“Handlungen, die wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind. Wie funktioniert das?”

 Buchbeitrag für: Willi Goetschel, “Perspektiven der Dialogik – Zürcher Kolloquium zum 80. Geburstag von Hermann Levin Goldschmidt”, Passagen Verlag Wien, ISBN 3-85165-129-4

“Handlungen, die wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind.                                       

Wie funktioniert das?”

 

Im Spannungsbogen der “condition humaine”: Beiträge zu einer Philosophie der Dialogik im Werk von Rosa Luxemburg, Simone Weil und Hannah Arendt

Im dritten Heft der privaten Aufzeichnungen von Simone Weil aus dem Jahr 1941 (Cahiers I) findet sich die Frage “Wie funktioniert das? Handlungen, die wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind?” Die Frage wurde mir zum Anstoss, im Werk von Simone Weil selbst, von Rosa Luxemburg und von Hannah Arendt, diesen drei so ungleichen, eigenwilligen und zugleich schwesterlich verwandten Denkerinnen, nach Antworten zu suchen. Bei meiner Suche nach Antworten ging ich von der Annahme aus, dass Handeln dann Hebel zu mehr Wirklichkeit sein kann, wenn es Handeln im Sinn der Dialogik ist. Das heisst, wenn Handeln im Sinn und in Richtung der Tatsache geschieht, dass Menschen immer eingebunden sind in Beziehungen und Verhältnisse, die sich ihrer Wahl entziehen, die sie aber selbst gestalten, im Bewusstsein der unauflösbaren Widersprüche, die sich dabei stellen. Die Beziehungen und Verhältnisse betreffen das zwischenmenschliche und das gesellschaftliche Zusammenleben unter Bedingungen der Zeitlichkeit und der Geschichtlichkeit, das heisst unter Bedingungen unausweichlicher Notwendigkeit, unter denen die Freiheit, um die die Menschen vor allem durch den Stachel und die Chance des Widerspruchs und durch die – nicht erfüllbare – Sehnsucht nach Überwindung des Widerspruchs wissen, zugleich Voraussetzung und Ziel der Überwindung der Notwendigkeit ist. Bei meiner Suche nach Antworten schwebte mir auch vor, für die besonderen Bedingtheiten unseres heutigen In-der-Welt-seins, nämlich für die exponentiell angewachsene Komplexität  in einer durch Sprachverlust, Bedeutungsverlust, Sinnverlust, Hoffnungsverlust und damit durch gesteigerte Gewaltbereitschaft gekennzeicheten Welt, in der zugleich Ansätze dialogischen Konfliktverhaltens spürbar werden, im Werk der drei Denkerinnen ein “Hebelgesetz” des Handelns zu finden, das auf “mehr Wirklichkeit” hin, das heisst auf eine gerechtere, friedlichere, lebbarere Wirklichkeit hin untersucht und angewendet werden könnte.

Wenn von “Handeln” die Rede ist, so meine ich, nach dem Ansatz Hannah Arendts in “Vita activa”, jene Tätigkeit, “die sich ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt. Die Grundbedingung, die ihr entspricht, ist das (schon von Kant so erkannte, M.W.) Faktum der Pluralität, nämlich die Tatsache, dass nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern”. Hannah Arendt räumt dann ein, dass zwar jede Art menschlicher Bedingtheit auf das Politische bezogen ist, dass aber die Bedingtheit durch Pluralität auf ganz besondere Weise die Tatsache des Politischen erklärt, nämlich das über Sprache, nicht über Gewalt praktizierte Aushandeln und Verhandeln dessen, was für die verschiedenen Vielen, die zusammen leben, nützlich und gut ist. “Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind”, hält sie fest. Handeln, das “wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sein kann”, ist somit immer politisches Handeln im Sinn der Dialogik. Alles zwischenmenschliche Handeln ist politisch  relevant.

Um den Spannungsbogen zu bezeichnen, der zwischen den unausweichlichen Bedingungen des In-der-Welt–seins und der Sehnsucht nach deren Überwindung besteht, gebraucht Simone Weil den Begriff der “condition d’existence” : “La notion de ‘condition d’existence’ est pour nous le seul lien entre le bien et la nécessité”, hält sie fest. Sie gebraucht den Begriff der “condition d’existence”, um die Verbindung zu erklären, die sowohl das Leiden an der Existenz erklärt, das Leiden über die Unausweichlichkeit von Unglück, Verzweiflung, Schuld und Tod wie dessen zweifachen Ansatz der Überwindung: Überwindung einerseits durch das Bedürfnis nach Rückkoppelung des existentiellen Ichs in die Transzendenz, andererseits durch das Streben nach Veränderung der das Leiden verursachenden Bedingungen, insbesondere der Bedingungen, die Armut, Ausbeutung, Unterdrückung und Erniedrigung verursachen und aufrechterhalten. So verbindet Simone Weil mit dem Begriff der “condition d’existence” einen doppelten Auftrag: einen spirituellen, der an die platonische und spinozistische intuitive Kognition, zum Teil auch an lurianische Traditionen anknüpft und der die einzelne Existenz über den Prozess der “décréation” (des Entwerdens) aus der existentiellen Bedingtheit hinausführen soll. Sodann einen revolutionären, der sich auf die Tätigkeit des Denkens, mithin auf die Tätigkeit der Freiheit abstützt und durch den die Bedingungen des “déracinement” der Menschen, der “Entwurzelung”, verändert werden sollen. Was Simone Weil als Resultat dieses zutiefst politischen Handelns versteht, “l’enracinement” oder die “Einwurzelung” der Menschen in Arbeits- und Weltbedingungen, in Bedingungen des Zusammenlebens, in denen die Grundbedürfnisse aller gestillt werden, in denen Bildung, Erholung, Kunst und Wissen nicht das Privileg weniger sind, in denen Kriege undenkbar werden: das soll heute als ihr Beitrag zu einer Philosophie der Dialogik untersucht werden.

Vorher aber will ich erklären, wo ich den dialogischen Ansatz im Werk Hannah Arendts und Rosa Luxemburgs sehe und was ich daraus hervorheben möchte. Dass Hannah Arendt in der Tatsache der Pluralität die grundsätzliche Bedingung des Handelns wie des Sprechens erkennt, mithin die grundsätzliche Bedingung des Politischen, wurde schon erwähnt. Pluralität, führt sie weiter aus, zeigt sich zugleich als Gleichheit (oder Gleichartigkeit) und als Verschiedenheit. “Ohne Gleichartigkeit gäbe es keine Verständigung unter Lebenden, kein Verstehen der Toten und kein Planen für eine Welt, die nicht mehr von uns, aber doch immer von unseresgleichen bevölkert sein wird. Ohne Verschiedenheit, das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen, die ist, war oder sein wird, bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung: eine Zeichen- und Lautsprache wäre hinreichend, um einander im Notfall die allen gleichen, immer identisch bleibenden Bedürfnisse und Notdürfte anzuzeigen” (Vita acitva, S.164). Hannah Arendt erkennt, dass das Handeln “der Verständigung unter Lebenden” nur dienen kann, weil es in diese Verständigung auch die nicht mehr Lebenden und die später Lebenden einzubeziehen fähig ist. Mit anderen Worten: dass das Handeln den Bedingungen der Zeitlichkeit nur genügen kann, weil es, als der aktive Modus der Freiheit, das vorweg so fragile Zusammenleben in Hinblick auf das Gewicht der Vergangenheit, “die Unwiderruflichkeit des Getanen”, wie in Hinblick auf das bedrohlich Dunkle des Kommenden, “die Unabsehbarkeit der Taten”, befreien kann, “nicht aus einer anderen und potentiell höheren Fähigkeit heraus, sondern aus den Möglichkeiten des Handelns selbst”: durch die menschliche Fähigkeit zu verzeihen sowie durch das Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten. In dieser zeitübergreifenden Funktion des Handelns liegt seine für die politische Praxis hervorragende, weit über die alltäglichen gesellschaftlichen Erfordernisse hinausweisende Bedeutung, auf die ich im Besonderen eingehen werde.

Rosa Luxemburg kannte den Begriff der “condition humaine” nicht, wohl aber den existentiellen Spannungsbogen, der damit gemeint ist und den sie “das ganze Leben” nannte. Sie erkannte dessen Einbindung sowohl in eine persönliche wie in eine historische Aufgabe: die persönliche bedeutete, trotz der Entbehrungen, trotz der Verluste und Anfeindungen, glücksfähig zu sein; die politische und historische, alles Streben, alle Energien auf das eine Ziel, die Revolution und damit die Errichtung einer wahrhaftigen, friedlichen und umfassenden Arbeiterdemokratie auszurichten.  Das dialogische Moment, das in ihrem politischen Entwurf “Handlungen” vorsieht, die “wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind”, findet sich auf besonders klare Weise in ihrer Auseinandersetzung mit Lenin und dem Bolschewismus, in ihrer Kritik von Zentralismus und Terror, in ihrer Forderung nach einer gewaltfreien, friedlichen Revolution, die durch die Bewusstseinsstärke und durch den Zusammenhalt aller unterdrückten Menschen in der Welt zustandekäme und eine sozialistische Demokratie schaffen würde, in der die Freiheit als die Freiheit der Andersdenkenden garantiert wäre. Dieses dialogische Moment im Werk Rosa Luxemburgs soll näher untersucht werden.

Bevor ich auf die nähere Untersuchung und damit auf die Antworten eingehe, die sich auf die zu Beginn gestellte Frage im Werk der drei Denkerinnen finden, eine Bemerkung, die für alle drei gilt. Bedeutungsvoll erscheint mir, dass sowohl Rosa Luxemburgs “Spartakusbriefe” und ihre (nicht vollendete und erst posthum durch Paul Levi 1922 erstmals veröffentlichte) Schrift über die “Russische Revolution”, ebenso wie Simone Weils Werk “L’Enracinement” (1949 durch Albert Camus herausgegeben) als eine Art “Zeugnis” gelten müssen, das je im letzten Jahr vor dem Tod der zwei Frauen aus der Erfahrung äusserster Gewalt und menschlicher Entwürdigung geschrieben wurde: bei Rosa Luxemburg 1918 im Breslauer Gefängnis aus der Erfahrung der Ohnmacht ihres Widerstandes gegen die kompromissbereite Kollaboration der SDP in der Frage der Kriegskredite, gegen den Ausbruch des Weltkriegs wie gegen den Meinungsterror innerhalb des Leninistischen Parteiapparates, bei Simone Weil 1942/43 im Londoner Exil aus der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, bei beiden – trotzdem – aus der Hoffnung auf eine aus dem Zusammenbruch erstarkende demokratische, humanistische Organisation des Proletariats (Luxemburg) oder der Arbeiterschaft (Weil). Dass auch Hannah Arendts “Vita activa” (in der englischen Originalausgabe “The Human Condition”), 1958 erschienen und von ihr eigentlich mit “Amor mundi” betitelt, auf Grund der Erfahrungen geschrieben wurde, die sich, nach der Menschenschlächterei in den nationalsozialistischen Tötungsfabriken und auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs, nach den (damals im stalinistischen Machtbereich noch nicht überwundenen) menschenverachtenden totalitären Systemen, nach dem Einsatz der Atombombe, nach der unter den sowjetischen Panzern erstickten ungarischen Revolution, Erfahrungen, als Niederlage des Politischen zeigten, die aber gerade deshalb einen Gesellschaftsentwurf erforderten, dem allein politisches Handeln – im Sinn der Dialogik “Handeln das wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit ist” – zugrundeliegen sollte. Bedeutungsvoll erscheint mir, dass mithin den hier untersuchten Werken der drei Denkerinnen Erfahrungen der äussersten kollektiven Gewalt und Entwertung menschlichen Lebens vorangingen, ohne dass ihr Vertrauen in eine zu schaffende lebenswerte Organisation des menschlichen Zusammenlebens zerstört werden konnte: Vertrauen – emuna – ein die drei so ungleichen und so verwandten Frauen verbindendes Merkmal jüdischer Tradition. Was Rosa Luxemburg in ihrer Schrift über die “Russische Revolution” festhielt, gilt auch für Simone Weil und Hannah Arendt: “Das Negative, den Abbau kann man dekretieren, den Aufbau, das Positive, nicht. Neuland. Tausend Probleme. Nur Erfahrung ist imstande zu korrigieren und neue Wege zu öffnen. Nur ungehemmtes, schäumendes Leben erhält schöpferische Kraft, korrigiert selbst alle Fehlgriffe (…)”. Dies gilt für alle drei Denkerinnen.

Nun zu den besonderen Antworten:

Simone Weil ging in “Enracinement”, ihrer dialogischen politischen Ethik, von einem – zuerst einmal merkwürdigen –  Axiom aus: “La notion d’obligation prime celle de droit qui lui est subordonnée et relative”. Rechte haben, hält Simone Weil fest, zwar eine faktisch eminente Bedeutung, jedoch ist diese Bedeutung konditional. Das heisst, Rechte können erst wirksam werden, wenn sie anerkannt werden, nur in Funktion der zugrundeliegenden Verbindlichkeit und deren Anerkennung, aus der sich konkrete Pflichten ergeben. Der einzelne Mensch ist immer zugleich Subjekt und Objekt  der gleichen Verbindlichkeit, unabhängig davon, ob er diese anerkenne oder nicht. “L’objet de l’obligation, dans les choses humaines, est toujours l’être humain comme tel. Il y a obligation envers tout être humain, du seul fait qu’il est un être humain, sans qu’aucune autre condition ait à intervenir, et quand même lui n’en reconnaîtrait aucune” (“L’Enracinement”, S.11). Unverkennbar ist der Rekurs auf das Kantische Axiom in der “Metaphysik der Sitten” (AB 43, 44 bis AB 48), demzufolge der Mensch kraft seines Freiheitsvermögens, das heisst kraft der “Menschheit” in ihm, die Pflicht habe, sich “andere nicht zum blossen Mittel”, sondern “zugleich zum Zweck” zu machen, eine Pflicht, die Kant als “Verbindlichkeit aus dem Recht der Menschheit in unserer eigenen Person” erklärt. Simone Weil leitet die Verbindlichkeit ebenfalls aus der Tatsache des Menschseins ab, das immer schon Mitmenschsein ist, eine Verbindlichkeit, die unaufhebbar ist, die unabhängig von Gesetzgebungen und anderen Abmachungen gilt. Die Pflichten, die aus ihr folgen, sind doppelt begründet. Sie ergeben sich aus der Tatsache der je gleichen “destinée éternelle” der Menschen sowie aus der je gleichen Bedürftigkeit, “par les besoins”. Damit ist allerdings mehr gemeint ist und existentiell Umfassenderes, als das, was Hannah Arendt als die “identisch bleibenden Bedürnisse und Notdürfte” bezeichnet. In dem, was Simone Weil als Bedürftigkeit versteht, ist die ganze “condition d’existence” in der Begründung des geforderten zwischenmenschlichen Handelns eingeschlossen, die Erfüllung sowohl der physischen Bedürfnisse wie der geistigen, die Stillung des körperlichen Hungers wie des seelischen.  Doch wenn auch “obligation” im Verhältnis der Menschen untereinander analog zu verstehen ist wie “religion” im Verhältnis des einzelnen Menschen zu Gott, so bedarf es, um der “obligation” zu genügen, nicht nur der Aufmerksamkeit (die zur Erfüllung der “religion” erfordert ist), sondern des Handelns. Eben jenes Handelns, das “wie Hebel hin auf mehr Wirklichkeit wirkt. Wie funktioniert das?”

In der Bedürftigkeit drückt sich eine Haltung der Erwartung aus. Deren Entsprechung, auf der aktiven Seite, ist der Respekt, der selbst wiederum in Freiheit gründet. Der Respekt vor den grundlegenden Bedürfnissen macht die Schaffung gerechter Lebens- und Arbeitsverhältnisse nötig: die Schaffung von Wohnverhältnissen in überschaubaren Gemeinschaften, von Arbeitsverhältnissen in Werkstätten, in denen alle Arbeitsprozesse, von der Bearbeitung des Rohmaterials bis zum fertigen Produkt, in der Verantwortung der gleichen Arbeiter und Arbeiterinnen liegen. Dies führt, mit der Aufhebung tayloristischer Produktionsmethoden, zur Aufwertung der Facharbeit und der Handarbeit, nicht in erster Linie um der Produkte willen, sondern um der Menschen willen. Dies führt zu Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten für alle im Sinn einer breit zu verstehenden “culture ouvrière” und damit zu einer Aufwertung jeder einzelnen Existenz.

Den Zweck der kleineren und grösseren Gemeinschaften, selbst den Zweck des Staates, sieht Simone Weil in der Verhinderung der Unterdrückung. Daher ist die ideale Staatsform, ihr zufolge, die Arbeiterdemokratie. Der Auftrag an den Staat schliesst insbesondere die Verhinderung von Kriegen ein. Kriege, stellt Simone Weil fest, sind die gewalttätigste Zuspitzung eines Systems der Unterdrückung, der Menschenverachtung und der Willkür. Es gibt keinen Krieg, hält sie fest, der nicht zuletzt ein Krieg der Mächtigen gegen diejenigen Menschen ist, die ihn führen müssen und die ihn ihm verstümmelt und getötet werden. Jeder Krieg ist weniger ein Krieg zwischen den Staaten als ein Ereignis im Innern der Gesellschaft.

Die Antwort, scheint mir, hat auch heute noch Gültigkeit. Simone Weils Forderungen sind nach wie vor unerfüllt. Angesichts der Hilflosigkeit des inflationären Menschenrechtsrekurses, der weder Kriege noch terroristische Gewalt noch Unrechtsgesetze zu verhindern vermag, der weder Verschwendung auf der einen Seite noch äussersten Hunger auf der anderen bremst, könnte die Besinnung auf die gleiche Bedürftigkeit aller Menschen und auf die sich daraus ergebende dialogische Respektierung der Bedürfnisse eine Neuorientierung des politischen Handelns in die Wege leiten.

Rosa Luxemburg hat ihre politischen Forderungen mehr als zwei Jahrzehnte vor Simone Weil im gleichen Sinn, nur radikaler,  formuliert, wenngleich sie sich nicht auf Kant, sondern auf Marx abstützte (insbesondere auf den Marx des Frühwerks) und dabei zugleich den freiheitsfeindlichen Missbrauch der marxistischen Lehre durch den Bolschewismus, auch den damit verbundenen Terror hefitg kritisierte. Rosa Luxemburg wie Simone Weil prangerten ebenso die systematische Unterdrückung und Verelendung der lohnabhängigen und ständig der drohenden Arbeitslosigkeit ausgesetzten Arbeiterschaft an wie die imperialistische Unterdrückungspolitik der europäischen Industrienationen. Was auf besondere Weise Rosa Luxemburg in die Vereinzelung trieb, was ihre Kritik so schwer verständlich machte, war, dass sie nicht einem simplizistischen Schwarz-Weiss- (resp. Schwarz-Rot)-Denken verfiel, dass sie nicht ein stures Entweder-Oder vertrat, sondern zugleich gegen das oppressive bürgerlich-militaristische  Unrechtssystem in Deutschland kämpfte, wie auch gegen das zentralistische System  allgemeiner Unfreiheit, das in Russland nach der Revolution etabliert wurde. “Das öffentliche Leben der Staaten mit beschränkter Freiheit ist eben deshalb so dürftig, so armselig, so schematisch, so unfruchtbar, weil es sich durch Ausschliessung der Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts absperrt”, schreibt sie in “Die Russische Revolution”. Und sie fährt fort: “Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein (..)”. Rosa Lxemburg schildert in der Folge, wie schliesslich allein einige energische und zielstrebige Parteiführer regieren, die pro forma von Zeit zu Zeit die Elite ihrer Anhänger zu Parteiversammlungen aufbieten, auf denen sie sich applaudieren und ihre voraus beschlossenen Resolutionen absegnen lassen, “im Grund also eine Cliquenwirtschaft”, folgert sie, “eine Diktatur, aber nicht eine Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, das heisst Diktatur im bürgerlichen Sinn, im Sinn der Jakobinerherrschaft. Solche Zustände”, fährt sie fort, “müssen eine Verwilderung des öffentlichen Lebens zeitigen: Attentate, Geiselerschiessungen etc. Das ist ein übermächtiges, objektives Gesetz, dem sich keine Partei zu entziehen vermag”. An dieser Stelle finden sich als Randbemerkung jene eindringlichen Sätze, die auf axiomatische Weise das dem Politischen innewohnende dialogische Prinzip ausdrücken: “Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitlgieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‘Gerechtigkeit’, sondern weil das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ‘Freiheit’ zum Privilegium wird”.

Wenn ich das politische Klima hier in der Schweiz während des vergangenen Jahrs in Erinnerung rufe – die wachsende Aufhetzung gegen Andersdenkende, die Verunglimpfung der Linken, die zunehmende Indifferenz der Bevölkerung für die wirklichen politischen Aufgaben (das “einschlafende öffentliche Interesse”) und damit die leichtsinnige Preisgabe der demokratischen Mitsprachemöglichkeit, die wachsende Bereitschaft unter den bürgerlichen Parteien, Sozialleistungen an Arbeitslose, an alte Menschen, an Frauen mit Kindern, an problematische und zum Teil schon völlig ausgegrenzte Jugendliche abzubauen und damit die Kluft zwischen den erfolgreichen Reichen und den erfolglosen Armen noch zu verbreitern, wenn ich sodann an die Bereitschaft zu überhandnehmenden Kontrollen und Zwangsmassnahmen Fremden gegenüber denke, an die Verengung der gesellschaftlichen Perspektive auf freiheitsfeindliche “innere Sicherheit”, an das – unter dem Vorwand der Meinungsfreiheit – ungestörte Gewährenlassen einer Handvoll bürgerlicher Politiker (leider auch einiger Politkerinnen), die, sekundiert durch eine simplifizierende und aufhetzende Boulevardpresse, das Zusammenleben der Vielen in ihrer Verschiedenheit und Gleichheit als Bedrohung und als “humanitären Kitsch” deklarieren, die grell und fett das Feindbild der Überfremdung malen, wenn ich an das gleichzeitig zustandegekommene Referendum gegen die Anti-Rassismus-Konvention denke, an die Abschiebung und Zwangsausschaffung von Flüchtlingen in Länder, in denen Krieg und Terror herrschen  -, wenn ich mir all dies und mehr noch in Erinnerung rufe, so meine ich, dass Rosa Luxemburgs demokratische Demokratievorstellung heute hier in der Schweiz “wie ein Hebel hin zu mehr Wirklichkeit” sein könnte, eine Chance für unsere so kurzatmig und überängstlich gewordene Demokratie.

Und Hannah Arendts Antwort?

Für Hannah Arendt ist die “condition humaine” unabtrennbar verbunden mit Freiheit, das heisst mit der dem Handeln innewohnenden Fähigkeit, einen Anfang zu setzen, Veränderungen zu schaffen, Widersprüche auszuhalten oder Widerstände zu überwinden. Die meisten Widerstände im Bereich der menschlichen Angelegenheiten jedoch folgen selbst aus dem Handeln, aus fehlerhaftem und schuldhaftem Handeln sowie aus den Folgen, die sich daraus ergeben, oft über Generationen hinweg. “Das menschliche Leben (d.h. das Leben in der Gemeinschaft der Vielen M.W.) könnte gar nicht weitergehen”, sagt Hannah Arendt, “wenn Menschen sich nicht ständig gegenseitig von den Folgen dessen befreien würden, was sie getan haben, ohne zu wissen, was sie tun. Nur durch dieses dauernde gegenseitige Sich-Enlasten und Entbinden können Menschen, die mit der Mitgift der Freiheit auf die Welt kommen, auch in der Welt frei bleiben, und nur in dem Masse, in dem sie gewillt sind, ihren Sinn zu ändern und neu anzufangen, werden sie instand gesetzt, ein so ungeheures und ungeheuer gefährliches Vermögen wie das der Freiheit und des Beginnens einigermassen zu handhaben”. Beim Verzeihen und Vergeben geht es, stellt sie klar, nicht um die Folgen des Handelns, nicht um die “Sache”, sondern um den Menschen, der gehandelt hat, um dessen Entlastung von Schuld, um dessen Neu-Befähigung zur Freiheit. Hannah Arendt versteht das Verzeihen als ein dem ursprünglichen Handeln ebenbürtiges Tun, während die Rache immer Re-Aktion bleibt, immer an das ursprüngliche fehler- oder schuldhafte Handeln gebunden bleibt und damit der Freiheit entbehrt. Als etwas Drittes versteht sie die Strafe, durch welche Verfehlungen und Schuld abgetragen werden können. “Diejenigen Vergehen allerdings”, hält sie fest, “die sich als unbestrafbar herausstellen, sind gemeinhin auch diejenigen, die wir ausserstande sind zu vergeben”. Es sind Vergehen, die den Bereich des Zwischenmenschlichen zerstören. Hannah Arendt bezeichnet sie mit dem Kantischen Begriff des “radikal Bösen”. Es sind, wie sie sagt, “buchstäblich Un-taten, sie machen alles weitere Tun unmöglich”.  Da aber, wo Verzeihen gewährt werden kann, kann ein Lern- und Widerholungsprozess der Freiheit eingeleitet werden, der nicht nur die zwischenmenschliche private, sondern auch die politische Praxis verändern kann.

Von noch grösserer politischer Relevanz, gesteht Hannah Arendt ein, ist die andere dem Handeln innewohnende Fähigkeit, diejenige, die auf die “Unabsehbarkeit des Zukünftigen” ausgerichtet ist: die Fähigkeit zu versprechen. Während diese Fähigkeit im Privaten eine Zusicherung von Kontinuität bedeutet, ohne welche menschliche Beziehungen überhaupt nicht möglich wären, “von Beständigkeit und Treue ganz zu schweigen”, bedeutet sie im Politischen die Grundlage für die Unverletzlichkeit aller Verträge. So würden Versprechen im Bereich menschlicher Angelegenheiten gleichsam zu “genau abgegrenzten Inseln des Voraussehbaren” in der Dunkelheit des Zukünftigen, sagt Hannah Arendt, zu “Wegweisern in einem noch unbekannten und unbegangenen Gebiet”. Sie hält fest, dass “wenn wir unter Moral mehr verstehen dürfen als die Gesamtsumme der ‘mores (…) mitsamt der in ihnen enthaltenen Verhaltensmasstäbe, so kann Moral sich jedenfalls im Feld des Politischen auf nichts anderes berufen als auf die Fähigkeit zum Versprechen und sich auf nichts anderes stützen als auf den guten Willen, den Risiken und Gefahren, denen Menschen als handelnde Wesen unabdingbar ausgesetzt sind, mit der Bereitschaft zu begegnen, zu vergeben und sich vergeben zu lassen, zu versprechen und Versprechen zu halten”.

Die Relevanz dieser Grundregeln menschlichen Zusammenlebens sieht Hannah Arendt darin, dass sie nicht aus irgendwelchen höheren Maximen – etwa religiösen und damit individuelle zustimmungsbedürftigen – abgeleitet werden müssen, sondern dass sie sich aus der dem Handeln innewohnenden Freiheit selbst ergeben. Sie erst machen aus der “condition humaine” eine nicht abbrechende Praxis der Freiheit. Sie sind Bestätigung der fragilsten – politisch am meisten missbrauchten – menschlichen Eigenschaft: der Würde. Sie zeigen ihre Bedeutung vor allem dann, wenn die – demokratischen – Institutionen versagen, wenn das Gewissen auch über die Richtigkeit der Gesetze befinden muss und, falls es die Gesetze als unrecht beurteilt, “zivilen Ungehorsam” fordert, damit Versprechen gehalten werden können und damit menschliche Würde gewahrt bleibt. Ich denke hier etwa an die gegenwärtig verfügten Zwangsausschaffungen von Flüchtlingen und an das aus Gewissengründen – gegen das Gesetz – gewährte Kirchenasyl.

“Wie funktioniert das: Handlungen, die wie Hebel hin zu mehr Wirklichkeit sind?”  Die Antworten im Werk von Simone Weil, von Rosa Luxemburg und Hannah Arendt, Antworten im Sinn einer Philosophie der Dialogik, entstanden nicht als besserwisserische Theorie-Entwürfe, sondern aus dem Leiden an der zerfallenden und versagenden politischen Praxis, aus dem Leiden aus erfahrener Menschenverachtung und Gewalt. Sie haben, wie alle Philosophie, weder Rezeptbedeutung noch handlungsanweisende Kraft. Sie sind jedoch so einfach, dass sie, gleichsam als eine andere Option des Handelns, von Mund zu Mund einer unbefriedeten und friedenshungrigen Welt weitergegeben und von Mensch zu Mensch vorgelebt werden könnten, in der dialogischen Praxis des privaten und des politischen Alltags.

 

Verwendete Literatur:

Hannah ARENDT, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1967

Rosa LUXEMBURG, Politische Schriften. Die Krise der Sozialdemokratie (Junius-Broschüre). Hg. Ossip K. Flechtheim, Frankfurt a.M. 1987

Simone WEIL, Cahiers I, Paris 1970

Simone WEIL, L’Enracinement, Paris 1949

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