkeit und Brüchigkeit zusammenhält. “Nimmt man dieses Band des Wohlwollens aus der Welt heraus, so wird weder ein Haus noch eine Stadt bestehen können, nicht einmal der Ackerbau wird fortdauern”. Doch nicht nur verleiht sie Dauer und Beständigkeit, was sich in der Flüchtigkeit der Zeit sonst auflöst, sie  widersteht auch den Zerstörungskräften von Zwistigkeiten, von menschlicher Gewalt und Hass. Denn Freundschaft gibt es ja nur zwischen Menschen, die ohne Arglist sind, die einander nichts vormachen und die einander nicht betrügen, auch wenn sie sonst fehlerhafte Menschen sind, die mithin in der Beziehung zueinander wahrhaftig sind. (Cicero benützt hierfür einen uns  nicht mehr sehr geläufigen Begriff; er spricht von der “Tugend” als der notwendigen Voraussetzung für Freundschaft). Es ist jedoch klar, was er damit meint: Indem überall in der Welt einzelne wenige Menschen auf unverbrüchliche Weise für einander einstehen, indem sie einander weder übervorteilen noch einander hintergehen noch einander in der Not im Stich lassen, wirken sie dem – scheinbar viel stärkeren – Trend zum Bösen entgegen. Sie sind eine Gegenkraft zu Verrat, Verderben und Tod.

Ciceros Vermutung, dass ohne das Band der Liebe (des “Wohlwollens”), welches durch die Freundschaft entsteht, die Welt keinen Bestand hätte, stimmt – wenngleich mit einer bedeutungsvollen Einschränkung – mit einer Geschichte aus der jüdischen Überlieferung überein (die, wie Gershom Scholem nachweist, auch in gewissen islamischen Traditionen vorkommt), laut derer das  Schicksal der Welt auf 36 Gerechten ruht, die in jeder Zeit, in jeder Generation unauffällig und unerkannt zwischen den übrigen Menschen leben und wirken, nicht als Helden oder als Heldinnen, sondern einfach als Menschen, die es vorziehen, statt Böses Gutes zu tun. Nach gewissen Legenden stirbt ein Gerechter, wenn er als Gerechter erkannt wird. Den Gerechten ist somit etwas eigen, was Cicero mit der Freundschaft verbindet: die fraglose Selbstverständlichkeit in der Ablehnung niedrigen, gemeinen Handelns. Was das “Ausmass”, gewissermassen die quantitative “Definition” der Ablehnung betrifft, zeigt sich ein bedeutungsvoller Unterschied: Während bei den jüdischen (und islamischen) Gerechten die Ablehnung des Tuns des Bösen allen Menschen gegenüber gilt, schränkt Cicero sie auf bestimmte Menschen ein. Er macht sie dadurch zu einer Frage der  Wahl, die sich immer wieder stellt und die, auf unausgesprochene Weise, voraussetzt, dass man auch anders handeln könnte. So wird die Wahl zur “Tugend”. Sie bedeutet, dass niemand durch das eigene Handeln Leiden erfahren oder zu Schaden kommen darf, der (oder die) einem – durch die Freundschaft – so wert und teuer ist wie das eigene Ich. Daher muss auch jede Erwartung, dass ein Freund (oder eine Freundin) für einen etwas Unrechtes tue, als ungehörige Anmassung ausgeschlossen sein. Denn Freundschaft könnte dem Unrecht, das in ihrem Namen getan würde, nicht standhalten, sie müsste zerbrechen.

Mir scheint, dass eine starke und unverbrüchliche Freundschaft den Menschen in seinem gesamten Verhalten allmählich verändert. Denn dass im Verhältnis zu einem bestimmten anderen Menschen so viel Sorgfalt, so viel Lauterkeit und so viel Wohlwollen tatsächlich gelebt wird und dass dieses Verhältnis zum Spiegel für einen selbst wird, kann ja nicht ohne Folgen bleiben. Wird damit nicht immer unvereinbarer, andere Menschen, mit denen manzu tun hat, auf  gleichgültige oder gar auf  durchtriebene Weise zu übervorteilen, ihnen Leid anzutun oder sie mit Verachtung zu behandeln? Vielleicht sind breitere  und nachhaltigere Folgewirkungen nicht selbstverständlich, sondern stellen sich nur durch ein langes “Training”, durch eine lange “Einübung” ein, welches zugleich die Empfindlichkeit für Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung schärft. Auf jeden Fall scheint mir, dass Freundschaft der “Ort” ist, wo Menschen im Austausch einander stärker und reicher machen, wo sie einen Teil jener “Entfremdung” aufheben, die jede Existenz kennzeichnet, wie Marx sie in seinen Frühschriften, insbesondere  in den Fragment gebliebenen “Ökonomisch-philosophischen Manuskripten” von 1844, als lebenslanges Leiden schildert, das nicht nur aus der Abkoppelung vom Produkt der eigenen Arbeit und aus der Erfahrung ständiger Übervorteilung erwächst,  sondern das zutiefst Entzweiung mit sich selbst bedeutet, Sinnverlust und Freudlosigkeit. Die französische Philosophin Simone Weil braucht anstelle des Begriffs “Entfremdung” jenen der “Entwurzelung”. Beide Begriffe meinen die gleiche Erfahrung der Leere und des unbenennbaren, unstillbaren Hungers, die so leicht und so häufig durch kompensatorische Mittel zu füllen oder zu stillen gesucht wird. Workaholics und Süchtige jeder Art, ob Drogen-, Alkohol-, Mager- oder Esssüchtige, Sport-, Porno-, Vergnügungs-, Geschwindigkeits- oder Religionssüchtige oder deren noch mehr sind sonder Zahl, und alle sind Leidende, deren Leiden durch die Unmässigkeit und kompensatorische Abhängigkeit, durch die sie es zu lindern suchen, nur grösser wird. Freundschaft dagegen ist wie gute, kräftigende Nahrung. Sie schadet nicht, indem sie zu nähren vorgibt.  Sie kann zwar nicht alle Enttäuschungen und nicht alle Mängel einer Existenz heilen, aber sie schafft in der existentiellen “Heimatlosigkeit” eine Art Heimat, einen Ort des Vertrauens, der Stärkung und der Geborgenheit. Bei Cicero heisst es, dass “Kriecherei, Schmeichelei und Liebedienerei” in der Freundschaft ausgeschlossen seien, dass jede Art der “Verstellung”  (resp. der ‘Produktefälschung der Nahrung’) ein Verderben sei. Während Liebe in verschiedene Formen der Abhängigkeit führen kann, verschafft Freundschaft mehr Freiheit, da sie ja angstfreie Korrekturmöglichkeiten und Akzeptanz auch im Irren gewährt und dadurch die Sicherheit im Handeln und das Selbstwertgefühl zu stärken vermag.

Ich könnte all dies durch Geschichten aus der Literatur (etwa durch die Freundschaft zwischen Orest und Pylades in der Antike, oder zwischen Michel de Montainge und Etienne de la Boétie im 16. Jahrhundert, oder zwischen Rahel Varnhagen und Pauline Wiesel im 19. Jahrhundert)  oder aus meinem Leben belegen, auch wenn es nicht aufsehenerregende Geschichten sind.  Aber es gibt sie, und sie bedeuten die unauslöschliche Wegspur durch alle Veränderungen und Verluste hindurch. So besteht etwa mit jedem meiner Kinder ein ungeschriebener, unauflösbarer Vertrag, dass ständig ein guter, liebevoller Blick und eine gegenseitige Aufmerksamkeit das manchmal schwierige Leben begleiten, unabhängig von Nähe und Distanz und unabhängig von augenblicklicher Stärke oder Schwäche der oder des einzelnen, dass, was auch geschehen mag, dieses starke Band nie zerreisst. Und es gibt in meinem Leben ein paar Freundschaftsbeziehungen, in denen ich mich sicher und ungefährdet fühle, weil ich weiss, dass ich mich in der Gegenseitigkeit und Verlässlichkeit der Beziehung nicht irre, auch nicht in Augenblicken der Krankheit oder der Schwäche oder bei jahrelanger Trennung.

Solche Freundschaft wünsche ich Ihnen, liebe Maturandinnen und Maturanden, Freundschaften, die Ihr Leben begleiten und die Sie selbst aufbauen und am Leben erhalten wie ein Garten, der immer schöner und kostbarer wird, je länger sie ihn kennen, seine Sonnen- und Schattenseiten, seine Regenrationskraft auch in Zeiten des Frosts,  seine üppigen, blühenden Stellen und seine kargen, der Ihnen immer lieber und vertrauter wird, je länger sie an ihm arbeiten und sich ihm verbunden fühlen.

 

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