„Exit“ im Alters- und Pflegezentrum „Hochweid“ in Kilchberg

„Exit“ im Alters- und Pflegezentrum „Hochweid“ in Kilchberg

Strategiegespräch des Stiftungsrates am 9. Juli 2014

 

Als vor einigen Wochen in der „Hochweid“ unter den Bewohnern und Bewohnerinnen durchsickerte, dass ein noch rüstiger Mitbewohner unter Beizug von „Exit“ von einem Tag auf den anderen nicht mehr unter ihnen war, äusserten sich Ratlosigkeit, Erschrecken und ein deutliches Aufbegehren, das in Einzelgesprächen sowie in mehreren Gruppengesprächen zum Ausdruck kam. Um Einzelgespräche hatten mich in diesem Zusammenhang u.a. ein ungefähr gleichaltriger Bewohner gebeten, der unter fortgeschrittenen Parkinson- Belastungen leidet, diese jedoch tapfer akzeptiert und nicht resigniert, ferner eine um beinah dreissig Jahre ältere, noch sehr denkfähige und urteilsbewusste, körperlich aber vielfach geschwächte Bewohnerin, die in der darauf folgenden Woche das Thema auch der Gruppe von acht Frauen und einem Mann vorlegte, die sich wie üblich zum „Salongespräch“ zusammenfanden. Weitere Gespräche zum gleichen Thema wurden von der gleichen Gruppe mehrmals aufgegriffen, das letzte Mal am 10. Juni im Anschluss an eine TV-Sendung, nachdem im Rahmen der Generalversammlung von „Exit“ am 24. Mai 2014  die Legitimation des Alterssuizids beschlossen worden war.

Eine ähnliche Reaktion des Erschreckens und der Ratlosigkeit erlebte ich etwa gleichzeitig bei einer halbseitig gelähmten und sprachbehinderten Frau in einem Alters- und Pflegeheim am anderen Seeufer, als auch dort der von „Exit“ begleitete „Freitod“ einer Mitbewohnerin bekannt wurde, die offenbar nicht zu den schwer Geschwächten und Kranken gehört hatte.

Ich werde zuerst die Fragen und Überlegungen wiedergeben, die von Menschen, die hier im Alters- und Pflegezentrum leben, zum Thema des von „Exit“ unterstützten  Todes geäussert wurden,  anschliessend werde ich auf psychotherapeutische, existenzphilosophische und rechtlich-ethische Aspekte eingehen, die in den Gesprächen tangiert wurden.

 

  1. Wie viel Recht bleibt mir zu leben?

Die Fragen und Überlegungen von Bewohnerinnen und Bewohnern aus dem Alters- und Pflegezentrum „Hochweid“, die sich in den zwei Gruppengesprächen von je 11/2 Stunden und in zwei Einzelgesprächen von ca. derselben Dauer ergaben, habe ich gebündelt und zusammengefasst. Sie widerspiegeln drei unterschiedliche emotionale und ethische Bereiche: einerseits die Ängste, die infolge des in den Medien breit vertretenen, neoliberalen Abbaus sozialethischer Verantwortung für hilfe- und pflegebedürftige Menschen in diesen geweckt werden und sie belasten, andererseits das klare Bedürfnis, im Fall nicht mehr tragbarer Schmerzzustände selber über Sterben und Tod bestimmen zu können, zusätzlich die Forderung, zwischen dem je persönlichen Entscheidungsrecht und der Verantwortung gegenüber den Mitbewohnern und Mitbewohnerinnen zu unterscheiden und letztere ebenso zu achten wie erstere.

Hier die Zusammenfassung der unterschiedlichen Gesprächselemente, zum Teil als klare Meinungsäusserungen, zum Teil als Fragen:

– Wie viel Recht bleibt mir zu leben, wenn ich nichts mehr leisten kann und Tag für Tag Summen von Geld koste? Ist es die finanzielle Schraube der Gesellschaft, die hinter „Exits“ offiziellem Angebot des „Alterssuizids“ steht?

– Kann man so überhaupt noch frei entscheiden? Es heisst doch bei den „Exit“-Bedingungen, man dürfe beim Entscheid zum „Freitod“ nicht beeinflusst werden, doch ist dies überhaupt möglich? Die ganze Presse ist voll von Klage, dass die Leute zu alt werden und die Versicherungen – oder die Familien – belasten. Ich frage mich, ob man so noch unbeeinflusst entscheiden kann.

– Warum lässt die Kirche dies zu? Haben wir nicht die Pflicht, auch leidvolle Momente  des Lebens, überhaupt das Leben zu ertragen? Die vielen Pflichten! Ist es nun auch unsere Pflicht, rechtzeitig zu sterben?

– Ist tatsächlich unser Leben nicht mehr schützenswert, weil wir alt sind und nichts mehr leisten können?

– Bedeutet das Eindringen von „Exit“ ins Pflegeheim, dass auch von mir – von uns – erwartet wird, quasi „freiwillig“ zu gehen und Platz zu machen, weil wir überflüssig sind?

– Hat sich der ehemalige Mitbewohner hier im Haus nicht überlegt, dass uns sein Entscheid verunsichert, mehr noch, in unseren Gefühlen verletzt? Sind wir nicht alle auf dem gleichen Boot?

– Ja, das ist es, darf ein Pflegeheim, in dem wir ohnehin sterben werden, ein Haus sein, in dem zwar nicht auf „höheren“ Befehl „getötet“ wird,  wo aber der Selbstmord medizinisch unterstützt wird, einfach als Altersgründen?

– Ab wann überhaupt ist ein Menschen in der Gesellschaft „überflüssig“? Als ich noch jünger war, da gab es Zeiten, in denen ich fast nicht mehr leben mochte und immer wieder einige Zeit in einer Klinik verbringen musste. Aber mir scheint, dass es damals nicht die Gesellschaft war, die mich unter Druck setzte, es hatte andere Gründe, ich war selber entmutigt und einsam, ohne Zweifel depressiv. Erst mit dem Älter- und Altwerden geht es mir besser, insbesondere seit ich hier im Zentrum lebe.

– Bei mir ist es anders, ich hasse die Zahl 90, ich hasse es, alt zu sein, ich bin neidisch auf diejenigen, die jünger sind. Ich möchte noch Glück erleben können.

– Das Recht auf Freiheit stelle ich nicht in Frage, es ist wichtig, selber über das Sterben entscheiden zu können, wenn das körperliche Leiden nicht mehr ertragbar ist, zum Beispiel bei schweren Krebserkrankungen. Aber ist hier der angemessene Ort fürs Verabreichen von Sterbegift? Der natürliche Tod wartet immer um die Ecke. Braucht es da noch den befohlenen Tod?

– Kann man überhaupt wissen, ob Sterben und Tod nach Einnahme von Pentobarbital leicht geschieht? Es ist trotz allem ein künstlicher Tod, der zugefügt wird, nicht ein natürlicher. Mich schaudert‘s beim Gedanken daran.

– Wie frei sind wir überhaupt? Wie kann man wissen, ob ein solcher Entscheid nicht auf Grund einer momentanen Depression getroffen wird, die nach einiger Zeit wieder vorbei sein kann? Auch ich war früher manchmal schwer depressiv gewesen und hatte ans Sterben gedacht, doch heute bin ich froh, noch zu leben, obwohl ich unter zahlreichen körperlichen Beschwerden leide. Irgendwann wird der Tod selber zu mir kommen.

– Mir scheint auch jetzt oft, mein Leben habe keinen Sinn mehr, ich könne nichts mehr leisten, doch soll ich deswegen das Gift trinken? Eigentlich lebe ich trotzdem immer wieder gern.

– Was meinst du, dein Leben habe keinen Sinn mehr? Ich bin froh, dass du auch hier bist und dass wir uns noch sehen können. Wir sind wirklich auf dem gleichen Boot, wie eben gesagt wurde.

– Wer religiös ist, hat es ein wenig leichter. Die Religion hilft mir, auf den Tod warten zu können und die Zeit vorher zu akzeptieren, auch wenn vieles schwieriger geworden ist. Dank der Religion macht letztlich alles noch Sinn.

– Mir liegt viel an der Freiheit, ich meine an der Möglichkeit, selber über Leben und Tod entscheiden zu können.

– Die Freiheit wird aber eingeschränkt. Andere bestimmen mit, insbesondere die Familienmitglieder. Ich kenne ein Beispiel, das mich beschäftigt. Eine Verwandte von mir, die in einem Alters- und Pflegeheim lebte, wollte nicht mehr leben und wollte mit ilfe von Exit sterbenHilfe von „Exit“ sterben. Sie hatte alles unterschrieben. Die Bedingung der dortigen Heimleitung war, dass sie in der Wohnung ihres Sohnes das Barbiturat zu sich nehme. Dieser aber wollte auf keinen Fall zum Tod seiner Mutter Hand bieten und lehnte „Exit“ ab. So lebte sie noch über zwei Jahre im Altersheim, nun eher leichter, bis sie eines natürlichen Todes starb.

– Mir scheint, die palliative medizinische Methode sei vorzuziehen. Ich habe diese mit meinem Hausarzt vereinbart. Auch meine Söhne sind damit einverstanden. Das heisst, obwohl ich eigentlich mit meinem Leben abschliessen kann, trage ich mir weiter Sorge und tue nichts, was mein Leben verkürzt, aber ich lehne alle massnahmen ab, die das Leben verlängern würden. Das gilt auch für den Fall, dass ich in einem Zustand wäre, in welchem ich nicht mehr selber entscheiden könnte. Gewiss, es werden auch hier Fehler gemacht, trotzdem, es ist eine feste Abmachung, mit der ich mich wohl fühle. Das heisst, die vielen Beschwerden kann ich besser akzeptieren, sie gehören zum Alltag. Operationen, die nicht dringlich sind, lasse ich bleiben, aber wenn ich mir wegen eines Sturzes einen Knochen breche, lasse ich ihn flicken. Sorgfältige Pflege, liebe Besuche, gute Gespräche, Momente der tiefen Ruhe in mir, den Blick in die Natur oder in glückliche Momente der Vergangenheit, all dies kann ich geniessen. So hat das Leben noch Sinn. Ob ich meine Pflichten erfülle oder nicht, das überlasse ich Gott.

 

  1. Was bedeutet unter den Bedingungen des späten Zusammenlebens im Alters- und Pflegezentrum „Hochweid“ die von „Exit“ angebotene „Freitod“begleitung?

Die offene Auseinandersetzung und Meinungsäusserung  einer Gruppe von Bewohnern und Bewohnerinnen der „Hochweid“  ermöglicht, in deren Sinn dazu Stellung zu nehmen, aus Zeitgründen so knapp wie möglich.

II 1. Für den begleiteten „Freitod“ setzt „Exit“ fünf Bedingungen:

– Urteils- und Entscheidungsfähigkeit,

– frei sein von Affekten,

– frei sein vom Einfluss Dritter,

– dauerhafter Sterbewunsch und

– die Bereitschaft, die nicht mehr korrigierbare Handlung selber vorzunehmen, das

heisst, sich selber die tödliche Menge Pentobarbital zuzuführen, die von  „Exit“ zur Verfügung gestellt wird.

 

II 2. Die drei ersten  Bedingungen beruhen auf der Voraussetzung innerer Freiheit.
Gedankenfreiheit sowie Freiheit im Sinn eigener Wahlmöglichkeit im Entscheiden und Handeln ist ein menschliches Grundrecht, das einem Grundbedürfnis entspricht.

Die Grundrechte finden sich verankert in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK von 1950 /53, von der Schweiz ratifiziert 1971) verankert wurden und die sich zum Teil auch in der jüngsten Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV von 1999) bestätigt finden. Sie betreffen die menschliche Würde jedes Individuums und das Recht auf Schutz dieser Würde (BV Art. 7), das Recht auf Leben und persönliche Freiheit  (BV Art. 10), das Recht auf Gedankenfreiheit (EMRK Art. 9) sowie das Recht auf Schutz der Privatsphäre (BV Art. 13).

Diese Grundrechte, insbesondere das Recht auf freies Entscheiden und Handeln bezüglich des eigenen Lebens und Sterbens  gilt für die meisten der in der „Hochweid“ lebenden Frauen und Männern, die sich dazu geäussert haben, als hoher Wert, der dem Recht auf menschliche Würde gerecht wird, somit als ein zentrales Grundrecht, vor allem wenn es infolge schwerer, unheilbarer Schmerzbelastungen nicht mehr ertragbar erscheint, weiter zu leben. Die meisten möchten dieses Grundrecht auf keinen Fall in Frage stellen. Es beruht auf der Gedanken- und Entscheidungsfreiheit, die unter allen Grundrechten als von höchstem Wert erachtet wird.

Doch was vom Begriff her einleuchtend und einfach erscheint, erweist sich als komplex.

Als von hohem Wert empfinden Menschen das, was sie als richtig und als gut beurteilen, mithin was in moralischer Hinsicht ihrem „guten Gewissen“ entspricht. Was dem „guten Gewissen“ entspricht, bewirkt ein Gefühl innerer Sicherheit, dadurch ein Wohlbefinden. Was dem „guten Gewissen“ nicht entspricht, wird als unrichtig oder als falsch beurteilt und empfunden, es verunsichert und weckt Gefühle der Unruhe, eventuell der Bedrohung und der Angst. Wenn es somit um ein Beurteilen des eigenen Lebenswertes und  um wichtige Entscheide geht, sind stets Gefühle die massgeblichen Kräfte. Dies war schon Immanuel Kant bewusst, als er mit 66 Jahren, für damalige Verhältnisse im hohen Alter, noch die „Kritik der Urteilskraft“ schrieb.

Doch ist der gefühlsmässig gesteuerte Impuls, der das Entscheiden beeinflusst, nicht gerade ein „Affekt“, der gemäss der Bedingungen von „Exit“ beim Entscheid eines begleiteten „Freitodes“ ausgeschlossen sein müsste? Und werden die Gefühle, die in starkem Mass das Entscheiden beeinflussen, nicht zutiefst  durch die Macht der Beziehungen und Abhängigkeiten geschaffen, die das Umfeld derjenigen darstellen, die über das eigene Leben und Sterben entscheiden? Kann somit die Bedingung, frei vom Einfluss Dritter zu entscheiden, überhaupt erfüllt werden?

II.2.  Ein weiterer Aspekt, der die am Gesprächsaustausch Beteiligten beschäftigte, betrifft die Forderung von „Exit“, dass der Todeswunsch von Dauer sein müsse. Dauer ist ein Aspekt der Zeit, der ganz unterschiedlich verstanden wird. Können Denken und Entscheiden überhaupt von Dauer sein? Ist nicht beides vorweg beeinflusst von aktuellen Einflüssen, von Bedürfnissen und Wünschen, die sich infolge neuer Erfahrungen möglicherweise ändern, sich möglicherweise aber auch wiederholen und vertiefen. Es kann tatsächlich ein gedankliches oder emotionales Anhalten des Zeitablaufs  geschehen, manchmal durch wirkliche oder durch träumerische Erfahrungen des Glücks, häufiger aber infolge sich zusammenballender Angst und Verzweiflung. Insbesondere im Zustand schwerer Depression wird der gestalterische, offene Blick auf die Zukunft blockiert, es ist kein Planen und kein Vorwärtsschauen mehr möglich, keine neuen Impulse werden zugelassen, mit welchen Änderungen zum Guten ins Auge gefasst werden könnten. Es ist ein Dauerzustand dunkler Trostlosigkeit. Wir diese „Dauer“ von „Exit“ gemeint? Allerdings kann von Entscheidungsfreiheit in diesem Zustand nicht die Rede sein.

Im Lauf des Lebens gab es für die meisten Menschen aus der „Hochweid“-Gesprächsgruppe Passagen, in denen das Leben schwer erträglich erschien und der Tod gewünscht wurde. Nun, in der letzten Passage des Älter- und Altwerdens, die sie aus eigener Wahl in der „Hochweid“ erleben, wird für diejenigen, für welche die Möglichkeit der Erinnerung, des Denkens und Erlebens erhalten bleiben konnte, die Zeit in ihrer vielschichtigen Bedeutung bewusster erlebt: einerseits die geregelte, gezählte und berechnete Zeit, die aus Zahlen und Namen besteht, die von der Gesellschaft, von Ämtern und Versicherungen kontrolliert wird und die zumeist belastet, da sie in erster Linie mit Forderungen nach Genauigkeit und Ordnung erlebt wird. Jener Ausruf , den eine Frau wagte, dass sie die Zahl „90“ hasse, die ihr seit ihrem letzten Geburtstag anhafte, dass sie noch glücklich sein wolle, widerspiegelt einen Teil des Widerstands gegen diese Bedeutung der Zeit, gleichzeitig den Wunsch, die innere Zeit anhalten zu können, die dem kindlichen Träumen von Glück entspricht, oder sie bewusster zu erleben und mit grösserer Ruhe zu nutzen, da in ihr das Geschenk des Lebens, auch des späten Lebens liegt.

 

 

III. Stehen Freiheit und Pflichterfüllung im Widerspruch zueinander?

 

In den meisten Fällen gelten für Frauen und für Männer, die in der „Hochweid“ leben, die  religiösen und gesellschaftlichen Wertkriterien, nach welchen sie erzogen wurden und gelebt haben. Selten weichen sie davon ab und wagen es, ganz andere Entscheide als die gewohnten zu treffen. Wie in den Aussagen, die ich zitiert habe,  deutlich wird, steht für die meisten die Pflichterfüllung im Vordergrund.

Trifft dies auch für diejenigen aus der Gesprächsrunde zu, die dem individuellen Recht zur Selbstbestimmung von Sterben und Tod zustimmen? Es ist interessant, dass für diese Menschen die Entscheidungsfreiheit nicht der Pflicht widerspricht, sich um das eigene Leben zu sorgen, mithin auch, wenn wegen nicht mehr ertragbarer Schmerzen der Tod nach eigenen Erwägungen als sinnvoll bewertet wird, fürs Sterben die volle Verantwortung zu tragen. Das „gute Gewissen“ wird dabei von ihnen nicht in Frage gestellt, d.h. „Exit“ ist für sie ein akzeptierbares Angebot auf der Basis der persönlichen Verantwortung.

Ein anderer Teil kann aus religiösen Gründen die Selbstbestimmung über Sterben und Tod nicht mit dem „guten Gewissen“ in Übereinstimmung bringen, wohl aber ist von hohem Wert die Verringerung von Leiden und der Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen, wenn das Lebensende ohnehin  bevorsteht. Für diesen Teil der Bewohnerinnen und Bewohner ist nicht „Exit“ ein akzeptierbares Angebot, sondern die palliative Medizin und Pflege.

Beim einen wie beim anderen Teil fand jedoch ein klares Unbehagen Ausdruck, wenn das Alters- und Pflegezentrum als Ort für den Vollzug des von „Exit“ begleiteten Freitodes erwähnt wurde. Die Tatsache des begleiteten „Freitodes“, der in der „Hochweid“ Anlass zu mehrfachem Gesprächsaustausch gab, blieb mahnend in der Erinnerung aller Beteiligten wach.

Spürbar ging es dabei um ein sozialethisches Empfinden, das ebenfalls einen hohen Wert tangiert: Das Alters- und Pflegezentrum gilt gesamthaft als Ort oder Raum kollektiver Verantwortung.

Kollektive Verantwortung betrifft das Wohlergehen derjenigen, die Entscheide treffen wie das Wohlergehen derjenigen, die nicht selber entscheiden, die aber ebenfalls zu diesem Ort oder in diesen Raum gehören und deren Gefühl von Lebenswert davon abhängig ist. So sind diejenigen, die nicht entscheiden, als Kollektiv schutzbedürftiger als derjenige oder diejenige, der/die für sich privat entscheidet, den eigenen Tod mit Unterstützung von „Exit“ zu veranlassen. Das Unbehagen, das deutlich Ausdruck fand, lässt den Schluss zu, dass es für den privaten Entscheid des privaten Ortes bedarf. Wie das von einer der Gesprächsteilnehmerinnen geschilderte Beispiel, das ihre Tante und deren Sohn betraf,  erläutert, hängt auch dieser private Ort wieder von einem privaten Entscheid ab, der in jenem Fall eine Verweigerung war.

Gewiss lässt sich privatrechtlich das eine Zimmer, das in der Regel zum letzten Wohnort der Menschen in Alters- und Pflegeheimen wird, auch als deren Sterbeort verstehen. Das wird in keiner Weise in Frage gestellt, wenn es um ein natürliches „Ableben“ geht, im Gegenteil, da ist Sterben Teil des Lebens, das vom Kollektiv im Wissen und Verstehen begleitet wird. Wenn aber der Tod medizinisch organisiert wird und gewissermassen eine Tötung geschieht, wenngleich diese, wie es bei „Exit“ der Fall ist, als „freier Entscheid“ legitimiert wird, so ist die Reaktion des Kollektivs sehr viel komplexer und geht mit Erschrecken und Furcht einher, wie die geschilderten Reaktionen in den Gesprächen deutlich werden lassen. Es bedarf der Beachtung, dass im Vordergrund der Auseinandersetzung die Frage stand, ob zu befürchten sei, dass sich aus Kostengründen eine kalt berechnete Legitimation des „Altersfreitods“ ausbreite, die in den Medien zunehmend einen breiten Platz wissenschaftlich begründeter, „vernünftiger Entscheide“ beanspruche.

Möglicherweise verband sich das Erschrecken, das in Zusammenhang dieser offenen Frage in den Gesprächen mitschwang, mit dem Vergleich der aktuellen Legitimation pränataler Tötung von Kindern mit genetisch bedingten Schäden, deren Leben ebenfalls als kostenbelastend und als nutzlos qualifiziert wird, möglicherweise auch in befürchteter Fortsetzung der vom Nationalsozialismus propagierten und umgesetzten Euthanasie, der Tötung „lebensunwerten Lebens“, die als gesellschaftlich entlastender, sinnvoller „Gnadentod“  von Ärzten und medizinischem Personal vollzogen wurde? Diese Fragen bleiben offen, bedürfen jedoch der Beachtung.

 

Damit schliesse ich ab, mit grossem Dank für die Aufmerksamkeit.

 

 

 

 

 

 

 

 

[1] geb. 1940, Doktorat in Philosophie, Staatsrecht/Menschenrechte und Politologie (Uni Zürich /Dissertation zu Simone Weil. Eine Logik des Absurden. 1984 Bern, Haupt Verlag). Zweitstudium in Psychologie und psychoanalytischer Traumatherapie (Uni Zürich). Gesellschaftsanalytische Tätigkeit als Journalistin für zahlreiche Medien und während des Bosnienkriegs für die Schweizerische Flüchtlingshilfe. Langjähriges Mitglied des Psychoanalytischen Seminars Zürich PSZ und Vorstandsmitglied der Fachstelle für Psychotraumatologie Zürich. Eigene Praxis in Zürich, Lehraufträge an Universitäten in der Schweiz und im Ausland, grosse Publikationsliste. Jüngste Erscheinungen: Kreative Vernunft. Mut und Tragik von Denkerinnen der Moderne. 2010/2013 Zürich, edition 8. – Erbschaften ohne Testament. Über Freiheit und Unfreiheit im persönlichen Werden. 2014 Zürich, edition 8.

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